Wissenschaft für Anfänger
- Die Wissenschaft und ihr Platz in der heutigen Welterfahrung
Wer sich für Philosophie interessiert und innerhalb derselben insbesondere naturwissenschaftsnahe philosophische Ansätze verstehen oder gar nachvollziehen will, sich für sie einsetzen will, muß sich zunächst klar machen, daß es sich bei moderner Philosophie immer nur um eine solche auf wissenschaftlicher Grundlage handeln kann.*)
Aber was heißt "wissenschaftliche Grundlage"?
Wissenschaft ist ein Gemeinschaftsunternehmen vieler Völker, vieler Generationen, ja, ganzer Jahrtausende. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß erstreckt sich über Jahrhunderte, nein, Jahrtausende. Wissenschaft im engeren, konkreteren Sinne begann in der griechischen Antike. Natürlich können zahllose "Vorläufer" benannt werden (Himmelsscheibe von Nebra, Stonehenge, Astronomie, Zahlen- und Schriftsysteme, Heilkunde der Bronzezeit etc., etc. pp.). Insbesondere ist Wissenschaft aber an Schriftkultur gebunden und an die Weitergabe von Wissen über Schriftdokumente.**)
Ein Gelehrter in seinem Studierzimmer. Ein Gemälde von Justus Juncker, 1754. Heute im Städelmuseum in Frankfurt am Main. |
Deshalb bedeutete es einen ungeheuren Einschnitt in der Wissenschaftsgeschichte, als mit Einbruch des Frühmittelalters der größte Teil der bis dahin angesammelten Schriftdokumente der Antike verloren ging. Nur bruchstückhaft sind einzelne Bestandteile der wissenschaftlichen (und natürlich auch Dicht-)Werke der Antike über das Mittelalter hinweg auf uns überkommen. Es beruhte das zum Teil auf andächtiger Pflege dieser Schriftüberlieferung durch einzelne wenige Gelehrte und Schriftkundige, zum Teil im arabischen Raum, zum Teil in Byzanz, zum Teil in diversen europäischen Klöstern und anderwärts.
"Wissenschaftliche Grundlage" heißt weiterhin, daß Wissenschaft immer im Kampf gegen die Unvernunft, gegen den "Glauben", gegen "gefühlte Wahrheiten", gegen Dogmen, gegen Maulkörbe und Denkverbote langsam, Schritt für Schritt an Boden gewinnen konnte. Nur langsam und über lange Jahrhunderte hinweg gewannen Menschen und Völker zunehmend mehr Vertrauen zur wissenschaftlichen Erkenntniswelt. Kam den Menschen anfangs der Blitzableiter als ein abergläubischer Spuk vor, vertrauen sie heute ganz selbstverständlich auf seine Wirksamkeit.
Der Mensch und menschliche Kultur, auch die menschliche Seele wurzeln in "Unwissenschaftlichkeit". Seien wir uns dessen klar. Was ist damit gesagt? In der Wissenschaft ist am Anfang selten klar, was eigentlich das Ergebnis der Forschung sein wird. In der Wissenschaft tritt immer wieder "Unerwartetes" ein. Man stößt auf Dinge, die völlig unerwartet sind. Warum eigentlich sind sie unerwartet? Weil wir alle in uns bestimmte Vorannahmen über die Wirklichkeit tragen. Von Kindheit an versucht unsere Vernunft, die uns umgebende Welt zu verstehen. Und das kindliche Gemüt nimmt zunächst alles für "bare Münze". Der Weihnachtsmann ist der Weihnachtsmann, der Osterhase der Osterhase. So hat der vorwissenschaftliche Mensch durchgehend gedacht. Man muß, um sich davon zu überzeugen, nur in die "Ilias" des Homer schauen. Oder in die germanischen Heldensagen. Eine Wunder- und Märchenwelt.
Hier hat sich überall die Vernunft und die Seele der Menschen eine Welt so "gebastelt" wie sie ihnen auf den ersten Augenschein hin am schlüssigsten erschien und wie sie sie sich - über ihre noch bestehenden Lücken der Erkenntnis hinweg - märchenhaft "ergänzten". Die Wissenschaft und Philosophie traten demgegenüber zweitausend Jahre lang immer nur wieder als Kräfte der "Entzauberung" auf. Der Blitz wird nicht von Göttern gesendet, sondern kann durch eine simple Metallstange folgenlos in die Erde gelenkt werden. Die ungeheure, gewaltige Kraft des Blitzes ist dieselbe und bietet Anlaß für Erstaunen wie schon immer. Aber diese Kraft ist dem Menschen "beherrschbar" geworden. Und manche Menschen können ja nur das "bestaunen", was ihnen unbeherrschbar erscheint. Aber weiter: Der Teufel, an den Martin Luther noch als einen "Leibhaftigen" geglaubt hat, und nach dem er auf der Wartburg sein Tintenfaß warf, weil er glaubte, dieser wolle ihn verführen, dieser Teufel ist eine Phantasiegestalt, entstammt der Märchenwelt der Menschheitsgeschichte.
Und so können unglaublich viele Dinge unserer alltäglichen Welt durchgegangen werden, deren "Märchenhaftigkeit" wir schon seit vielen Jahrhunderten eingesehen haben, und über die sich der allergrößte Teil der Menschheit heute nicht mehr großartig "aufregt". Es halten sich allerdings zähe Überreste von Aberglaube und Unwissenschaftlichkeit auch in der heutigen, modernen Welt. Soweit ich das erkennen kann, liegt ein Hauptgrund für dieses zähe Weiterbestehen von Aberglaube in der modernen Welt in dem Umstand begründet, daß Wissenschaft gerade in den letzten hundert Jahren komplexer und immer komplexer geworden ist. Es ist hier in der modernen Wissenschaft eine "befremdliche", "abstrakte" Welt entstanden. Allerdings sind sogar für diesen Umstand schon wieder - von Seiten der Wissenschaft - Erklärungen möglich geworden.
Menschliche Erkenntnis stößt an Grenzen
Die wissenschaftliche Erkenntniswelt ist in Teilen abstrakter geworden, weil sie an die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens gelangt ist. Und auch, weil sie an die beiden Grenzen gestoßen ist jener Kategorien, in die unsere Welt eingeordnet ist, nämlich an die Grenzen von Raum und Zeit. Was für ein ungeheures Geschehen. Wir sind bis zum Allergrößten und bis zum Allerkleinsten vorgestoßen und haben beide male erkannt: Hier geht es nicht weiter. Wir sind bis zum zeitlich Allerlängsten und Allerkürzesten vorgestoßen und haben erkannt: Noch weiter kommen wir nicht. Aber wir erkennen auch: Dort, an den Grenzen unseres Erkenntnisvermögens wird es auffallend komplex und auch - für unseren Alltagsverstand - auffallend "absurd".
Beispiel: Alles gegenwärtige Sein, alle Materie soll aus dem Nichts entstanden sein. Geht es - für den Alltagsverstand - absurder? Aber andererseits: Haben Philosophen nicht immer schon über das Wechselverhältnis von Sein und Nichts nachgedacht? Welche Steilvorlagen bietet hier die moderne Naturerkenntnis für uraltes philosophisches Denken.
Die Physiker haben erkannt, daß sie dort, an den Grenzen, mit der Mathematik noch ein Stück weiter kommen als sie es auch selbst mit ihrem eigenen Alltagsverstand noch können. Und sie sagen deshalb, daß die Schönheit der modernen Physik nur der wirklich nachvollziehen kann, der die Schönheit der ihr zugrundeliegenden Mathematik nachvollziehen kann. Da wir Alltagsmenschen das nicht können, bleibt uns hier ein Zugang zur Schönheit der Welt versperrt. Unglaublich, daß so etwas im Weltall vorgesehen ist. Daß nur wenige Superkluge eine Schönheit sehen können, "dürfen", die viele andere nicht sehen können. Immerhin, ein Trost: Viele Physiker haben sich schon Jahrzehnte lang bemüht, die Schönheit der Dinge, auf die sie bei ihren Forschungen gestoßen sind, auch denen zugänglich zu machen, die nicht so mathematisch begabt sind wie sie selbst. Aber daß moderne Physik ein wesentlicher Bestandteil unseres Kulturlebens ist oder sein könnte, davon werden nur die wenigsten heutigen Menschen ein Bewußtsein haben.
Allerdings ist ein Bewußtsein davon ein Bestandteil dessen, wenn gesagt wird: Philosophie auf wissenschaftlicher Grundlage. Auch die Philosophie hat ihren gut strukturierten Platz in der Gesamtheit aller Wissenschaften. Sie steht in Bezug zu allen übrigen Wissenschaften, sie steht weder über ihnen, noch unter ihnen, sondern sie kommuniziert auf Augenhöhe mit ihnen. Und sie ist unentbehrlich - auch zur Einordnung der wissenschaftlichen Erkenntniswelt in die Gesamtheit der menschlichen Erfahrung.
Die Wissenschaft ist ein einheitlicher, in sich widerspruchsfreier Bau. Hegel benannte das mit seinem berühmten Satz: "Die Wahrheit ist das Ganze." Wenn Teilbereiche des menschlichen Wissens in logischem oder empirischem Widerspruch stehen zu einem anderen Teilbereich des menschlichen Wissens, ist das ein Hinweis darauf, daß in einem dieser beiden Teilbereiche noch nicht alles vollständig widerspruchsfrei geklärt ist, daß hier noch Dinge vorliegen, die von der Wissenschaft zu klären sind. Die Wissenschaft steht also quasi - soweit sie die Dinge in den letzten Jahrhunderten tatsächlich schon geklärt hat - monolithisch anderen menschlichen Erfahrungsbereichen gegenüber. Sie spricht diesen anderen menschlichen Erfahrungsbereichen gegenüber "mit einer Stimme". Warum spricht sie mit "einer Stimme"? Weil das, was sie erforscht mit "einer Stimme" spricht, nämlich die Natur.
Die Naturwissenschaft ist immer und immer nur wieder auf die durchgehende Gültigkeit der von ihr erforschten Naturgesetze im gesamten Weltall, im Größten wie im Kleinsten gestoßen. Eine Durchbrechung von gut erforschten Naturgesetzen hat sie niemals feststellen können. Das ist der Grund, weshalb die Naturwissenschaftler in Südamerika mit derselben Stimme sprechen wie die Naturwissenschaftler in Sibirien oder Australien. Die Wissenschaft ist EINES, ist eine Einheit. Man kann sich aus diesem großen Bau der Wissenschaft nicht einen Teil heraus brechen und sagen: Der Rest stimmt schon - aber dieser Teil, da haben sich die Wissenschaftler aber gewaltig geirrt.
Eine Sache um ihrer selbst willen tun
Diese große Macht der Naturwissenschaft wirkt auf all jene, die in ihrem Alltag seltener mit ihr in Berührung kommen, befremdlich. Sie fühlen sich von diesem allmächtigen Erklärungsprinzip eingeschränkt. Sie wollen - womöglich - "auch noch mitreden". In ihrem Bildungsgang hat man sie womöglich selten mitreden lassen, selten nachvollziehen lassen, was da - in der Wissenschaft - eigentlich alles so an umwälzenden Dingen geschieht. Deshalb fühlen sie sich nach und nach "entmachtet". Wie sollen sie noch mitreden können, wenn nur noch Wissenschaftler das Sagen haben? Wenn Wissenschaftler das letzte Wort haben? Wenn Wissenschaftler die Welt "beherrschen"?
Diese monolithische Erklärungskraft moderner Wissenschaft ruft also - weil sie so unerbittlich und monolithisch auftritt - Widerspruch hervor, Widerstreben hervor. Dieses Widerstreben wird aber auch noch durch einen anderen Umstand hervor gerufen: Die große Begeisterung, die Wissenschaftler beflügelt, die unglaubliche emotionale Anteilnahme, die sie bei ihrem Erkenntnisstreben "gepackt" hat, die innere Erfülltheit, die sie bei ihrem Erkenntnisstreben beseelt, all solche sehr menschlichen Dinge, die auch Bezug haben könnten zu wertvollen sonstigen menschlichen Erfahrungen, diese "innere Erfahrungswelt" der Wissenschaft wird nur noch selten an die Öffentlichkeit weiter gegeben.
Wissenschaft wird stattdessen wahrgenommen als würde sie nur um Anwendungen willen betrieben, als ginge es nur um irgendeinen "Nutzen". Der tiefere Antrieb der Wissenschaft ist aber jener Antrieb, der alle wertvolleren menschlichen Handlungen, der alle menschliche Kultur antreibt: eine Sache um ihrer selbst willen tun. Nicht um ihrer Folgen willen. Wissenschaft um der Wissenschaft willen, um der Erkenntnis willen, nicht um daraus irgendeinen persönlichen oder gar wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen.
Wer diese so außerordentlich wertvolle und dem sonstigen Kulturleben so außerordentlich nahestehende Seite der Wissenschaft nicht berücksichtigt, wird ihr niemals gerecht werden können. Niemals. Diese Seite der Wissenschaft steht dem Kulturleben nicht nur nahe, nein, sie ist Kernbestandteil von menschlicher Kultur. Wer Wissenschaftler ständig und fortlaufend eigensüchtige Motive unterstellt - was für ein Bild von Wissenschaft würde dann gezeichnet? Ist das nicht eine Herabwürdigung aller großen Wissenschaftler, die jemals gelebt haben - von Aristoteles und Platon an? Sie alle sollen nur eigensüchtige Motive verfolgt haben? Wie flach wäre das Bild, das hier gezeichnet werden würde. - Soweit erste Überlegungen zum Thema.
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*) Die Philosophie ist umgekehrt ja schließlich auch nichts anderes als selbst ein Teil der Wissenschaft.
**) Inzwischen ist erahnbar geworden, daß die Gott- und Weltauffassung des Homer um 700 v. Ztr. und der heidnischen Germanen aus der Zeit zwischen 0 und 1200 n. Ztr. eine gemeinsame bronzezeitliche Wurzel hat, der die schriftliche Überlieferung des Homer deutlich näher zu stehen scheint als die mündliche Überlieferung der heidnischen Germanen über viele Jahrhunderte nach 700 v. Ztr. hinweg.
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