Freitag, 27. März 2020

"Unser Universum ist auf Erkennbarkeit hin angelegt"

... Und wir selbst sind intelligente Erkenner.
- Wollte das Weltall uns?

In Diskussionen zwischen Physikern und Philosophen sind neuerdings die Stühle vertauscht
Ob darin Vorwehen eines künftigen Wandels im Zeitgeist erspürbar sind?

Die ersten 30 Minuten des im folgenden behandelten Videos enthalten - in sehr dichter Form - die Grundzüge des modernsten weltanschaulichen Entwurfs, der in den letzten Jahren und Jahrzehnten bekannt geworden sein mag. Diese ersten 30 Minuten sind am 17. Mai 2020 auf einem Treffen des Freundeskreises dieses Internetblogs und des angeschlossenen Videokanals auch noch einmal mündlich vorgestellt und erläutert worden.
Frage: 
Warum braucht das Universum einen intelligenten Erkenner?
Antwort:
Wenn es erkennbar ist, ist es auf Erkennbarkeit angelegt. Dann ist es ohne Erkennenden unvollständig.
Was sind denn das für Sätze!?!




Und wie locker und selbstverständlich plätschern sie hier in eine Diskussion? - (1) (siehe Video) - Was ist denn hier überhaupt los? Ist die ganze Welt verrückt geworden?

Diese Sätze sind entnommen einer philosophischen Diskussion, die im Dezember 2018 in Stuttgart geführt worden ist (1). Die zitierte Antwort wurde von dem Philosophie-Professor Jens Halfwassen (Heidelberg) ausgesprochen (1). Und den beiden anwesenden Theoretischen Physikern scheint eine solche Antwort noch einigermaßen neu zu sein. Zunächst kurz eine Anmerkung zum Verständnis schon der Eingangsworte in dieser Diskussion: "teleologische Struktur des Universums" heißt: die Entstehung und Entwicklung des Universums könnte von einem Ziel (Griechisch "teléōs" = "Zweck", "Ziel", "Ende") her bestimmt sein. Sprich, sie wäre nicht rein zufälliger - und damit - bedeutungsloser Art (wie sehr oft bislang in der Physik angenommen). Und das Ziel könnte dann eben - neben der Erkennbarkeit - auch das Erschaffen eines "intelligenten Erkenners" sein.

Die Reaktionen der Physiker in dieser Diskussion auf die vorgebrachten Gedanken zeigen, daß auch sie allmählich ein Gefühl dafür bekommen, daß sie sich mit solchen philosophischen Deutungen auseinandersetzen müssen. Nicht weil diese eine zeitgeistige Modeerscheinung wären (davon sind wir ja ziemlich weit entfernt). Aber weil der innerwissenschaftliche Diskussionsstand innerhalb der Astrophysik solchen Argumentationsstrukturen gegenüber immer weniger Ausweichmöglichkeiten zuläßt.

In dieser Diskussion spiegelt sich ein neuer Bewußtseinsstand wieder, ein neuer Diskussionsstand zwischen moderner Physik einerseits und moderner Philosophie andererseits. Die Philosophie wird sich der Stärke ihrer eigenen Argumentationsmuster bewußt, und zwar gerade in Auseinandersetzung mit dem aktuellen Kenntnisstand der Astrophysik. Die Philosophie gibt nicht mehr "klein bei" oder weicht Diskussionen mit dem naturwissenschaftlichen Kenntnisstand aus. Nein: Sie übernimmt inzwischen sogar die Führungsrolle in der Diskussion. Und war es nicht genau diese Situation, mit der einstmals die große neuzeitliche Philosophie bei Immanuel Kant angefangen hat? Daß die Philosophie der Naturwissenschaft vorgegeben hat, gezeigt hat, wo sie, die Naturwissenschaft steht? Und wird es nicht hoch an der Zeit, daß das endlich einmal wieder geschieht? Genau das ist es, was in dieser Diskussion, die in Stuttgart im Dezember 2018 geführt worden ist, deutlich wird. Sie wurde im April 2019 auf Youtube zugänglich gemacht (1). Der beteiligte Theoretische Astrophysiker Matthias Bartmann von der Universität Heidelberg (zweiter von links) versucht dann, aus Sicht der Naturwissenschaft eine Antwort auf die erörterte Frage,
warum das Universum seine eigene Erkenntnis gleich mitproduziert.
Aber was für Sätze im Grunde. Was für Sätze (Minute 10:14).

***

Wer die ersten 30 Minuten dieses Videos das erste mal angesehen hat und versucht hat, geistig zu folgen, braucht gewiß danach noch allerhand Zeit, gerne auch Tage und Wochen zur geistigen "Verdauung" und Einordnung. Im folgenden soll der Versuch zu einer solchen ersten geistesgeschichtlichen Einordnung gegeben werden. Auch dieser Versuch ist verfaßt worden allerhand Tage, nachdem diese 30 Minuten das erste mal angesehen worden waren: Die Geistes- und Religionsgeschichte der letzten 250 Jahre läßt sich - beim derzeitigen Stand - ungefähr folgendermaßen zusammen fassen: Die Christen glauben an den Gott, den sie sich vorstellen so, als wäre so sicher über ihn zu reden wie über eine naturwissenschaftliche Tatsache. Im Jahr 1781 veröffentlichte Immanuel Kant in Königsberg sein berühmtes Buch "Kritik der reinen Vernunft". In diesem legte er - für alle Philosophen-Generationen nach ihm und bis heute - überzeugend dar, daß über Fragen wie jene nach "Gott, Freiheit und Unsterblichkeit", also über metaphysische Fragen nicht in der gleichen Weise gesprochen werden kann und darf wie über naturwissenschaftliche Tatsachen. Kant wollte damit keineswegs sagen, daß der Glaube an Gott, an die Willensfreiheit des Menschen und an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele "absurd" wären oder daß darüber keine Aussagen gemacht werden könnten. Kant war kein Atheist.

Aber es war ihm wichtig zu sagen, daß hier genau geprüft werden müsse, wie die Gültigkeit metaphysischer Aussagen beschaffen sei, und daß über sie eben - auf jeden Fall - nicht gesprochen werden könne wie über naturwissenschaftliche Tatsachen, also daß die bis dahin unter Christen übliche Art, über Gott zu sprechen, keine angemessene Art sei, sich diesen Fragen - den womöglich wesentlichsten Fragen des Menschseins - zu nähern. Der Kulturhistoriker Jan Assmann hat diese christliche Art, über Gott zu sprechen, übrigens die "mosaische Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch" genannt. Und er hat heraus gearbeitet, daß es genau diese ist, die jenen "monotheistischen Eifer" bewirkt, der allseits in der Welt sichtbar ist. Diese Unterscheidung und dieser Eifer sind nun - der Sache nach - von Immanuel Kant als ungültig erwiesen worden. Ungültig ist also das schlichte Postulat, die schlichte Behauptung, daß über Gott und seine Existenz ebenso geredet werden könne wie zum Beispiel über den Stuhl, auf dem wir gerade sitzen und seine Existenz.

Seit Immanuel Kant dies gesagt hat, sind die Völker auf der Nordhalbkugel nach und nach immer nachlässiger geworden in ihren "Eifer", in ihrem Glauben an die Existenz von etwas Göttlichem. Es ist ja auch viel "entspannter" und viel bequemer, von der Nichtexistenz von etwas Göttlichem ausgehen. Außer in einem sehr beschränkten Bereich des menschlichen Daseins, der mit der Moral des "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu" hinreichend zu klären ist, gibt es dann keinen Anlaß mehr, daß Menschen weitergehende Ansprüche an ihre Mitmenschen haben bräuchten. Hey, "easy going", "let it be", "take it easy" und wie all die Slogans der hedonistischen, aber in letzter Instanz atheistischen und materialistischen Gesellschaft lauten, der Gesellschaft, die keinen ethischen Eifer, keinen unbedingten Glauben an Göttliches mehr kennt. Angekommen im "Delta der Beliebigkeit", in der "Ebene" wie das Peter Sloterdijk nennt, weit weg von allen "Vertikalspannungen" im Bereich des Menschlichen.

Nach Immanuel Kant hat es zwar viele philosophische Versuche gegeben, über die nicht vollständig naturwissenschaftlich erfaßbare Seite der Wirklichkeit und der darin eingebetteten menschlichen Seele gültige Aussagen zu machen. Hölderlin, Hegel, Schelling haben große philosophische Systeme entworfen, Schopenhauer hat auf die Willenskräfte in allem Sein abgehoben ("Die Welt als Wille und Vorstellung"). Marx hat den Materialismus populär gemacht, der als Ausgangspunkt das Postulat wählt, Antworten auf Fragen zu suchen rund um die Kant'schen Themen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit würde letztlich bloß in den banalen Bereich "Opium für das Volk" fallen. Eine nicht vollständig naturwissenschaftlich faßbare Seite der Wirklichkeit wäre doch gar nicht existent. Und von da aus war es dann nur konsequent, wenn ein weiterer deutscher Philosoph sagte: "Gott ist tot - und wir haben ihn getötet." (Nietzsche) Materialismus, Atheismus und Existenzialismus wurden - diesseits und jenseits des Atlantiks - zu den vorherrschenden Weltanschauungen und Lebensphilosophien des 20. Jahrhunderts, auch wenn nach außen hin noch die Fassade eines christlichen Welt- und Menschenbildes sollte aufrecht erhalten werden. Und so ist der Stand heute, im Jahr 2020 immer noch.
 
Parallel dazu aber hat sich nun der naturwissenschaftliche Kenntnisstand über die uns umgebende Wirklichkeit und auch im Bereich der Hirnforschung (also über die uns innewohnende Wirklichkeit) immens erweitert. Außerordentlich immens. Seit Ende der 1920er Jahre weiß die moderne Physik, daß unser Universum einen Anfang in der Zeit hat. Und in den 1970er Jahren hat sich die moderne Astrophysik immer intensiver mit den Anfangsbedingungen des Universums beschäftigt und hat im Zuge dieser Beschäftigung das sogenannte "Anthrophische Prinzip" aufgestellt, das eine Auseinandersetzung mit der Feststellung enthält, daß die Anfangsbedingungen des Universums, die vier Grundkräfte des Universums in ihren Werten zueinander außerordentlich "speziell" sind, daß diese Werte um viele Stellen hinter dem Komma nicht verändert werden können, ohne daß das Universum, das dabei herauskäme, unfähig wäre, sich überhaupt zu bilden oder in sich Strukturen auszubilden, insbesondere dann vor allem Kohlenstoff-Atome, die hinwiederum die Voraussetzung bilden für die Entwicklung von komplexeren Strukturen im Universum wie Biomolekülen, Leben, Nervenzellen, Bewußtsein und menschlichen Wissensgesellschaften.

Um diesen philosophisch außerordentlich herausfordernden Befund zu umgehen, hat die Mehrheit der Astrophysiker in den letzten Jahrzehnten an Multiversen-Modellen gearbeitet. Nicht zuletzt die deutsche Astrophysikerin Sabine Hossenfelder war dann eine der ersten, die zu all diesen Multiversen-Modellen sagte: "Der Kaiser ist nackt." All diese physikalischen Theorien haben gar keine Fundierung in irgendeiner empirischen Evidenz. Und als dann auch noch die Reputation eines der lautstärksten Propangandisten dieser Multiversen-Theorien - Lawrence Krauss - in den Sturmfluten der Mee too-Debatte versank, war es vollends um diese vergleichsweise kurzlebige geistesgeschichtliche Entwicklung geschehen.

Und das ist - grob umrissen - der geistesgeschichtliche Ort, an dem wir heute stehen. Wir sind zurück geworfen auf die Erkenntnis, daß unser Universum außerordentlich speziell ist, daß es auch nicht besonders einfach bloß als ein "Zufallsereignis" erklärt werden kann (im Rahmen von Multiversen-Theorien), und daß wir uns damit zurecht finden müssen, daß dieses Universum auf - - - "Erkennbarkeit" hin angelegt ist. Und genau an diesem Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und auch Bewußtseins-Entwicklung, genau in diesem Bereich des philosophischen Nachdenkens setzt die eingangs erwähnte Diskussion - in einem Tagungshaus in Stuttgart im Dezember 2018 - ein.

***

Sehr schnell wird erkennbar: Die Grundfragen der Stellung von uns Menschen in diesem Universum werden hier (in der Diskussion im Dezember 2018) auf einem Niveau und in einer Tiefe erörtert, wie man sie so schon sehr lange nicht mehr hat erleben dürfen.

Als der Autor dieser Zeilen vor 30 Jahren - um 1990 herum - an die Freie Universität Berlin kam, lagen solche Gedanken durchaus schon in der Luft. Er saß auch in entsprechenden Seminaren drin, in denen sich Philosophen mit dem aktuellen Forschungsstand in der modernen Physik auseinander gesetzt haben, etwa in den Seminaren von Philosophie-Professor Rainer E. Zimmermann. Aber das war damals keinesfalls der "große" Mainstream innerhalb der Philosophie, keinesfalls. Noch vor zehn Jahren war er das nicht. Erst neulich hat der Autor dieser Zeilen gesucht, wo Harald Lesch etwas zum Anthropopischen Prinzip gesagt haben könnte. Das hat der Harald Lesch in der Tat schon vor zehn Jahren getan, nämlich in der Sendung "Alpha Centauri". Und sachlich auch sehr richtig. Aber man muß vermuten, daß die wenigsten Zuschauer damals sich der philosophischen Fundamentalität der von Lesch erörterten Fragen durch dessen Ausführungen bewußt geworden sind.

Hier nun, in dieser Stuttgarter Diskussison im Dezember 2018 ist diese Fundamentalität sofort da, sie ist sofort spürbar. Hat man denn schon jemals Physiker, also - - - Physiker, Theoretische Physiker so in die Ecke gedrängt gesehen von Philosophen - wie hier?!? Sonst war es doch immer genau umgekehrt. Sonst hatten doch die Physiker immer nur ein nachsichtiges Lächeln für Philosophen übrig.

Aber im Grunde genommen ist diese Situation von weitsichtigen Physikern und philosophisch Denkenden schon vor 30 Jahren genau so voraus gesagt worden, zumindest vereinzelt vorausgesagt worden. Daß eine solche Entwicklung kommen wird, so ahnt man jetzt auch selbst, ist ab einem bestimmten Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der menschlichen Geistesgeschichte wohl mehr oder weniger "inhärent". Und zwar weil eben die moderne Physik voller philosophischer Implikationen ist. Und das war den Weitsichtigeren schon vor mehreren Jahrzehnten erkennbar. Jetzt scheint jedoch der Zeitpunkt gekommen, wo dieses Bewußtsein das Potential dazu hat, "Mainstream" zu werden, wo Philosophen und Physiker vollkommen auf Augenhöhe miteinander über alles zu reden beginnen. Und kein Atheist wie Jürgen Habermas weit und breit, der ihnen diese so wertvollen Diskussionen zerreden würde. Das würde einen völligen Umschwung im Zeitgeist bedeuten. Und zwar von den Fundamenten unseres Denkens her, nicht aufgrund irgendwelcher ideologischer Modeströmungen, wie sie innerhalb des 20. Jahrhunderts so herein und hinaus geschwemmt werden innerhalb der geistig orientierungslos gewordenen materialistischen und atheistischen Gesellschaften der Nordhalbkugel.

Noch ein Hinweis: Im Mittelpunkt dieser ganzen Erörterung in Stuttgart im Dezember 2018 steht das sogenannte Anthropische Prinzip der modernen Astrophysik und eine mögliche philosophische Deutung desselben, nämlich jene Deutung, die sagt: Dieses Anthropische Prinzip legt nahe, daß bewußtes Leben in diesem Weltall schon bei seinem Beginn angelegt gewesen sei. Von dem Mitdiskutanten Jens Halfwassen gibt es im Rahmen desselben Workshops da in Stuttgart einen Einzelvortrag über die Philosophie Plotins (3), die eigentlich nur die Philosophie Platons sein will, vielleicht etwas anders in Worte gefaßt. Und es sagen nun immer mehr kluge, kundige Leute, daß diese philosophische Tradition Plotins zunächst am besten geeignet sei, wenn man das Anthropische Prinzip von philosophischer Seite aus deuten will. Bislang hat es auf diesem Gebiet immer nur einen Einzelgänger unter den Philosophen gegeben, nämlich den kanadischen Philosophen John Leslie, der das getan hatte, schon vor 20 Jahren.

Jetzt ist dieser John Leslie offenbar längst nicht mehr so "abseitig" wie man das vor 20 Jahren noch wahrnehmen konnte. Und genau dieser Umstand wird in dieser Diskussion deutlich. Hier scheint also wirklich etwas im Gange zu sein. Man möchte rufen: Menschheit, horche auf. Deine Philosophen beginnen wieder, sinnvolle Dinge zu tun.

Menschheit, horche auf, das 20. Jahrhundert, sein Materialismus, sein Atheismus sind zu Ende. Und nicht das Christentum ist die Zukunft der Menschheit, sondern moderne philosophische Deutungen wie sie in diesen Diskussionen zum ersten mal geäußert werden.

Dieses Universum und unser Leben in ihm sind also keineswegs ohne Sinn. Denn das wäre die absurdeste Deutung, die man ihnen - vor dem Hintergrund des heutigen Wissens- und Diskussionsstandes - geben könnte. Vollends begeistert war der Autor dieser Zeilen, als ab Minute 26 dieser Diskussion der Berliner Philosophie-Professor Holm Tetens (geb. 1948) (Wiki) (ganz rechts sitzend) anfing, von Kunst zu reden, von Johann Sebastian Bach. "So muß das,", rief er geradezu verzweifelt aus, "verdammt noch mal,so muß das - - - meine Güte!!!" Tetens sagt (1):
Das ist erst einmal eine Intuition und über die kann man natürlich streiten, daß ein Universum, in dem Einstein auftritt und die Feldgleichungen hinschreibt (...) für die Struktur der Raumzeit und für den Zusammenhang mit der Verteilung der Materie und in dem er damit etwas Objektives, Richtiges am Universum feststellt, daß ein solches Universum ein "besseres" Universum ist, als ein Universum, in dem es auch diesen Sachverhalt, diese Gesetzmäßigkeit gibt, in dem es aber niemanden gibt, der das erkennt, der das zu würdigen weiß, und der sagt "Ach, das ist aber großartig". Ein anderes Beispiel zur Unterstützung, zur Plausibilisierung dieser Intuition, daß ein erkanntes Universum ein besseres Universum ist, ist natürlich jede Form von Kunst. Ich meine, ich finde es großartig, daß Johann Sebastian Bach Musik geschrieben hat, und daß wir diese Musik hören können, und daß wir von dieser Musik angerührt sind, daß wir sogar so angerührt werden können von dieser Musik, daß unsere grundsätzliche Einstellung zum Ganzen der Welt sich ändert. Das hat ja auch etwas mit religiösen Gefühlen zu tun.
Und in diesem intuitiven Sinne (...) würde ich sagen, ist ein Universum, in dem es Subjekte gibt, die dieses Universum erkennen, ein besseres Universum als ein Universum, wo Materie, geistlose, bewußtseinslose, blinde Materie einfach vor sich hin agiert, nach bestimmten Mechanismen abläuft, ohne daß jemals jemand auftritt, der das erkennt, und der sich fragt "Welchen Sinn hat das Ganze? Hat das Ganze einen Sinn oder hat es keinen Sinn? Was muß ich denn annehmen, wenn es einen Sinn hat oder nicht?" Ich gebe zu, das kann ich nicht beweisen. Aber das ist meine Intuition. Und das ist im übrigen eine Intuition, die betrifft einen so zentralen Aspekt meines Selbstverständnisses, daß ich nicht ohne weiteres bereit bin, davon Abstand zu nehmen. Denn es betrifft mich vor allem als ein Wesen, das im Positiven wie im Negativen damit beschäftigt ist, die Wahrheit zu erkennen, daran scheitert, es wieder versucht und so weiter. Es betrifft also einen so zentralen Aspekt unseres Menschseins, daß ich jedenfalls die These, daß alles nur Zufall sei, "Du bist als ein erkennendes Wesen in diese Welt geworfen, aber da steckt keine Absicht dahinter, mach dir nichts draus, du wirst sowieso sterben, ein paar werden sich noch an dich erinnern, irgendwann werden auch die letzten, die sich noch an dich erinnern, gestorben sein, du wirst spurlos aus diesem Universum verschwunden sein", bevor ich das glaube, muß man wirklich sehr, sehr starke Gründe haben, um zu sagen: "Das ist aber leider so, gewöhne dich bitte an den Gedanken, das ist so." Denn zuerst einmal möchte ich sagen können: Ich darf mich in dieser Welt als ein um Vernunft bemühtes, selbstbewußtes Wesen verstehen. (...) Deshalb lasse ich mir die These, daß das Universum auf Erkennbarkeit angelegt ist, nicht so leicht von jemandem ausreden, sondern da würde ich sagen: Da mußt du sehr, sehr gute Gründe haben, wenn du sagst "Das ist eine völlig unhaltbare, alberne, nur von Wunschdenken bestimmte These."
Ein unglaubliches Statement. Fast möchte man sagen, eine neue Luther-Rede: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!" Man spürt sofort, wie viel "Hintergrund" dieses Statement hat, daß damit ein ganzes - und insbesondere: ein neues - Weltbild mit verbunden ist. Ein Weltbild, in dem wir Menschen uns mehr zu Hause fühlen können, das uns Menschen angemessener ist als all der - man Entschuldige! - atheistische Scheiß, der uns seit Jahrzehnten so unendlich lang um die Ohren gehauen wurde. Als all der materialistische und atheistische Scheiß. Man entschuldige schon.

Und vor allem: Man beachte doch bitte, wie sich hier plötzlich die Rollen vertauscht haben. In früheren Generationen haben Physiker selbst noch recht oft mit einem gewissen Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Bedeutung ihrer Wissenschaft für Sinnfragen des Menschen nicht unter den Tisch gekehrt werden. Auch Albert Einstein gehörte übrigens zu diesen Wissenschaftlern, ebenso Werner Heisenberg, ebenso Manfred Eigen. Und unzählige weitere könnten genannt werden. Und die Philosophen haben das - nicht selten - infrage gestellt oder zerredet oder - was was am häufigsten vorkam: ignoriert.

In dieser Diskussion jedoch wenden die beiden anwesenden Physiker alle rhetorischen und argumentativen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, dazu auf, einer solchen Stellungnahme, einem solchen Bekenntnis auszuweichen. Sie wollen sich nicht festlegen. Sie wollen auch nicht festgelegt werden. Sie wollen ihre Wissenschaft im Nirwana des Elfenbein-Turmes der Wissenschaft machen. Aber bitteschön soll sie doch niemand danach fragen, welche Bedeutung diese ihre Wissenschaft für eine Sinngebung des menschlichen Lebens hier in diesem Universum haben könnte. Dafür ist die Religion zuständig. Und die Religion soll - bitteschön - nicht danach fragen, was die Wissenschaft macht. (Das Mantra von so höchst "lieben" Leuten wie Stephen Jay Gould oder Jürgen Habermas, wobei letzterer sich schon vor zehn Jahren zu ersten Rückzugsgefechte diesbezüglich - in Fragen der Willensfreiheit des Menschen - bereit gefunden hatte.)

Jetzt hier in dieser Diskussion aber sind die Rollen vollständig vertauscht. Die Philosophen fordern - aus ihrer Frage nach Sinngebung in diesem Leben heraus - die Physiker zum Bekenntnis, zur Stellungnahme. Eine völlig neue Situation. Deshalb können einen diese Ausführungen des Herrn Tetens so hinreißen. Sie fordern neuerdings die Vereinheitlichung unseres Weltbildes, unseres Wissens, nicht mehr die Naturwissenschaftler. Was für eine Situation! Wie sind plötzlich die Stühle vertauscht? Wenn das Schule macht. Nicht auszudenken.

(Man beachte allerdings, daß die Diskussion in dem obigen Video nach der ersten Hälfte abflacht. Da kommt dann nicht mehr so viel Neues - aber das wollen wir im Laufe der Zeit noch selbst genauer überprüfen.)

***

Diese Ausführungen geben natürlich Anlaß, sich auch noch einmal den Einzelvortrag des Professors Tetens auf dieser Tagung anzuhören (2). Dieser Mann hat Logik, Wissenschaftstheorie und Argumentationstheorie an der Freien Universität Berlin gelehrt. Er hat sich bis etwa 2015 selbst als Atheist verstanden. Es gibt also wirkich Gründe genug zu sagen, daß seine Argumentationsstruktur ernst zu nehmen ist. Man kann ihr folgen, sie ist naheliegend und nachvollziehbar. In letzter Instanz ist die Annahme eines göttlichen Willens, aufgrund dessen das Universum und die menschliche Erkenntnisfähigkeit innerhalb dieses Universums entstanden sind, "Glaubenssache". So wie der Atheismus auch. Aber die Plausiblitätsargumente für die Annahme eines göttlichen Willens (den man sich nicht mit Tetens monotheistisch vorstellen muß) sind längst viel größer geworden als jene gegen eine solche Annahme. Und dies geschah, das stellt Tetens in seinem Vortrag womöglich noch nicht genügend heraus: durch die moderne naturwissenschaftliche Forschung.

Wenn man beachtet, welchen angesehenen Lehrstuhl Tetens innerhalb der deutschen Philosophie innegehabt hat, dann muß man doch sagen, daß einem in der Öffentlichkeit ein bisschen auffällig zu wenig über diese doch recht gewichtigen Argumente von Tetens (und Leuten seiner Art) geredet wird. Man darf sich auch fragen: Was sagen denn die etwaig noch existenten, früheren Anhänger des Jürgen Habermas, unseres einstigen atheistischen "Staatsphilosophen" dazu? Sollte nicht womöglich endlich einmal klar das Ende des Zeitalters der "Postmoderne" verkündet werden? Es geht ja nicht nur um die Lebensentscheidung einzelner Menschen, es geht auch um den Geist des Zeitalters, von dem diese Lebensentscheidungen mit beeinflußt sind.

Auf Verständnisfragen zu dieser Diskussion hin könnte gesagt werden: Daß das Weltall auf Selbsterkenntnis hin ausgelegt ist, steht ja außer Zweifel. (Jedenfalls inzwischen auch für viele Physiker.) Philosophisch könnte gesagt werden: Es will die Menschen "groß". Deshalb ist es selber so "groß". Und im Angesicht der Weiten des Alls, der - für uns - dimensionslos großen Größen des Alls, im Angesicht der ungeheuren Zeiträume, die schon menschlich gesprochen "ewig" genannt werden müssen, die das All besteht, will es uns - womöglich - darüber belehren, daß es auf Zeit, Raum und Materie an sich auch gar nicht ankommt. Wenn aber schon das platonisch "Gute" (Halfwassen, John Leslie) in ein materielles Gewand eintaucht (weil Selbsterkenntnis, Bewußt-Werden des jenseits von Raum, Zeit und Kausalität als vorliegend zu vermutenden "Großen" nur dadurch möglich wird), daß es sich dann allerdings ein Gewand von erhabener Größe gibt. "Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre."

Tetens jedenfalls wendet die von ihm selbst über viele Jahre hinweg gelehrte Argumentationstheorie an, um das Anthropische Prinzip der Astrophysik philosophisch in nicht-atheistischem Sinne zu deuten. 2015 erschien seine Monographie "Gott denken" (5), in der er argumentierte, daß es vernünftige Gründe gäbe, die Möglichkeit eines persönlichen Gottes anzunehmen und sein Leben darauf auszurichten. Die Argumentationsstruktur dieses Buches stellt Tetens dann in diesem Vortrag aus dem Jahr 2018 vor (2).

Insbesondere kann einen das Engagement von Teten faszinieren, das mehr noch sichtbar wurde in der Diskussion mit Theoretischen Physikern, auf die hier eingangs hingewiesen wurde (1). Aber was folgt denn daraus, wenn der Mensch gewollt ist in diesem Universum? War denn damit die heute im öffentlichen Leben allseits verbreitete Versimpelung, Infantilisierung und Veridiotisierung gemeint? Man möchte doch meinen, daß eine Besinnung auf die geistigen Grundgehalte unserer Kultur schon lange an der Zeit ist und auch seit langem überfällig.

Kommt sie also hier zurück, die "Vertikalspannung des Menschen", wie dies von Peter Sloterdijk benannt worden ist - durch die moderne Naturwissenschaft?

Tetens bezieht sich in der Diskussion auf den britischen Physiker und Theologen John Polkinghorne (geb. 1930) (Wiki, engl). Polkinghorne hat - laut Wikipedia - unter anderem folgende Fragen gestellt:
Naturgesetze erwecken Fragen, welche naturwissenschaftlich nicht mehr zu beantworten sind: Warum ist uns die natürliche Welt so verständlich? Warum sind ihre Gesetze so fein aufeinander abgestimmt, daß sich eine fruchtbare Geschichte entfalten kann? Warum ist Naturwissenschaft möglich? Warum hat das Universum so eine besondere Gestalt? 
Und (6):
Religion ohne Naturwissenschaft ist begrenzt; ihr mißlingt es, für die Wirklichkeit völlig offen zu sein. Naturwissenschaft ohne Religion ist unvollständig; es mißlingt ihr, das tiefste mögliche Verstehen zu erreichen.
Im Rahmen genau solcher Gedanken bewegt sich Holm Tetens in dieser Diskussion. Und auffallenderweise sind diese Gedanken heutigen Physikern immer noch - neu. Der Grund dafür dürfte - unter anderem - sein, daß eine vorhergehende Generation von Physikern und Naturwissenschaftlern mehr Philosophie betrieben hat als das viele heutige, führende Physiker und Naturwissenschaftler tun, und zwar aus eigenem Erkenntnisdrang heraus. Da das in der gegenwärtigen Generation von Physikern nicht mehr so ausgeprägt sichtbar ist, kommt der heutige Impuls zum Nachdenken über die philosophische Deutung des Anthropischen Prinzips deutlich stärker von Seiten der Philosophie als von Seiten der Naturwissenschaft, insbesondere auch: vehementer.

Polkinghorne war bis 1979, bis zu seinem 49. Lebensjahr als Physiker tätig. 1979 legte er seine Professur nieder, durchlief eine theologische Ausbildung (Wiki):
In einem Interview sagte er, daß er das Gefühl hatte, daß er nach 25 Jahren seinen Teil zur Wissenschaft beigetragen hatte, und daß er die besten mathematischen Arbeiten, zu denen er fähig war, wahrscheinlich schon geleistet hatte; das Christentum war immer wesentlich für sein Leben gewesen und deshalb eröffnete eine Priesterweihe ihm eine attraktive zweite Karriere.
He said in an interview that he felt he had done his bit for science after 25 years, and that his best mathematical work was probably behind him; Christianity had always been central to his life, so ordination offered an attractive second career.
Und in der Tat machte dann eine steile Karriere innerhalb der Anglikanischen Kirche. Er gesteht ein, daß er von manchen als "vegetarischer Metzger" wahrgenommen werden könnte (Wiki):
Als Theologe mit physikalischem Hintergrund beeindruckt ihn vor allem die formale mathematische Schönheit der Quantenmechanik und Relativitätstheorie, insbesondere die - in den Worten von Eugene Wigner - unerklärbare Effektivität der Mathematik in den Naturwissenschaften. (...) Er sieht darin das Wirken einer höheren, ordnenden Macht. Einen weiteren Hinweis darauf sieht er in den speziellen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit überhaupt intelligentes Leben im Universum entstehen kann (Anthropisches Prinzip).
_________________________
  1. Physiker und Philosophen diskutieren über den Ursprung des Universums. Podiumsdiskussion beim Workshop "Ursprung des Universums" am 7.-9. Dezember 2018 an der  Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Tagungshaus in Stuttgart-Hohenheim, veröffentlicht auf Video-Kanal "Grenzfragen" am 24.04.2019, https://youtu.be/dAUJ8IB3N_0.
  2. Tetens, Holm: Materie oder Geist als Ursprung des Universums. Vortrag beim Workshop "Ursprung des Universums" am 7.-9. Dezember 2018 an der  Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Tagungshaus in Stuttgart-Hohenheim, veröffentlicht auf Video-Kanal "Grenzfragen" am 18.12.2018, https://youtu.be/GWWuVaKNXGI.
  3. Halfwassen, Jens: Der absolute Ursprung bei Plotin. Vortrag beim Workshop "Ursprung des Universums" am 7.-9. Dezember 2018 an der  Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Tagungshaus in Stuttgart-Hohenheim, veröffentlicht auf Video-Kanal "Grenzfragen" am 24.01.2019, https://youtu.be/jdhNQvi8ac8.
  4. Hüfner, Jörg: Georges Lemaîtres Vorstellungen vom Anfang der Welt und vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion. Vortrag beim Workshop "Ursprung des Universums" vom 7.-9. Dezember 2018, Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim, veröffentlicht auf Video-Kanal "Grenzfragen" am 20.12.2018, https://youtu.be/8OW2w1zqHVk.
  5. Tetens, Holm: Gott denken. Ein Versuch über Rationale Theologie. Reclam, Stuttgart 2015
  6. Polkinghorne John: Theologie und Naturwissenschaften. Gütersloh 2002

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