Donnerstag, 28. Februar 2019

"Transzendenz" und "Immanenz"

Eine grundlegendere philosophische Frage

Im Juli 2018 hat es auf einem Internetblog eine kürzere Erörterung gegeben über die Philosophie von Mathilde Ludendorff (1) (Chris/Lano Talos, Wf2018). An diese soll im folgenden angeknüpft werden. Denn in ihr ist eine wie wir finden recht grundlegende Frage aufgeworfen worden. Am 27. Juli 2018 hieß es dort in den Kommentaren (Chris/Lano Talos):

Mathilde Ludendorff ist interessant und ich würde gerne mal mehr von ihr lesen. Aber ich bin auch mit einigem nicht ganz einverstanden. Sie scheint jede Transzendenz generell abzulehnen. Ihre ‚Gotterkenntnis‘ scheint sich auf einen rein immanenten Gott zu beziehen, der in der Natur wohnt. Das überweltliche Element, was m.E. eine Religion erst ausmacht, scheint komplett zu fehlen.

Hier wird der philosophische Begriff "Transzendenz" mit "überweltlich" gleichgesetzt. Der Autor dieser Zeilen sieht sich veranlaßt, einmal den Begriff "Transzendenz" etwas näher für sich (und vielleicht auch andere) zu klären. Daß das Göttliche dieser Welt immanent ist - nach der Philosophie von Mathilde Ludendorff und anderen - dürfte zunächst richtig festgestellt sein. Etwas schwieriger ist es mit dem Begriff Transzendenz.

Abb.: 1: Immanuel Kant - Holzschnitt von Ernst von Dombrowski

Was steht denn zu dem Begriff „Transzendenz“ auf Wikipedia? Wir lesen zunächst im allgemeinen Teil folgendes (Wiki):

„Transzendenz (von lateinisch transcendentia „das Übersteigen“) bezeichnet in Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft ein Verhältnis von Gegenständen zu einem bestimmten Bereich möglicher Erfahrung oder den Inbegriff dieses Verhältnisses. Als transzendent gilt, was außerhalb oder jenseits eines Bereiches möglicher Erfahrung, insbesondere des Bereiches der normalen Sinneswahrnehmung liegt und nicht von ihm abhängig ist. Mit der in der Bezeichnung enthaltenen Vorstellung des ‚Übersteigens‘ ist vor allem eine Überschreitung der endlichen Erfahrungswelt auf deren göttlichen Grund hin gemeint, seltener eine Selbstüberschreitung des Göttlichen auf die Weltschöpfung hin. Der komplementäre Begriff des ‚Immanenten‘ bezeichnet das in den endlichen Dingen Vorhandene, sie nicht Überschreitende und daher ohne Rückgriff auf Transzendentes Erklärbare.“

Soweit noch eher allgemeine Ausführungen. Springen wir gleich weiter zu Immanuel Kant. Da wird vieles gleich schon viel schärfer, klarer, übersichtlicher. 

Zunächst sei aus demselben Wikipedia-Artikel über das Denken Kants zitiert (Wiki):

„… Was jenseits dieser Erkenntnisfähigkeit liegt, das Transzendente, kann nicht Gegenstand des Wissens, sondern nur des Glaubens sein.“

Es ist das genau jene Stelle, an der dann die Nachfolger Kants, die Philosophen des deutschen Idealismus ansetzten, also Fichte, Hölderlin, Schelling und Hegel. Sie wollten über das von Kant hier scharf bestimmte und vom Wissen abgegrenzte „Transzendente“, das nach Kant nur Gegenstand des Glaubens sein kann, ebenfalls eine möglichst „sichere“ Aussagen treffen. Jedenfalls bei Aussagen darüber auf philosophisch möglichst sicherer Grundlage stehen. Sie versuchen zu klären, ob und wie auch auf diesem Gebiet des Transzendenten zutreffende Aussagen möglich sind. Weil nur dann eine Metaphysik im Großen, ein umfassendes Erklärungssystem geschaffen werden kann. 

Wir befinden uns hier also im Bereich einer der zentralsten Fragen der Philosophie und Metaphysik überhaupt.

Nach Kant können über das Transzendente nicht ebenso Aussagen getroffen werden wie sie im Bereich der Naturwissenschaft möglich sind. Annäherungen an das Transzendente sind dem Menschen aber dennoch möglich.

Wir halten jedenfalls fest: Transzendenz im Sinne von Immanuel Kant als ein "Jenseits" zu den Erfahrungen der Sinnenwelt, steht im Mittelpunkt nicht nur der Philosophien des deutschen Idealismus, sondern auch der Philosophie von Mathilde Ludendorff. Lesen wir weiter auf Wikipedia (Wiki):

„Kant sagt hierzu: ‚Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.‘ Transzendent - und damit bloß regulative Ideen - sind für Kant z. B. die Vorstellungen von Gott, der Freiheit und dem ewigen Leben. Diese Vorstellungen sind nicht unsinnig, aber man kann sie nur annehmen, man kann nur ‚postulieren‘, daß es Gott, Freiheit oder eine unsterbliche Seele gibt. Die Kritik der reinen Vernunft hat den Zweck, daß ‚dem Materialismus, Fatalismus, Atheismus, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben, die allgemein schädlich werden können, zuletzt auch dem Idealismus und Scepticismus, die mehr den Schulen gefährlich sind und schwerlich ins Publicum übergehen können, selbst die Wurzel abgeschnitten werden.‘
Im "Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus" ist dann anstelle von "Postulaten" von "Ideen" die Rede, von umfassenden Gedankenkonzepten, die zunächst nur unterstellt werden, und von denen ausgehend man dann sehen will, wie weit man kommt bei einer umfassenden Welterklärung. Philosophie ist danach ein in sich widerspruchsfreies Gedankengebäude philosophischer, ins Metaphysische reichender Ideen, bzw. Postulate. Wikipedia weiter zu Kant (Wiki):
„Wenn man die Grenzen der Erkenntnis beschrieben hat, also weiß, was man wissenschaftlich erklären kann, bleiben für Kant die Fragen nach dem Transzendenten, nach dem, was im ‚Jenseits der Sinnenwelt‘ liegt, dem sich die menschliche Vernunft nicht entziehen kann. Deshalb stellt er im ‚Beschluß‘ am Ende der Kritik der praktischen Vernunft fest: ‚Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.‘
Auf die dann folgenden philosophischen Bemühungen von  Fichte, Schelling und Hegel hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard mit folgender Kritik reagiert nach Wikipedia (Wiki):
„Dadurch, daß Hegel die Immanenz alles Wirklichen im Bewußtsein behauptete, leugne er das Transzendente. Kierkegaard bezeichnet mit Transzendenz die von der Wissenschaftlichkeit radikal unterschiedene Ebene des Religiösen, die nur durch den Glauben zugänglich ist.“

Kierkegaard geht hier also wieder auf Kant zurück und benutzt den Begriff Transzendenz ähnlich wie Kant selbst.

Hier ist nun festzustellen: Diese Kritik von Kierkegaard an Hegel kann gegen die Philosophie von Mathilde Ludendorff nicht vorgebracht werden. Denn sie ist ja keine philosophisch idealistische Philosophie. Das heißt, sie anerkennt eine unabhängig vom Bewußtsein bestehende Außenwelt. Sie behauptet also nicht die Immanenz alles Wirklichen bloß allein im Bewußtsein (außerhalb dessen es gar nichts gäbe). Sie anerkennt eine vom Bewußtsein unabhängige Außenwelt (Hypothetischer Realismus), an die sich das Bewußtsein im Verlauf der Evolution angepaßt hat, und die sie deshalb auch erkennen kann (Evolutionäre Erkenntnistheorie - von Seiten des letzten Inhabers des Lehrstuhles von Immanuel Kant in Königsberg, nämlich - von Konrad Lorenz).

Die Aussagen der Philosophie von Mathilde Ludendorff über „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ (bzw. über „das Wahre, Gute und Schöne“) sind – im Sinne von Immanuel Kant und Kierkegaard – also transzendent, beziehen sich auf eine Transzendenz, die – sozusagen – hinter der Erscheinungswelt als bestehend postuliert wird. Diese Transzendenz ist der Welt und dem menschlichen Bewußtsein zugleich aber auch immanent.

Ich denke, auf dieser Linie ist die Verwendung des Begriffes "Transzendenz" so ungefähr einzugrenzen und zuzuordnen.

Das Thema an sich ist übrigens andernorts ausführlich behandelt entlang des modernen philosophischen und naturwissenschaftlichen Forschungsstandes (2). 

Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer über den Begriff Transzendenz

Ergänzung 1.3.2019: Auf Youtube gibt es allerhand Videos, die man unter dem Begriff "Transzendenz" findet. Beispielsweise referiert der von uns schon oft mit kritischem Interesse zur Kenntnis genommene Konstanzer Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer den Begriff Transzendenz in dem Sinne, in dem ihn Karl Jaspers in Zusammenhang mit seiner religionsgeschichtlichen Deutung der "Achsenzeit" verwendet hat (4). Es wird sehr schnell deutlich, daß hier ein Transzendenz-Begriff benutzt wird, der nicht sehr unmittelbar am Philosophieren von Immanuel Kant orientiert ist. Ich finde, es macht wenig Sinn, den Begriff Transzendenz ohne Bezug zum Philosophieren von Kant zu benutzen. Der Begriff wird dann sehr schwammig wie auch an diesem Video erkennbar ist. Mich wundert ein bisschen, daß Ernst Peter Fischer hier das Philosophieren von Kant nicht so wichtig zu sein scheint (ebenso scheint es offenbar auch Karl Jaspers nicht so wichtig gewesen zu sein für seine geistesgeschichtlichen Deutungen und Einordnungen -?).

Videos, die den Begriff Transzendenz mit Bezug auf Immanuel Kant behandeln, finden sich auf den ersten Blick weitaus schwieriger. Immerhin finde ich bei diesem Anlaß - erstmals - eine womöglich brauchbare Hinführung zum Philosophieren von Kant (5).

Mir scheint in dem Zusammenhang auch die geistesgeschichtliche Deutung des Jan Assmann zwischen der "aristotelischen" und der "mosaischen Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch", von denen Assmann sagt, daß sie eben beide in dieser Zeit entstanden, viel fruchtbringender zu sein als zu sagen, ausgerechnet mit Priestern und Propheten sei die "Transzendenz" in das menschliche Denken hinein gekommen. Und dieses sei dann - wie Fischer ausführt (4) - ausgerechnet auch noch in einem "Heaven" zu verorten (!), der dann auch noch von einem "Sky" zu unterscheiden sei. Ohweia. Das macht doch alles wenig Sinn. Vor dem Höhenflug der modernen Naturwissenschaft kann jede religiöse Vorstellung sowohl verstanden worden sein - im modernen Sinne - als Ausdruck von Naturkräften wie auch als übernatürliche Kräfte. Die klare Unterscheidung zwischen beiden - natürlich und übernatürlich - ist - schon vor Kant - durch den Höhenflug der modernen Naturwissenschaft möglich geworden, also seit dem 18. Jahrhundert. Es ist sehr auffallend, daß nur wenig später dann eben auch die Philosophie von Immanuel Kant entstanden ist, möglich geworden war, mit Hilfe derer diese Unterscheidung dann eben auch auf ein festes philosophisches Fundament hat gestellt werden können.

Das Erkennen der "Achsenzeit" als eine wesentliche geistesgeschichtliche Eproche ist im übrigen nicht im Wesentlichen eine Leistung von Karl Japers, sondern ist schon - spätestens - bei Friedrich Hölderlin in seinen großen Dichtungen zu finden. In diesen fliegt der Adler des Weisheit, der Götterbote des Zeus - wie bei Jaspers - vom Osten, von China und Indien her kommend über Persien und Griechenland schließlich - nach Deutschland. Und er weckt die in den Wäldern schlafende "Germania". Dieser Adler ist das Sinnbild für grundlegendes Philosophieren an sich, wobei eben nicht gesagt ist, daß die Philosophen der Antike auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie schon jenen klaren Überblick gewonnen hatten, der erst durch den Höhenflug der modernen Naturwissenschaft gewinnbar geworden ist. Vielmehr war und ist das - offenbar - der schlafenden "Germania", dem deutschen Geist, vorbehalten gewesen, nachdem dieser in den tiefen Schacht der Wissenschaft hinterunter gestiegen ist, um in den Bildern Hölderlins zu bleiben.

Ernst Peter Fischer hingegen redet sein ganzes Video hinweg dann nur noch über Religion, über den Papst und das Christentum. Das ist doch etwas ärmlich und paßt schon lange nicht mehr recht in unsere Zeit, möchte man doch meinen. Ziemlich retro.

/ Stärker überarbeitet: 
30.11.23 /

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*) In einem Kommentar vom 6. März 2019 ist diese Sichtweise noch einmal folgendermaßen erläutert worden (Chris/Lano Talos): 

Es gibt da eben diese zwei Einstellungen, die man gegenüber diesem Leben auf der Erde haben kann, und die völlig unvereinbar miteinander sind. Wir können uns nur damit abfinden, daß sie beide nebeneinander existieren. Die diesseitsorientierte Vorstellung ist, daß alles, was für uns wichtig und von Interesse ist, in diesem irdischen Leben zwischen Geburt und Tod stattfindet. Die andere ist, daß dieses Leben nur ein winziger Ausschnitt von etwas viel Größerem ist, und es deshalb gar nicht so wichtig zu nehmen ist. Der Bezug, den man damit zum eigenen Leben, aber auch zum Leben anderer hat, ist dann ein komplett anderer. Welcher “Seite” jemand angehört, hat m.E. auch gar nichts damit zu tun, wie gebildet jemand ist, oder welcher Religion man angehört.

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  1. Chris/Lano Talos: Der Esausegen. 24. Juli 2018, mit 31 Kommentaren, https://willensfreiheitsblog.wordpress.com/2018/07/24/der-esausegen/    
  2. Leupold, Hermin (d.i. Gerold Adam): Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Aufsätze zur geschichtlichen Entwicklung der Erkenntnistheorie, zur Evolution des Weltalls und des Bewußtseins Die Deutsche Volkshochschule e.V., 2001
  3. Bading, Ingo: Immanenz und Transzendenz. Videovortrag, 28.2.2019, https://youtu.be/mhJ8XaSwJ7E
  4. Fischer, Ernst Peter: Achsenzeit und Transzendenz. uni auditorium - wissen online, 24.3.2015, https://youtu.be/j9IiSGNkQms.
  5. ExActa: [Wissenschaftstheorie] | Dualismus 1 - Die Erkenntnistheorie Kants. 24.3.2016, https://youtu.be/_bkKaUJfZsg.

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