Dienstag, 20. Dezember 2022

"Der Mansfeld kommt!"

- Geheimregie hinter dem Ablauf des Dreißigjährigen Krieges?
Das Wirken des Graf Ernst von Mansfeld (1580-1626) - Ermöglichte es erst das In-Gang-Halten dieses Krieges, der womöglich sonst bald "eingeschlafen" wäre, zum Schaden der katholischen Sache?
- Betrieb er auf Seiten der Protestanten Verrat im Dienste der Rekatholisierung Europas?*)

"Der Mansfeld kommt" war ein Schreckensruf der Menschen des Dreißigjährigen Krieges. Er ist von Hermann Löns in seinem Roman "Der Werwolf" im Jahr 1910 aufgegriffen worden (Wiki). In diesem sehr nah an der historischen Wirklichkeit sich bewegenden Roman finden sich alle Schrecken des Dreißigjährigen Krieges wieder. Wer aber war dieser "Mansfeld"? Haben sich die Historiker das schon ausreichend klar gemacht?

Wer sich mit der Geheimgeschichte der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, ausgiebig beschäftigt hat (was hier auf dem Blog in vielen Beiträgen geschehen ist), der ist schon längst zu dem Schluß gekommen, daß es eine geheime Regie hinter den Kulissen gab, die - über die Beschlüsse der befehlshabenden Generäle hinweg - den Verlauf der Kriege so zu lenken wußte, daß es zum Vorteil dieser Geheimregenten war und der Vervollkommnung ihrer Machtstellung in den Völkern diente und daß es zum Nachteil aller kriegführenden Völker selbst war. Gemeinhin werden diese Kräfte Freimaurer und Jesuiten genannt, womit klar ist, daß sie einen nicht geringen Teil ihres Fanatismus und ihres wohl organisierten satanistischen Handelns aus der mosaischen Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch beziehen.

Abb. 1: Der furchtbare Dreißigjährige Krieg

Diese Geheimregie des 20. Jahrhunderts war darauf angelegt, die Kriege in die Länge zu ziehen und sie nicht schnell enden zu lassen. In einem aufwühlenden Dokument aus dem Jahr 1937 hat genau dies der amerikanische Präsidentenberater William C. Bullit auch unverhüllt und wörtlich so ausgesprochen. 

Nennen wir hier nur einige wichtigere Eckpunkte in dieser geheimen Regie: Das "Wunder an der Marne" verhinderte ein schnelles Ende 1914 im Westen, die Schlacht bei Tannenberg verhinderte - durch die überraschende Berufung Ludendorffs zum Befehlshaber in Ostpreußen - ein schnelles Ende im Osten. Falkenhayn verhinderte mit seiner "Zermürbungstaktik" ein schnelles Ende im Osten 1915 und als Ludendorff 1916 zur OHL berufen wurde, ging es erneut darum, den Krieg zu verlängern, denn er hätte sonst schon 1916 allzu leicht mit einer deutschen Niederlage enden können und die bolschewistische Revolution in Rußland hätte dann nicht so leicht siegen können wie sie gesiegt hat.

Und so ähnlich läßt sich auch die Geschichte des Zweiten Weltkrieges erzählen. Frankreich kapitulierte überraschend schnell 1940. Ähnlich viele andere europäische Länder. England wurde in Dünkirchen geschont. Gibraltar wurde nicht von den Deutschen eingenommen (dank der "hervorragenden" Arbeit des Herrn Canaris). Die Murmanskbahn wurde niemals eingenommen, wodurch die entscheidende materielle Untestützung der Kriegsführung der Sowjetunion durch die USA immer gesichert blieb. Die Invasion in der Normandie 1944 wurde ermöglicht, der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte 1944 wurde ermöglicht, jeweils durch falsche Meldungen und "Aufklärungen" der Abteilungen "Fremde Heere Ost" (Reinhard Gehlen) und "Fremde Heere West" (Alexis von Roenne), beides Abteilungen, die durch den Admiral Canaris aufgebaut worden waren. Wir brechen ab. Diese Geschichtsvorgänge sind alle längst verstanden. Und viel zu furchtbar, um ruhig bei ihnen bleiben zu können. Geheimregie durch Personalpolitik, Geheimregie durch "Wissensgefälle".

Georg Wolmar von Fahrensbach in Kurland - 1610 bis 1620

Wer in all diese Vorgänge tiefe Blicke geworfen hat, muß aufmerken, wenn er auf eine solche merkwürdige Biographie aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges stößt wie die des Georg Wolmar von Fahrensbach (1586-1633) (Wiki), dessen Agieren in Kurland und gegen Riga schon zwischen 1610 und 1620 unglaublich aufwühlend nachzuvollziehen ist und viele, viele Fragen aufwirft, weil alles, was man hier erfährt, einfach nur verwirrend und verstörend ist. Im Auftrag der Jesuiten hat dieser Mann immer wieder unter persönlicher Lebensgefahr Unruhe gestiftet in Kurland und gegen Riga, damit der polnische König und die Jesuiten die protestantischen Herzöge von Kurland und das protestantische Riga "bei den Haaren kriegen" konnten, wie sich Fahrensbach auszudrücken beliebte gegenüber einem, den er dabei zur Mitarbeit gewinnen wollte (Seraphim 1893). Es ging um haarsträubende Provokationen zu Handlungen, die die beteiligten Protestanten ins Unrecht setzten, die sie zum Beispiel Morde begehen lassen sollten (tatsächlich oder nur angeblich), aufgrund deren sie dann vom katholischen Polen aus mit Krieg überzogen werden konnten, mit einem Krieg, der dem polnischen, von Jesuiten beratenen König schließlich die schwedische Königskrone bringen sollte. 

Aufgrund insbesondere der festen Haltung des protestantischen Riga und des protestantischen Schweden sollte Fahrensbach bis 1620 vergleichsweise wenig Erfolge in den genannten Ostseeländern mit seinem Agieren haben und dort nur üblen Gestank hinter sich zurück lassen (Preußen2022). 

Wir sehen ihn aber nach 1621 in ganz anderen Zusammenhängen erneut auftreten und agieren. Konnte er das innere Wesen seines Handelns in seinem nachherigen Leben so stark ändern, jenes Wesen, daß sich schon in Kurland so überaus deutlich gezeigt hatte und das doch immer einmal wieder auch später ganz und gar unverhüllt und boshaft wieder zum Vorschein kommen sollte? Offenbar doch nicht. Wie aber ist dann all das viele "bunte", chamäleonartige Handeln und Leben dieses Georg Wolmar von Fahrensbach zwischen 1621 und 1633 insgesamt einzuordnen? Und wie ist von daher eine womöglich bestehende Geheimregie hinter dem Ablauf des Dreißigjährigen Krieges überhaupt anzunehmen und zu deuten?

.... Und der Graf Mansfeld?

Wenn man nun im weiteren auf die für den Verlauf der ersten Phase des Dreißigjhrigen Krieges so wichtige Biographie des Grafen Ernst von Mansfeld (1580-1626) (Wiki, ADB) stößt, so gelangt man zu einer ersten Ahnung davon, daß in dieser Biographie grundsätzlich ähnliche Handlungsmuster vorliegen könnten wie bei dem Agieren des Georg Wolmar von Fahrensbach.

Beide Biographien erscheinen den Historikern immer und immer wieder so, daß sie an verschiedenen Stellen Worte benutzen wie "unberechenbar", "unbegreiflich". Beide scheinen ihre Religionszugehörigkeit ihr Leben lang in der Schwebe gehalten zu haben. So konnten sie bezüglich derselben jederzeit ihre Farbe wechseln wie ein Chamäleon. Beide genossen das Vertrauen führender protestantischer Fürsten und Könige. Beide starben als Katholiken, nachdem ihnen die Beichte abgenommen worden war. Will man eigentlich noch mehr wissen? Ist das nicht alles schon genug "Muster"? Unter dem Vorwand, "Protestant" zu sein und der protestantischen Sache zu dienen, haben sie der katholischen Sache gedient? Was wäre dran an einer solchen Vermutung, an einer solchen Unterstellung? Nur Humbug?

Sind wir denn etwa die ersten, die das so klar und eindeutig sehen? Eine so klare, deutliche Kennzeichnung und Deutung zu den Leben beider Personen finden wir sonst in der Literatur bislang jedenfalls nicht. Auch nicht in der kritischsten (Ludendorff 1929). Das soll uns aber nicht beirren, die Dinge endlich einmal zu Ende zu denken und zu verfolgen. Am nächsten unserer Einschätzung kommen aber die folgenden Worte auf Wikipedia (Wiki):

Auch die Bezeichnung als protestantischer Heerführer ist fragwürdig, weil er nach 1610 seine wahre Konfession geschickt verbarg, sich nirgends erkennbar von konfessionellen Motiven hat bestimmen lassen und im übrigen später auch katholischen Mächten diente.

Ist damit nicht eigentlich schon alles gesagt? Graf Mansfeld stammte aus einer katholischen Familie in Luxemburg. Er ist katholisch erzogen worden. 1610 ist er zum Protestantismus übergetreten, hat aber vor seinem Tod sich die Beichte abnehmen lassen und ist katholisch gestorben wie berichtet wird. (Wobei die Berichte über seinen Tod insgesamt als "legendär" gelten. Ob er überhaupt so gestorben ist wie berichtet wird, scheint nicht sicher zu sein. War seine Rolle womöglich einfach nur "ausgespielt"? Und hat er womöglich unter anderem Namen in anderen Zusammenhängen weiter gelebt? Das sind Fragen, die sich uns jedenfalls stellen.) Graf Mansfeld scheint jedenfalls ein Obergauner nach dem Buche gewesen zu sein (Wiki):

An der Schlacht am Weißen Berge nahm er nicht persönlich teil, wofür er 100.000 Gulden aus der gegnerischen Kasse erhielt. 

Was will man eigentlich noch mehr hören? Ist damit nicht das ganze Leben dieses Menschen genug gekennzeichnet? Wie soll man eine solche Person noch als einen überzeugungstreuen Parteigänger der protstantischen Sache erachten, der sich für die Nichtbeteiligung an dieser für die Protestanten so entscheidenden, so vernichtenden Schlacht des Jahres 1620 100.000 Gulden aus der gegnerischen Kasse hat bezahlen lassen? Deutlicher geht es doch gar nicht. Natürlich wird diese Tatsache erst heute auf Wikipedia erwähnt. Offenbar war sie nur den wenigsten Zeitgenossen bekannt und ebensowenig vergleichsweise kritischen Historikern im Jahr 1884 (ADB). Ohne diese Tatsache konnte man womöglich noch zu keinem so klaren Urteil über das Wesen dieses Grafen Mansfeld kommen wie das mit Wissen um diesen Vorgang möglich geworden ist. 

Planlos und ziellos

Wie kann man da glauben, daß nicht genau dies der Grundzug seines ganzen Lebens? Der Sache nach nur einer einzigen Partei zu nutzen, nämlich der katholischen, nach außen hin aber sich als Vertreter der protestantischen Sache auszugeben. Das ganze militärische Handeln rund um Mansfeld nach der Schlacht am Weißen Berg mutet planlos und ziellos an. Es konnte nur darauf ausgelegt sein, den Krieg am Laufen zu halten, ihn zu verlängern, um so Handhaben zu haben, um auch Norddeutschland weiter in Unruhe zu versetzen und katholisieren zu können, wobei aber zugleich entscheidende Niederlagen der katholischen Seite zu verhindern waren und wobei zugleich die protestantischen Länder, durch die Mansfeld's Söldner zogen und aus denen sie lebten, sehr tüchtig ausgeplündert werden konnten. Ist das das Muster?

Graf Mansfeld hat an mehreren Stellen die Möglichkeit zu entscheidenden Niederlagen für die katholische Sache nicht ausgenutzt oder sie gar - um es deutlicher auszudrücken: bewußt hintertrieben und sabotiert. Indem wir diesbezüglich noch einiges ähnliche aus den Jahren davor übergehen, lesen wir dann etwa zu dem Jahr 1621 so klare und deutliche Worte wie diese (ADB):

Anstatt (...) zu entscheidenden, vernichtenden Schlägen (...) überzugehen und schließlich einen ehrenvollen Frieden zu diktiren, begnügte sich Mansfeld damit, Erzherzog Leopold und dessen Straßburger Bistum mit Krieg zu überziehen und nächstdem den Verhandlungen wieder Gehör zu schenken, (...) welche den kühnen Parteigänger noch viel unberechenbarer, ja unbegreiflicher erscheinen lassen als zuvor!

Er zog den Krieg also auf einen Nebenkriegsschauplatz, verhinderte entscheidende Schläge auf dem Hauptkriegsschauplatz und verhielt sich dann auch noch in überraschenden Unterhandlungen mit der katholischen Partei als "unberechenbar", "unbegreiflich", zumindest aus Sicht der protestantischen Sache. Man fragt sich angesichts solcher Wortwahl, warum bisher scheinbar kein einziger Historiker klar und deutlich genug die Meinung scheint vertreten zu haben, daß Mansfeld schlicht und einfach immer und durchgehend um katholischer Interessen willen gehandelt hat als Geheimagent auf protestantischer Seite - so wie Georg Wolmar von Fahrensbach und so wie vielleicht - bei genauerem Hinschauen - noch so manch anderes "liebevolle" Persönchen der damaligen Zeitenläufte. (Wobei ja eigentlich nur an den katholischen Minister des calvinistischen Kurfürsten von Brandenburg erinnert werden muß, um deutlich zu machen, daß auf dieser Linie allerhand an Abstrustitäten möglich war.)

Auch über die Schlacht bei Wimpfen 1622 gegen Tilly lesen wir dann wieder (ADB):

Denn nur wenige Tage später trug Tilly einen glänzenden Sieg über die vereinigten badischen Truppen (gegen 20,000 Mann) bei Wimpfen davon, da Mansfeld sich erst in der letzten Stunde dazu entschloß, die beiden, bei seinem Korps befindlichen Herzöge Wilhelm und Bernhard von Sachsen-Weimar mit zwei Regimentern Infanterie und 2000 Reitern zum Markgrafen stoßen und an jenem verhängnißvollen Kampfe Anteil nehmen zu lassen.

Zwischen solchem Handeln mußte Mansfeld natürlich auch immer wieder "glänzende Siege" gegen die katholische Partei erringen, sonst wäre seine Maske womöglich doch zu stark verrutscht. Womöglich sind diese aber nur zugelassen worden, damit die protestantischen Fürsten und die protestantische Welt ihm weiterhin Vertrauen entgegen bringen konnten. Ein ähnliches Muster sehen wir ja ebenfalls bei Fahrensbach.

Scheinbar scheint es immer wieder gelungen zu sein, andere für verantwortlich erklären zu können für das, was Mansfeld selbst dann aber der Sache nach tat, so etwa bei der außerordenlich üblen Plünderung Ostfrieslands 1623, das als Handelskonkurenz von England, Frankreich und der Niederlande galt, die aber doch nicht wollen konnten, daß ein protestantischer Landstrich so übel ausgeplündert wurde ([ADB]: "die Feder sträubt sich").

"... wird wohl auf immer ein Rätsel bleiben" - 1626

Über die Jahre 1624 bis 1626 berichtet der Historiker wieder über ihm völlig Unverständliches (ADB):

Er scheint schon damals den Plan entworfen zu haben, den Krieg wieder in des Kaisers Erblande zu spielen, sich den Weg bis nach Ungarn zu bahnen und Bethlen Gabor dort die Hand zu reichen. Warum er dies (...) nicht ins Werk setzte, warum er es vorzog, das gefährliche Wagestück zu unternehmen, die feindlichen Stellungen an der Dessauer Brücke zu stürmen, wird wohl auf immer ein Rätsel bleiben. - Hier hatte Wallenstein (...) einen starken Brückenkopf auf dem rechten Elbufer errichtet (...). Anstatt nun seine Streitkräfte (...) direkt nach Schlesien, Böhmen und Innerösterreich zu führen, die Schrecken des Kriegs in die kaiserlichen Erbstaaten zu tragen, zog er es vor, seine Kampfmittel an einem Punkte aufs Spiel zu setzen, wo Wallenstein alle Vorteile des Bodens (...) für sich hatte und eine unglückliche Fügung, ein Zufall gleichsam, ihm den blutigen, teuer errungenen Lorbeer wieder aus den Händen riß.

Wenn man Mansfeld als jesuitischen Geheimagenten erachtet, bleibt hier gar nichts mehr ein Rätsel. Aber freilich wäre dann die Truppenführung des Mansfeld auch als außerordentlich verbrecherisch zu bezeichnen. Er hätte seine Truppen dann bewußt und mit Absicht in eine blutige Niederlage hinein geführt. Aber da er schon so viele andere Schlechtigkeiten begangen hatte - warum sollte man ihm diese dann nicht auch noch zutrauen?

Der planlos wirkende Zug nach Schlesien - 1626

Sein ganzer Zug nach Schlesien im Jahr 1626 hat irgendwie das Aussehen von Planlosigkeit und Ziellosigkeit. Der Zug endete im Nichts, zog aber Schlesien - wie zuvor viele Länder Norddeutschlands: Ostfriesland, Lüneburg, Brandenburg - in den Krieg mit hinein und ermöglichte es so der katholischen Seite, gegen die Protestanten in Schlesien vorzugehen, die zu den Fahnen Mansfelds geeilt waren.

Der Historiker Julius Krebs schildert 1886 (2), wie Wallenstein es seit Herbst 1625 immer fest im Auge behielt, welche Pläne Mansfeld verfolgte, und daß man sich schon früh Sorgen machte, er könne von Niedersachen über Brandenburg aus in das protestantische Schlesien einbrechen, wo er aufgrund des protestantischen Glaubens als - vorgeblich - protestantischer Heerführer viel Unterstützung finden würde, und wo ihm Bethlen Gabor von Ungarn her entgegen ziehen konnte. Und in einer Geschichte der Herzogtümer Troppau und Jägerndorf (Österreichisch-Schlesien) von 1874 lesen wir die bezeichnenden Worte für die Zeit zwischen 1621 und 1626 (Gottlieb Biermann: Geschichte der Herzogthümer Troppau und Jägerndorf, 1874, S. 523f, GB):

Man fand es jedoch noch nicht an der Zeit, die sogenannte Gegenreformation im Troppauischen, für dessen protestantische Bevölkerung der Kurfürst von Sachsen intervenierte, schon jetzt durchzuführen. (...) Mansfeld's Einfall in Schlesien bot die heiß ersehnte Gelegenheit, auf welche die in Wien alles vermögende Jesuitenpartei längst schon ungeduldig harrte, um sich des lästigen Akkords zu entledigen.

Gemeint ist hier der Dresdner Akkord von 1621 (Wiki), laut dem die katholische Partei sich noch Zügel auferlegen mußte was ihre Pläne der Gegenreformation betraf. Was für bezeichnende Worte hier der Historiker Gottlieb Biermann (1828-1901) (Wiki) wählt. heute nennt man so etwas "Agent provokateur". 

Mansfeld brach also nun am 10. Juli 1626 von Havelberg aus nach Schlesien auf. Die Regimenter zogen unter seiner eigenen Führung und unter der Führung des Herzogs Johann Ernst (1594-1626) (Wiki) auf parallelen Wegen über Kyritz, Fehrbellin, Kremmen, Spandau, Oranienburg und trafen sich in Frankfurt an der Oder (Krebs). Dort setzten sie über die Oder und zogen weiter durch Schlesien. Ziel war ihre Vereinigung mit Bethlen Gabor in Oberschlesien. Am 12. August wurde Mansfeld Teschen ohne Gegenwehr übergeben, am gleichen Tag dem Herzog Johann Ernst Troppau. Wir lesen über den weiteren Verlauf (ADB):

Herzog Johann Ernst unterwarf fast ganz Schlesien, Mansfeld drang nach Ungarn vor. Ihm folgte Wallenstein, die Generale Schlick und Serini wurden gegen Johann Ernst gesandt. Letzterer aber wußte nicht nur sich gegen sie zu behaupten, sondern schlug sie entscheidend. Nach diesem glücklichen Erfolge teilte der Herzog sein Heer, ließ die eine Hälfte als Besatzung in Schlesien zurück, die andere sandte er nach Mähren, wo er verschiedene wichtigere Plätze unterwarf. Währenddem war dem Grafen Mansfeld eine Vereinigung mit Bethlen Gabor gelungen; die Truppen, die er aus Deutschland mitgebracht, unterstellte er dem Siebenbürger. Auch mit den Türken trat man in Verhandlung. Aber während hier sich eine neue Gefahr für den habsburgischen Staat zu bilden schien, gelang es dem Kaiser, Gabor zur Untätigkeit zu veranlassen. Mansfeld fand in diesen Tagen unerwarteter Weise den Tod. 

Auf dem Weg über Dalmatien nach Venedig, wo Mansfeld Geld für neue Truppen aufbringen wollte, ist er in der Nähe von Sarajewo am 29. November 1626 einen "geheimnisvollen Tod" gestorben. Und (Wiki):

Kurz vor seinem Tod ließ er sich von einem katholischen Priester die Beichte abnehmen.

Er hatte maßgeblich dazu beigetragen, daß der Krieg über 1621 und 1623 hinaus verlängert worden war. So heißt es auf Wikipedia. Und  er starb als Katholik. Und er hat die protestantischen Länder überall, wohin er gekommen war, geplündert und übel mitgenommen zurück gelassen. "Der Mansfeld kommt," galt als Schreckenswort in protestantischen Ländern. Wahrlich "Heldentaten" - aber wofür? 

Während Mansfeld in Ungarn unter ging, vollzog sich auch das Schicksal der vorwiegend dänischen Truppen in Schlesien (ADB):

Wallenstein mußte zunächst nach Schlesien vordringen und der Kaiser gedachte endlich die Acht gegen den Herzog (Johann Ernst) zu verhängen. Der Fürst schien verloren. In seiner großen Not entschloß er sich, des Kaisers Gnade und Verzeihung zu erbitten und verhandelte mit Landgraf Georg von Hessen-Darmstadt über Interzession am Wiener Hofe. Wilhelm, Johann Ernst’s Bruder, bemühte sich eifrig für ihn, schrieb an den Kaiser wegen Aufschub der Achtserklärung und erbot sich, Boten an den Herzog zu senden, um die Unterwerfung herbeizuführen. Ferdinand ging auf diese Vorschläge ein und versprach, wenn der Herzog sofort die habsburgischen Erblande räumen würde, mit der Acht nicht vorgehen zu wollen. Aber Johann Ernst konnte sich zur Räumung des besetzten Gebietes nicht entschließen: er ließ die Truppen in den okkupierten Städten und drang an der Spitze des größten Teiles seines Heeres nach Ungarn - da, als sich alles zu einer Katastrophe vorzubereiten schien, hat den Herzog unvermutet der Tod hingerafft. Der Genuß einer ungaren Speise warf ihn aufs Krankenbett, ein unbesonnener Versuch, sich durch Gewaltmittel zu kurieren, verschlimmerte das Übel, das am 4. Dezember 1626 zu St. Martin in Ungarn seinem Leben ein Ziel setzte.

Johann Ernst war erst 31 Jahre alt. Mansfeld war 46 Jahre alt als er starb. Was für ein erschütterndes und zugleich sinnloses Geschehen. Was hatte dieser ganze Zug nach Schlesien überhaupt für einen Sinn gehabt? Man spürt aus den Berichten nicht heraus, daß die Macht Habsburgs sich durch diesen Zug wirklich gefährdet gefühlt hat. 

Flüche als Nachrufe

Das Urteil der Historiker über Mansfeld lautet einigermaßen einhellig (NDB):

Die außerordentliche Verrohung des Kriegswesens während des 30jährigen Krieges bleibt mit seinem Namen verbunden.

Und (Wiki):

Er trug aus persönlichen Gründen wesentlich dazu bei, die Reichswirren über die Zäsuren von 1620/21 und 1623 hinaus zu verlängern und zu einem europäischen Krieg auszuweiten.

Es fällt einem also mehr schwer, mit wohlwollenden Gedanken an diesen furchtbaren Truppenführer zurück zu denken. Eine finnische Studie aus dem Jahr 2011 ordnet das Handeln des Grafen Mansfeld unter die Thematik der "assymetrischen Kriegsführung" (Wiki) ein. In der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse heißt es (Bäckström 2011, S. 83f):

Die Zeichen symmetrischer Kriegsführung, als da sind klare politische Ziele und der Vorsatz, Entscheidungsschlachten führen zu wollen, waren auffallend abwesend in Mansfeld's Kriegsführung.
The signifiers of symmetrical warfare, the clear political goals and the disposition to engage in decisive battles of annihilation, were conspicuously absent from Mansfeld’s warfare.

Was für verräterische Sätze. Und der Autor schreibt weiter über Wallenstein (Bäckström 2011, S. 83f):

Seine Übernahme und Verfeinerung von Mansfeld's assymetrischen Methoden halfen dem Kaiser alle Flammen des Widerstandes in Deutschland bis zum Ende des Jahres 1629 zu ersticken.
His adoption and refinement of Mansfeld’s asymmetrical methods had helped the Emperor to smother all flames of resistance in Germany by the end of 1629.

Wir furchtbar das alles, wenn es wahr wäre. Unter der Fahne des Protestantismus hätte dann ein katholischer Feldherr eine barbarische Kriegsführung in Europa eingeführt, die dann die katholische Seite als "Nachahmung" übernehmen konnte, die aber womöglich sie selbst zuvor erst eingeführt hatte.

Was für ein Erbe und Andenken der Graf Mansfeld in solchen Worten der Nachwelt hinterlassen hat! Wird hier nicht klar genug gesagt, daß Mansfeld die Wallenstein'schen Rekatholisierung in Norddeutschland - der Sache nach - vorbereitet hat? Erst mit dem Auftreten Gustaf Adolfs von Schweden ab 1629 kam es wieder zu einer "symmetrischen Kriegsführung", allerdings nun auf den Linien, die zuvor von Mansfeld und Wallenstein vorgegeben worden waren. Mit seinem Vormarsch war die Macht der Katholiken in Wien erstmals wirklich ernsthaft gefährdet. 

Zumal eine Verständigung zwischen Gustav Adolf und dem hervorragenden protestantischen Staatsmann, Feldherrn und Kulturförderer Bethlen Gabor in Ungarn immer näher gerückt war. Da starb ganz "überraschend" Bethlen Gabor am 15. November 1629 mit 49 Jahren mitten in seinen weitausschauenden Plänen zur Übernahme der polnischen Königskrone mit Hilfe des polnischen protestantischen Adels. Vor einem Bündnis Gustav Adolfs von Schweden mit Bethlen Gabor in Siebenbürgen wäre Habsburg militärisch unweigerlich in die Knie gegangen. Aber auch ohne Bethlen Gabor blieb Gustav Adolf gefährlich genug für die Habsburger in Wien.

Und da kam dann - unter anderem - der Georg Wolmar von Fahrensbach zum Zuge und ins Spiel. Als Regimentsführer bei der Verteidigung von Frankfurt an der Oder und der Festung Ingolstadt sollte er wesentliche "Heldentaten" für die katholische Seite erbringen, ohne daß ihm die katholische Seite das jemals wirklich ausdrücklich gedankt hätte (ebensowenig wie sie es nach außen hin gegenüber Mansfeld hat tun können). Sonst hätte das viel zu viele Blicke erlaubt in die Geheimregie hinter dem Dreißigjährigen Krieg. 

Und so mancher überzeugte Katholik hätte sich mit Abscheu abgewandt von solchen Methoden der Kriegsführung, die - um "höherer Ziele willen" - bereit war, Verrat an den eigenen Kameraden zu begehen und sie dem Feind auszuliefern.

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*) Teil 6 der Beitragsreihe: "Minen hört man und Geschütz / täglich dumpf erdröhnen" - Im Kampf für die evangelische Freiheit - Einblicke in das Leben der Deutschen des baltischen Adels und der Bürgerschaft des 17. Jahrhunderts in Livland und Kurland. Vorige Beiträge: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5.

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  1. „Mansfeld, Ernest Graf zu“ von Ludwig Graf Uetterodt zu Scharfenberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 20 (1884), S. 222-232, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Mansfeld,_Peter_Ernst_II._F%C3%BCrst_von&oldid=- (Version vom 20. Dezember 2022, 03:40 Uhr UTC)
  2. Krebs, Julius: Schlesien in den Jahren 1626 und 1627. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. 1. Bis zu Manfeds Zug, Band 20, 1886, S. 1-32 (GB); 2. Manfeld's Zug durch Schlesien, Band 21, S. 116-148 (GB); 3. Der Einmarsch der Herzogs von Friedland, 4. Die Forschritte der Dänen und Mansfelder bis Ende 1626, Band 25, S. 124-184; 5. Die Winterquartiere der Kaiserlichen, 6. Vordringen des Feindes in Oberschlesien und Aufmarsch der kaiserl. Regimenter (Jan. - Juni 1627) Bd. 27, 1894, S. 150-203 (GB); 7. Wallensteins Feldzug in Oberschlesien, Bd. 28, S. 147-178 (GB)
  3. Seraphim, Ernst: Der Kurländer Wolmar Farensbach. Ein Parteigänger und Verräter des 17. Jahrhunderts. Nach archivalischen Quellen. In: Seraphim, Ernst und August: Aus der Kurländischen Vergangenheit. Bilder und Gestalten des siebzehnten Jahrhunderts. Stuttgart 1893, S. 9-152 (GB)
  4. Ludendorff, Erich und Mathilde: Das Geheimnis der Jesuitenmacht und ihr Ende. Ludendorffs Verlag, München 1929 (Archiv)
  5. Heinisch, Reinhard R., "Mansfeld, Peter Ernst II. Fürst von" in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 80-81 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119338882.html#ndbcontent 
  6. Olli Bäckström: The German Military Entrepreneur Ernst von Mansfeld and His Conduct of Asymmetrical Warfare in the Thirty Years War, 2011 (pdf)

Donnerstag, 20. Oktober 2022

Alfred Rosenberg und die Reichskristallnacht

Unsere Amazon-Rezensionen (Amaz) haben wir selten parallel auch gleichzeitig hier auf dem Blog eingestellt. 

Das wäre vermutlich noch einmal nachzuholen. Die nachfolgende Rezension der Neuveröffentlichung der Tagebücher von Alfred Rosenberg (1893-1946) (Wiki) (1), die wir am 20. September 2015 eingestellt hatten, ist inzwischen schon von 32 Nutzern als "hilfreich" gekennzeichnet worden.



Abb. 1: Rosenberg in Nürnberg 1946

Das möchten wir auch meinen, daß sie hilfreich ist (Amaz):

Eine Gesamteinschätzung des Inhaltes dieser Tagebücher ist sicher nicht von heute auf morgen möglich und wird auch in der Einleitung dieses Bandes erst gar nicht versucht für alle darin behandelten Themen. Deshalb möchte auch ich hier zunächst nur einige erste Rechercheeindrücke festhalten.
Die Überlieferungsgeschichte der Tagebücher von Alfred Rosenberg ist eine auffällige (S. 29ff). Auszüge derselben wurden schon während der Nürnberger Prozesse zugänglich gemacht. Der Hauptteil der Rosenberg'schen Tagebücher kam dann aber - unzulässigerweise - für lange Jahrzehnte in den Privatbesitz (!) des Anklägers Robert Kempner und blieb deshalb bis zum Jahr 2015 unveröffentlicht. Nur gut belesenen Fachleuten war bekannt, dass Kempner schon 1948 Auszüge aus diesem Tagebuch veröffentlicht hatte. Diese zum Verständnis der geistigen Entwicklungen im Dritten Reich sicher nicht unwichtige Veröffentlichung aus dem Jahr 1948 ist noch heute - zum Beispiel - nicht auf dem Wikipedia-Artikel zu Alfred Rosenberg verzeichnet.
Und selbst in der Veröffentlichung des Rosenberg-Tagebuches aus dem Frühjahr dieses Jahres fehlen nach Einschätzung der Herausgeber immer noch wichtige Bestandteile dieses Tagebuches. Nämlich Einträge zwischen Herbst 1941 und erster Hälfte 1942. Und auffallender Weise ist dies genau jener Zeitraum, in dem nach der heutigen wissenschaftlichen Meinung innerhalb der deutschen Führungsspitze der Plan zur Ausrottung der europäischen Juden konkrete Gestalt angenommen hat. Welche Stellungnahmen und Hinweise es gibt in Bezug auf Alfred Rosenbergs Sichtweise auf die Judenmorde und bezüglich seiner Verantwortung wird in der Einleitung sehr detailliert erörtert (S. 40-116), allerdings kann sich auch diese Darstellung an den entscheidenden Stellen nicht auf Tagebuch-Einträge stützen.
Die sicher nicht ganz unbedeutsame Kritik Rosenbergs an der Politik seines kulturpolitischen Rivalen und erklärten Gegners Josef Goebbels oder auch an der Politik des Gauleiters Erich Koch in der Ukraine ist schon in diesen Tagebuch-Blättern ähnlich durchgängig enthalten wie er sie dann auch 1946 in seinen Nürnberger Aufzeichnungen formulierte. In ihnen wird Goebbels interessanterweise auch als verantwortlich erklärt für die Reichskristallnacht des Jahres 1938. Und indem man diesem Umstand hinterher recherchiert, findet man, dass sich das Stichwort "Reichskristallnacht" in der Rosenberg-Biographie von Ernst Pieper vier mal findet. Nirgendwo aber wird in dieser erörtert, dass Rosenberg die Reichskristallnacht laut des schon 1956 veröffentlichten Tagebucheintrages ABGELEHNT hat. - Hallo?!?!Da ein Zitat dieses Tagebuch-Eintrages und damit eine Erörterung seines Inhaltes derzeit offenbar auch sonst nirgendwo im Internet oder auf "Google Bücher" zu finden ist, soll es hier einmal gebracht werden. Rosenberg gibt ein Gespräch mit Heinrich Himmler über Josef Goebbels wieder, das wahrscheinlich im Dezember 1938 stattgefunden hat, und über das Rosenberg anfangs schreibt (S. 266f):
"Zunächst erzählte er (Himmler) die ganze Angelegenheit von Fritsch und von Blomberg und machte sein persönliches Unbeteiligtsein klar." (Okay, das "Unbeteiligtsein" von Himmlers Gestapo soll auch in dem Gestapo-Weisswaschbuch "Der Sturz der Generäle" von Fritz Tobias und Karl-Heinz Janßen dargelegt werden, das allerdings auffällig viele ehemalige Gestapoleute sehr unkritisch als Informanten aufführt ohne zu erörtern, ob diese nicht auch ein Interesse daran gehabt haben könnten, vor der Öffentlichkeit für den Sturz der kriegsunwilligen Generäle nicht verantwortlich gewesen zu sein.) So "unbeteiligt" braucht man Himmlers Gestapo an diesem Geschehen ganz bestimmt nicht ansehen. Aber weiter gibt Rosenberg dann das Gespräch unter anderem folgendermaßen wieder:
"Ich: Die Sache mit dem Judenprogrom war doch ebenso staatsschädigend. Dr. Goebbels hat nur auf Grund einer allgemeinen Anordnung des Führers gleichsam in seinem Namen die Aktion geboten. Görings Gegenbefehl kam zu spät. Schaden an Volksgut: fast 2 Winterhilfswerke: 600 Millionen!

Himmler: Ja; alles wird jetzt auf andere geschoben.
Ich: Für alles das, was Goebbels macht, müssen wir bezahlen. Es ist furchtbar."
Ich traue mir so aus dem Handgelenk nicht den Versuch einer weitergehenden kritischen Bewertung und Einordnung dieses Zitates zu. Ich finde es nur auffällig, dass dasselbe, das doch irgendwie auch entlastend für Rosenberg ist, offenbar nirgendwo in der Literatur auch nur erwähnt zu sein scheint (auch nicht in der Einleitung dieses Bandes!). Und mir drängt sich da der dumpfe Verdacht auf, dass man bei genauer Lektüre dieser Tagebücher noch allerhand ähnlicher solcher Dinge finden würde. In der Einleitung werden entlastende Tagebucheinträge Rosenbergs genannt zur schlechten Behandlung der russischen Kriegsgefangenen durch Deutschland. Ausgerechnet die Seitenangaben zu diesen Einträgen scheinen dann aber nicht zu stimmen, denn auf diesen findet sich dieses Thema dann gar nicht behandelt.
Dies nur erste wenige Leseeindrücke. Insgesamt muss sich die Wissenschaft doch allmählich einmal fragen: Welchem Zweck dient ein solches Jahrzehnte langes Verschlossenhalten von Geschichtsdokumenten wie der Gesamtheit der Tagebücher von Alfred Rosenberg, von dem IMMER noch wichtige Teile nicht bekannt sind?

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  1. Jürgen Matthäus, Frank Bajohr (Herausgeber): Alfred Rosenberg - Die Tagebücher von 1934 bis 1944 (Die Zeit des Nationalsozialismus. "Schwarze Reihe".) 23 April 2015

Freitag, 3. Juni 2022

Pechstein - Ein Maler in Pommern

Der Maler Max Pechstein entdeckt die Pommersche Ostseeküste zwischen Garder und Leba-See
- Von Nidden nach Leba, von Leba nach Rowe, von Rowe zum Revekol
- Die Jahre 1921 bis 1945 

Betrachtet man die Werke des deutschen Malers Max Pechstein (1881-1955) (Wiki) aus den Jahren zwischen 1927 und 1945 als eigene Werkgruppe und für sich genommen, stellt man fest, daß die Bilder dieser Jahre zwar auch zu hohen Preisen gehandelt werden (selten unter 100.000 Euro), daß sie aber weniger sozusagen "legendär" sind innerhalb des Gesamtwerkes von Max Pechstein, daß sie also sozusagen eine ruhigere Phase in seinem künstlerischen Schaffen repräsentieren. Es finden sich etwas weniger provozierende, perspektivische Verzerrungen und "Verfremdungen" als in vielen seiner - deutlich bekannteren - Werke aus den Schaffensperioden davor - und zum Teil auch aus seiner letzten Schaffensphase danach, nach 1945.

Abb. 1: "Herbstwolken", 1927 - Gemälde von Max Pechstein, Privatsammlung Berlin (Auction) - Dargestellt ist - offenbar - die Lupow im Ostseebad Rowe

Als zeitweiser Angehöriger der expressionistischen Künstlergruppe "Die Brücke" ist Max Pechstein bekannt geblieben. Innerhalb derselben hat er lange vor 1914 im Umland von Dresden sehr bekannte expressionistische Werke geschaffen. Wie mancher französische Expressionist vor 1914 hat er auch auf den Südsee-Inseln gemalt. Und auch diese Werke sind innerhalb seines Gesamtwerkes recht bekannt geblieben. Dann hat er lange Jahre in Berlin gelebt - in der Kurfürstenstraße. Dort hat er die für Expressionisten typischen Großstadt-Bilder gemalt. Seit 1909 ist er bis 1945 fast jeden freien Sommer für viele Wochen zum Malen an die Ostsee gefahren. Bis 1920 war diese Urlaubsgegend die Malerkolonie Nidden an der Kurischen Nehrung in Ostpreußen. Die Bilder dieser Schaffensperiode sind ebenfalls "legendär". Ab 1921 waren die von ihm gewählte Urlaubsgegend Leba am Lebasee in Pommern und das davon südlich gelegene "blaue Ländchen". Und nachdem ihm das Ostseebad Leba touristisch zu überlaufen geworden war, wählte er zwischen 1927 und 1945 sehr oft auch Rowe am Garder See in Pommern als Urlaubsort.

Alle genannten Orte haben insbesondere durch seinen Aufenthalt dort für die europäische Kunstgeschichte Bedeutung bekommen. Vielleicht kann man so weit gehen und sagen, daß der Pommersche Berg Revekol in der Kunstgeschichte der deutschen Expressionisten eine ähnliche Rolle spielt wie der Berg Sainte-Victoire in der Provence, der sich so häufig zum Beispiel auf den Bildern von Paul Cezanne wieder findet. 

Abb. 2: Garder See und Leba-See in Pommern (Karte von 1930, Ausschnitt) (Stolp.de)

Pechstein hat im Verlauf seines Malerlebens neben den Ölgemälden und Landschaften in kraftvollsten Farben immer häufiger auch Aquarelle mit oft deutlich zurückhaltenderer Farbwahl gemalt. Dies gilt insbesondere für viele Aquarelle ab 1927, die in Rowe und Umgegend geschaffen wurden.

Im letzten Beitrag hier auf dem Blog hatten wir von der "Schulamtsbewerberin" Charlotte Nemitz (1905-1987) aus Stolp in Pommern berichtet (Prbl2022). Sie war in Stolp als Lehrertochter aufgewachsen und hat sicher oft an der Ostsee, etwa in Rowe oder in anderen Ostseebädern Urlaub gemacht. Am 1. Januar 1936 war sie von einer Schule in Stolp auf die Dorfschule des Fischerdorfes Klucken (Wiki) am Leba-See gekommen. Das Dorf war damals schon mit der Bahn zu erreichen (Abb. 2). In Klucken gab es eine vierstufige Volksschule. 145 Schulkinder wurden in vier Klassen von drei Lehrern unterrichtet (Wiki). 

Es war der letzte Ort, an dem die heute ausgestorbene Slowinzische Sprache gesprochen wurde. Sie wurde von den dortigen Fischern gesprochen. Diese wurden "Lebakaschuben" genannt. Ihrer wird heute vor Ort mit einem Freilichtmuseum gedacht. Allerdings sind die Einwohner auch dieses Dorfes - und damit auch die Nachfahren der Lebakaschuben - 1945 zwangsumgesiedelt worden (Wiki):

Später wurden in der Bundesrepublik Deutschland 342 und in der DDR 192 aus Klucken vertriebene Dorfbewohner ermittelt.

Die heutigen Bewohner von Klucken sind gar keine Nachfahren der Lebakaschuben mehr. Das Dorf Klucken liegt inmitten landschaftlicher Schönheiten am Südwest-Ufer des Leba-Sees (Abb. 2). Im Norden liegen die berühmten Wanderdünen, die "Lontzke-Dünen". Die Ostseeküste zwischen den Fischerdörfern Rowe ("Rowy") (Wiki) am Garder See (Wiki) im (Süd-)Westen und Leba (Wiki) am Leba-See (Wiki) im (Nord-)Osten (die letztere Ortschaft auf Abb. 2 rechts außerhalb des Bildrandes), alle etwa dreißig Kilometer nördlich der Kreishauptstadt Stolp gelegen, war von den Malern Pommerns und aus Stolp als Landschaft schon vor 1914 entdeckt worden.

Abb. 3: Die Lupow-Mündung bei Rowe, 1927 (Postkarte) - Vorne die Lupow, im Hintergrund der Garder See, dahinter der Revekol

Die genannten Seen sind jeweils nur durch eine schmale Landzunge von der Ostsee getrennt. Auf der Landzunge, die den Lebasee vom Meer trennt, liegt das Dörfchen Rumbke ("Rabka") (Erin.) (Abb. 2 rechter Bildrand) und dahinter die Lontzke-Düne (Wiki). Über das kleine Dorf Holzkathen, das auf halbem Wege zwischen Garder See und Leba-See liegt, wird in einem Text von 2014 geschrieben (1):

Der Ort Holzkathen (Smołdziński Las) liegt am Rande des Slowinzischen Nationalparks. Riesige Wanderdünen auf der Nehrung und ein fast 40 km langer Naturstrand, hinter dem sich ausgedehnte Küstenwälder und Binnenseen (Leba- und Garder See) erstrecken, machen diese Küstenlandschaft zum Geheimtipp für alle Naturliebhaber. Aufgrund seines Artenreichtums und der landschaftlichen Vielfalt ist der Nationalpark u.a. Mitglied des UNESCO-Programms Mensch und Biosphäre (seit 1977), der Internationalen RAMSAR-Konvention zum Schutz von Feucht- und Moorlandschaften und des Europäischen Umweltschutznetzwerkes Natura 2000. (...) Über der Nehrung am Lebasee erhebt sich die Lonzkedüne (Łąska Góra), die mit 42 m höchste Wanderdüne des Nationalparks. An den Ufern des Sees liegen streng geschützte Nistgebiete des Schwarzen Kormorans und der anderen über 180 Vogelarten, die hier alljährlich nisten. Im Sommer kann man auf dem Garder See auf zugewiesenen Gebieten Surfer und Kajakfahrer beobachten. Die verwunschenen, von tiefen Küstenhochwäldern umgebenen Binnenseen Kleiner und Großer Dolgensee sind ein Eldorado der Wasservögel und Biber.

Nachdem im Januar 1920 die Kurische Nehrung in Ostpreußen und die dortige Künstlerkolonie Nidden (Wiki) für seine Künstler - darunter Maler wie der Ostpreuße Lovis Corinth oder eben der Sachse Max Pechstein, nicht mehr zu erreichen waren, suchte insbesondere letzterer nach neuen, vergleichbaren Orten entlang der Ostseeküste. Pechstein schreibt in seinen Erinnerungen (Seebad Leba) (2, S. 107):

Zu Fuß streifte ich die Ostseeküste, nach Westen marschierend, ab. Ich entschloß mich zuletzt, in Leba mein Standquartier zu errichten. Wenngleich dort andere Menschen, andere Fischertypen, lebten, so wiesen doch die große Lontzker Wanderdüne und das weit ausgebreitete Dünengelände eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kurischen Nehrung auf, die mich bewog, hier zu arbeiten.

Von 1921 bis 1926 arbeitete Pechstein in den Sommermonaten in Leba. Ab 1927 suchte er nach einem zurück gezogeneren Ort, den er im Ostseebad Rowe am Garder See fand. 

Abb. 4: "Pommersche Fischerkaten", 1927 (Koller) - Einstige Fischerkaten im Ostseebad Rowe

Auch nach 1927 kehrte er wiederholt nach Leba zurück, wo er seine zweite Frau 1921 kennen gelernt hatte, und wo seine Schwiegereltern ein Hotel führten. Das Ostseebad Leba wirbt heute auch mit dem Umstand, daß Pechstein hier gemalt hat ("In farbgewaltigen Landschaftsgemälden verewigte Pechtstein die Schönheit der Gegend." [Seebad Leba])

Wir erfahren auch (Ketterer):

Der Künstler lernt diese Küstenlandschaften schätzen und lieben. "Sei es nun, daß ich auf meinen Streifzügen weiter ins Land hinein, ins 'blaue Ländchen' kam, in herrliche Wälder, zwischen denen verborgene Seen aufblitzten und sprudelnde Flüsse und Bäche sich durch die Landschaft schlängelten. Außerdem bargen die Wasser hier herrliche Fische, und es gab für mich nichts Besseres zur Beruhigung der Nerven, als ihnen nachzustellen (...). Dabei ruhte der Stift nicht. Alles, was ich sah und um mich erlebte, wurde unerbittlich festgehalten (...). Ich erhielt dadurch eine Sicherheit, die mich nicht versinken ließ in dem Zusammenbruch nach dem Kriege." (zit. aus: Jürgen Schilling, Max Pechstein, Unna 1989, S. 139).

"Zusammenbruch nach dem Kriege" - so hat dies also auch Max Pechstein erlebt. Er hatte ja als Patriot bei Kriegsausbruch 1914 mit allen Kräften gestrebt, von jener Südsee-Insel, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hatte, nach Deutschland zurück zu kehren. Es gelang ihm dies unter schwierigen Umständen über die USA hinweg. Nach der sehr komplizierten Rückreise während des Krieges war er in den Jahren 1916 und 1917 an der Westfront als Soldat eingesetzt worden. Aus diesen Erfahrungen heraus hat eindrucksvolle Kunstwerke geschaffen. Den "Zusammenbruch nach dem Kriege", den Verlust unter anderem des Memellandes mit der Künstlerkolonie Nidden hat er als solchen wie so viele Kriegsteilnehmer als ein erschütterndes Geschehen erlebt, auch als ein solches, das einen hätte "versinken" lassen können.

Was aber war das hier genannte "blaue Ländchen"? So wurde das Landesinnere der Landkreise Lauenburg (Wiki) und Bütow (Wiki) genannt, also die Gegend südlich von Leba (Rek.) (Wiki). Es gibt eine Postkarte von Lauenburg aus den 1930er Jahren, betitelt "Lauenburg in Pommern - Blick ins blaue Ländchen" (Flickr). 2016 erschien das Büchlein "Leba  im Blauen Ländchen 1357-1945" (3) (Fb). Auf der Rückseite des Büchleins steht (Am):

Wer blöden Aug's vorübergeht,
Der sieht hier nichts als Sand.
Doch in wess' Herz die Schönheit glüht,
Dem dünkt's ein Wunderland.

An dieser Stelle ein wenig Landes- und Heimatkunde: Der Landkreis Lauenburg war der östlichste Landkreis Pommerns. Er erstreckte sich an der Küste von der Leba aus gut dreißig Kilometer nach Osten bis zur Grenze nach Westpreußen bei Wierschutzin (Wiki) (G-Maps). Das heißt, das Land östlich von Wierschutzin bis zur Halbinsel Hela gehörte gar nicht zu Pommern, sondern zu Westpreußen. Es gehörte zum Landkreis Neustadt in Westpreußen (Wiki). Und die Einwohner des Landkreises Neustadt waren im Jahr 1905 zu etwa 50 % deutsch- und zu 50 % polnisch- bzw. kaschubischsprachig. Sie waren zu etwa 25 % protestantisch und zu 75 % katholisch. Es handelte sich hier die sogenannte "Kaschubei", bzw. um einen Teil derselben.

Auf einem in Bütow in Pommern 1921 ausgegebenen "Notgeld" hat man die Worte festgehalten (Flickr):

"Blaues Ländchen" man unser Land
Seit alter Zeit schon hat genannt.
Blau der Duft, der die Berge umschwebt,
Blau die Treue, die im Pommern lebt.
Wie diese einst bewährt in mancher Schlacht,
So hält sie jetzt an neuer Grenze Wacht.

All dies gehörte auch zur Heimat der damaligen Lehramtsanwärterin Charlotte Nemitz. 

Abb. 5: "Sonnenuntergang", 1927, Aquarell (Lempertz) - Blick nach Westen, vielleicht über die Lupow beim Ostseebad Rowe

Und es sei auch noch das folgende festgehalten, was wir über die Geschichte der Landschaft zwischen Leba-See und Garder See zu lesen bekommen (1):

Der Preußenkönig Friedrich der Große war es, der in der 2. Hälfte des 18. Jh. per Kabinettsorder die Trockenlegung der Moore zwischen dem Garder See und dem Lebasee verfügte. Nach seinem Minister von Brenkenhof wurde auch der Verbindungskanal zwischen den beiden Binnenseen benannt. In der Folgezeit wurde die Region immer wieder Ort großräumiger Meliorationsvorhaben. Nach 1945 betrieb ein Staatsgut mit 250 Beschäftigten auf den meliorierten Weiden eine hochproduktive Viehwirtschaft und Grünfutterproduktion. Die Futterexporte gingen für harte Devisen ins skandinavische Ausland. Der Zerfall des Staatsbetriebes nach der Wende Anfang der 90er ließ viele Gräben wieder zuwuchern. Wasservögel und Biber eroberten sich das Land zurück.

Und diese Landschaft nun hat auch der Maler Max Pechstein durchstreift und sie - aus verschiedenen Perspektiven - in Bildern festgehalten.

1921 - Von Nidden nach Leba in Pommern

So lesen wir etwa (Musenblätter 2015):

Als nach dem Versailler Vertrag Nidden zu Litauen fiel und für Pechstein versperrt war, entdeckte er das hinterpommersche Fischerstädtchen Leba für sich - vorn die See, dahinter die Strandseen. Vor dem trubeligen Strandleben floh Pechstein 1927 in das nahegelegene Dörfchen Rowe - die neu gefundene Abgeschiedenheit schätzte er mehr als daß das Fehlen von Strom und fließendem Wasser ihn störte. Bis in die Kriegsjahre hinein verbrachte Pechstein die warmen Monate in Hinterpommern.

Nein: Bis 1945. Schon ab dem Jahr 1921 entstehen seine ersten Werke in Leba, zum Beispiel: "Fischereihafen in Leba" (1921), "Dorfstraße in Leba" (1921), "Am Strom im Winter" (1922), "Dünenlandschaft" (1922), "Zwei Kutter im Hafen von Leba" (1922), "Sonnenuntergang am Lebastrom" (1925), "Sonnenuntergang im Hafen von Leba" (1926), "Geknickter Baum vor Pommerscher Dorflandschaft" (1927) (Ketterer):

"Die Aufenthalte von Max Pechstein an der Ostseeküste in Pommern sind legendär. Nirgendwo hatte sich Pechstein so wohl gefühlt, wie unter den Fischern und Bauern in Ostpommern. Die große Fülle der malerischen Arbeiten aus dieser entbehrungsreichen Nachkriegszeit zeugt von einer Befreiung von Körper und Seele nach den traumatischen Erlebnissen des Ersten Weltkrieges."

Nach 1927 entstehen rund um Rowe und rund um den Garder See Gemälde und Aquarelle wie "Blick auf den Revekol" (1929), "Morgensonne auf dem Garder See" (1929), "Seewinkel am Garder See" (1929), "Fischer mit Booten an der Lupow-Mündung" (1929), "Morgen in Rowe" (1931), "Toter Wald vor Revekol" (1934), "Ruderboot am Garder See" (1935).

Abb. 6: "Sommerabend", 1927, Ölgemälde (Koller) - Im Hintergrund der Revekol, vielleicht Blick aus der Gegend des Dorfes Wobesde, südlich des Garder Sees

Wir bringen im vorliegenden Beitrag nur eine kleine, womöglich gar nicht einmal repräsentative Auswahl aus der Vielzahl der hier entstandenen Gemälde und Aquarelle. Zeichnungen und Holzschnitte bringen wir gar nicht. Die Werke von Max Pechstein unterliegen noch bis zum Jahr 2030 dem deutschen Urheberschutz. Wir hoffen nicht, daß wir gegen dasselbe mit dieser kleinen Auswahl verstoßen. Über eigenständige Bildersuche im Internet kann sich der Leser leicht einen weiteren Überblick und Einblick verschaffen (Gal.):

Das im heutigen Polen liegende Leba in Pommern an der Ostseeküste, wird Pechsteins dritter Sehnsuchtsort, an dem er künstlerisch zu einem neuen Selbstverständnis gelangte. Dieses „baltische Arkadien“ war wie zuvor schon Nidden, ein Ort, der für ihn wie Fehmarn für Kirchner oder Alsen für Nolde als Zufluchtsort vor der Stadt und Quelle der Inspiration und Vitalität diente. Pechstein reist erstmals im März 1921 nach Leba auf der Suche nach einer neuen Arbeitsstätte. Nach Nidden, im heutigen Litauen konnte er aus politischen Gründen nicht mehr reisen und so verbringt der Künstler bis 1945 seine Sommer in Leba und ab 1944 lebt er sogar dort. Pechstein findet hier ein landschaftliches Paradies wieder, was ihn mit seiner unberührten Natur und Ursprünglichkeit an die Südsee erinnerte. Er entflieht Berlin, der Großstadt und den Alltagsquerelen in die Natur und in alternative Lebensbedingungen. Unter den Fischern der Küste lebt Pechstein, der sich ihnen verwandt fühlt, nach den Zeugnissen dieser Jahre, buchstäblich auf: "…freue mich, bald wieder losfahren zu können, und ungehindert in der Natur zu leben", schreibt er im Frühjahr 1922 an Walter Minnich. Es entsteht motivisch wie künstlerisch in Bezug auf das gesamte Oeuvre sehr Wesentliches, so daß die Gemälde dieser Epoche als Höhepunkte seiner malerischen Produktion bezeichnet werden dürfen.
1921 wird Pechstein noch von seiner ersten Frau Lotte und dem gemeinsamen Sohn Frank begleitet, die ihren Sommerurlaub hier verbringen. Man wohnt im Gasthof Möller, wo Pechstein allein zurückbleibt, nachdem Frau und Kind wieder nach Berlin zurückgekehrt sind. Pechstein beginnt die zwei Töchter des Gastwirts Marta und Liese Möller zu proträtieren, wobei er besonderes Interesse an der 16jährigen Marta entwickelt. Eine große Anzahl an Porträts und Figurenbildern entstehen. Bereits am 4. August schreibt er seinem Schulfreund Alexander Gerbig in einem Brief, daß er sich in Marta verliebt hat: "Noch dazu habe ich mich (…) in einen kleinen schwarzen Teufel verguckt (…)" Noch kurz vor Weihnachten desselben Jahres läßt er sich von Lotte scheiden - die später Martas Bruder Hermann heiraten wird. Pechstein heiratet Marta 1923 - inzwischen 18jährig - im Gasthaus ihrer Eltern.
1922 verbringt er sowohl die Monate Mai bis September als auch den Dezember in Leba. Zu dieser Zeit entsteht auch das Gemälde „Interieur“, ein Figurenporträt Martas in einem Zimmer im Strandhotel ihrer Eltern. Es ist eine intime Darstellung, die eine ganz in sich versunkene junge Frau zeigt. Die Farben des Innenraums changieren in Violett, Blau- und Grüntönen und umrahmen Marta, die in ein leuchtend rotes Gewand gekleidet, den Mittelpunkt der Komposition bildet. Der Pinselstrich ist locker bis lasierend, die Farben gehen harmonisch ineinander über und werden durch die dunklen Konturen akzentuiert. Die Arbeit zeigt beispielhaft Pechsteins virtuosen Umgang mit der Farbe, die für ihn in dieser Hochphase seines Schaffens zum Mittelpunkt seiner künstlerischen Meisterschaft geworden war.

Marta Möller und das gemeinsame Kind werden Gegenstand zahlreicher Werke so wie dies zuvor seine erste Frau und das gemeinsame Kind gewesen sind. Marta wird häufig mit dem für die damalige Zeit typischen, modernen "Bubikopf" dargestellt.

Abb. 7: "Fischerkaten", 1928 (KuF) - Einstige Fischerkaten im Ostseebad Rowe

In einem Buch über Max Pechstein aus dem Jahr 1922 liest man (Osborn, Max: Max Pechstein, Propyläen, Berlin 1922, S. 9, Archiv):

"Klarer hebt sich aus den allmählich zerrinnenden Nebeln der Wirrnis das große Ziel des jungen Geschlechts unserer Tage: eine neue Welt aufzubauen."

Diesem Ziel würden die Künstler dienen.

In der Tat ist es ein - sozusagen - sehr "modernes" Pommern, das wir auf den Gemälden von Max Pechstein kennen lernen. Es ist nur selten jenes vormoderne, bäuerliche und gutsherrschaftliche Pommern der Zeit vor 1945, das auf Schwarz-Weiß-Fotografien jener Jahre als typisch für Pommern so oft zu sehen ist und die Erinnerung der Heimatvertriebenen vor allem geprägt hat. 

Max Pechstein hat sogar selbst in jenen Jahren rege fotografiert und seine Fotografien in einem Album gesammelt. Das wurde gerade erst in diesem Jahr in Ausstellungen bekannt (4). So hat er zum Beispiel Fischer fotografiert, die ihre Boote - gegen die Strömung - in das Landesinnere ziehen. Es könnten dies Fotografien sein, die in Rowe (oder bei Schmolsin?) an der Lupow entstanden sind. Er hat Fischer fotografiert, die ihre Fische zum Verkauf aufbereiten, Fischer, die ihre Netze flicken und anderes mehr. 

Abb. 8: "Weißes Haus", 1928 (Artnet) - Vermutlich einstiges Haus eines Fischers und Bauern im Ostseebad Rowe

Auch viele Motive der Werke von Max Pechstein finden sich in seinen Fotografien wieder, etwa Fischerhäuser (4).

1927 - Von Leba nach Rowe: "Nicht laut schreien"

Zu dem Gemälde "Fischerkaten" von 1928 (Abb. 7) lesen wir (KuF):

Im Juni 1927 beschloß Pechstein erstmalig, den Sommer in dem abseits gelegenen Fischerdorf Rowe in Hinterpommern zu verbringen, dem heutigen Rowy in Polen. Auf der schmalen Landzunge zwischen Garder See und Ostsee gelegen, bestand das Dorf aus alten Häusern "von 130 Jahren, mit Schilf gedeckt, die Zimmer so winzig, daß ich bequem mit der Hand die Decke erreiche", wie Pechstein schrieb. Diese kleinen Gehöfte und Fischerhütten inspirierten Pechstein in den Jahren 1927 bis 1930 wiederholt zu Gemälden. 1928 hielt Pechstein sich von Mai bis Anfang Oktober in Rowe auf. In einem Brief an seinen Freund Alexander Gerbig schwärmte Pechstein von Rowe: "Es ist ein ganz abgelegenes Nest, aber herrliche Landschaft und vor Allem kann man da herumlaufen, wie es einem Spaß macht, ganz ungeniert" (Soika S. 79). Während er bei seinem ersten Besuch die Gegend hauptsächlich zeichnerisch erfasste, widmete er sich 1928 vor allen Dingen der farblichen Wiedergabe des Gesehenen. Es entstand jetzt eine Reihe kleinerer Gemälde, deren Maximalmaße unter 70 cm blieben. Pechstein schrieb: "Nun sind größtenteils Arbeiten kleineren Formats entstanden, die Stimmung und die Gegend brachte es mit sich, daß ich sah, es sei besser nicht laut zu schreien, was man leise viel eindringlicher sagen kann." So führte er auch das vorliegende Gemälde in einem kleineren Format aus. Hier zeigt er die spitzen Giebel der Fischerkaten, die kaum über die schützenden Dünen zur Ostsee ragen.

Man möchte fast sagen, daß diese zurückhaltenderen Werke, die ab 1927 in Rowe entstanden sind, noch mehr zu Herzen gehen können als die "lauteren", die in den vielen Lebensjahren davor entstanden waren.

Abb. 9: "Blick auf den Revekol", 1929 (Mur) - Vermutlich über das feuchte Ufergebiet des Garder Sees bei Rowe hinweg gesehen

Wir lesen auch (Wiki):

Der Maler Max Pechstein verbrachte von 1927 bis 1944 jeden Sommer in Rowe und traf sich hier auch mit vielen Künstlern. 

Unter anderem mit Schmidt-Rottluff (6-9). Und (Wiki):

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Garder See von Künstlern als malerisches Motiv entdeckt. Der Maler Max Pechstein hielt sich ab 1922/23 wiederholt in Rowe auf und machte auch den Garder See zum Gegenstand seines Schaffens. Sein Gemälde „Morgensonne“ (1929) zeigt den Garder See mit Fischerbooten, im Hintergrund den Revekol. Für das Heft „Garder See“ der Zeitschrift Unser Pommerland steuerte er 1931 eine Zeichnung bei, die einen Reusensteller auf dem Garder See zeigt. Der pommersche Heimatdichter Klaus Granzow beschreibt in seiner Erzählung "Der Tanz auf dem Gardersee" eine Begebenheit, die sich im März 1945 zugetragen haben soll: Während die Front zwischen der deutschen und der sowjetischen Armee mitten durch den zugefrorenen Garder See verlief, habe eine deutsche Frau auf Schlittschuhen auf dem Eis getanzt. Der Maler Max Pechstein habe diese Szene auf Verlangen eines sowjetischen Offiziers gemalt. 

Ob diese Erzählung wirklich etwas mir der Realität des Jahres 1945 in Pommern zu tun hat? Uns erscheint das sehr zweifelhaft. Wer sollte in jenen Schreckenswochen und -monaten wohl die Lust aufgebracht haben, Schlittschuhe zu laufen?

Abb. 10: "Seewinkel", Garder See, 1929, Aquarell (vanHam)

Zu dem Gemälde "Pommersche Fischerkaten" von 1927 lesen wir (Koller):

 "... aber was ist das gegen meine Arbeitswut im geliebten Pommern, ich komme nicht darüber hinweg, das unverfälschte Leben in unverfälschter Natur fehlt mir. Ich zapple hin und wieder sehr, und sehne mich unentwegt danach, und hoffe doch, es noch einmal zu erleben, einmal wieder hinauffahren zu können..." (zit. Zeit für Kultur und Geschichte, Heft 4/2007, S. 30). (...) Seit 1921 reist er regelmäßig nach Pommern, um dort einige Monate fernab der hektischen Großstadt Berlin zu verbringen. Gleich im ersten Jahr lernt er in Leba seine zweite Frau Marta Möller kennen. Bis 1927 hält er sich, vornehmlich in den Sommermonaten, regelmäßig in Leba auf, erkundet aber auch die Umgebung. (...) Auf diesen Wanderungen stößt er dann 1927 auf das Fischerdorf Rowe, das nur durch eine Düne von der Ostsee getrennt ist, aber durch seine Lage am Garder See schwer zu erreichen ist. Die kommenden Jahre verbringt er seine Aufenthalte in Pommern überwiegend dort. Aber wie schon zuvor in Leba zieht er sich gegen 1933 auch aus Rowe zurück, da die naturbelassene Idylle durch den zunehmenden Tourismus zerstört wird. Typisch für das kleine Fischerdorf Rowe sind die zahlreichen alten, mit Schilf bedeckten Fischerkaten, die auch in dem vorliegenden Werk dargestellt sind. Rechts und links von einem kleinen Weg stehen die Fischerkaten mit weißen Fassaden und den grün-bräunlichen Schilfdächern. Weiße Wolken ziehen über sie hinweg, lassen aber die Sonne doch durchscheinen. Eindrücklich spielt Pechstein hier mit Licht und Schatten. Etwas verloren, im Vordergrund des Bildes, kommt ein kleiner Junge den Weg entlang gelaufen. Die Auseinandersetzung mit dem "Primitiven" hat immer eine besondere Rolle für die Expressionisten gespielt. Dabei wenden sie ihren Blick aber nicht nur auf fremde Kulturen, sondern auch auf die raue, noch sehr ursprüngliche Lebensweise auf dem Land, fernab der Großstadt. Anders als noch im 19. Jahrhundert suchen die Expressionisten das natürliche und idyllische Leben und finden es in den "Primitiven". Natürlich stellen diese Motive zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Affront dar, denn die Darstellung vom oftmals sehr einfachen und ärmlichen Leben auf dem Land ist bis dato nicht Gegenstand der anerkannten Bildenden Kunst gewesen. Pechstein selbst nimmt Teil an diesem Leben und scheint große Inspiration aus dem einfachen Leben zu ziehen.

Der 115 Meter hohe Revekol (Wiki) liegt zwischen dem Garder See und dem Lebasee.

1929

Im Nordosten des Berges liegt das Dorf Schmolsin (Smołdzino), im Südwesten des Berges das Dorf Groß Garde (Gardna Wielka). Im Osten und Norden wird der Berg von dem Fluß Lupow (Łupawa) umflossen, der selbst, und dessen an ihm lebende Menschen auch mehrfach Gegenstand von Gemälden und Zeichnungen von Max Pechstein geworden sind.

Abb. 11: "Getreideernte", 1930 (KuF) - Im Hintergrund der Revekol, Blick aus der Gegend südlich des Garder Sees nach Osten

Der Revekol gehört zu einem der drei "Heiligen Berge" der Pommern. Jahrhunderte lang war er ein Wahrzeichen für die Ostsee-Schiffahrt. Von ihm aus hat man noch heute einen herrlichen Ausblick auf die Dünenlandschaft der Ostseeküste im Norden, auf den Leba- und den Garder See davor, ebenso wie auf das Landesinnere im Süden. Im Internet ist eine begeisterte Schilderung dieses Berges und seiner Geschichte aus den 1930er Jahren frei verfügbar, dank des Mittelpommerschen Landesmuseums in Stolp (5).

1930

Der Berg im Hintergrund auf dem Gemälde "Getreideernte" von 1930 dürfte ebenfalls der Revekol sein (Abb. 11).

1933

.

Abb. 12: "Wanderer in den Dünen", 1933 (Mutualart) - Blick von der Lontzke-Düne aus auf die Ostsee

Das Werk "Wanderer in den Dünen" von 1933 dürfte wieder in der Lontzke-Düne bei Leba entstanden sein (Abb. 12).

1934

.

Abb. 13: "Sonnenuntergang in den Dünen bei Schmolsien", 1934, Gouache und Aquarell (Lemperz) - Blick Richtung Westen über den bekannten Leuchtturm hinweg

In dem Werk "Sonnenuntergang in den Dünen", das in den Dünen bei Schmolsien entstanden ist, ist offenbar ein Blick nach Westen Richtung des dort bekannten Leuchtturms und über den Garder See hinweg eingefangen.

Abb. 14: "Toter Wald vor Revekol", 1934, Aquarell und Gouache (Artnet) - Blick über Garder (oder Leba-)See hinweg

In dem Werk "Toter Wald vor Revekol" von 1934 ist ein Blick offenbar von der Lontzke-Düne Richtung Revekol erfaßt (Abb. 14).

1940

.

Abb. 15: Kutter im Mühlengraben in Leba, 1940 (Lsr)

Im Jahr 1940 entsteht ein unbeschwertes Werk in Leba (Abb. 15).

1941

.

Abb. 16: Verziehendes Gewitter, 1941 (Lsr)

Das Gemälde "Verziehendes Gewitter" von 1941 könnte im Landesinneren von Pommern entstanden sein, vielleicht im Blauen Ländchen.

Wie Max und Marta Pechstein die Jahre des Zweiten Weltkrieges erlebt haben, wäre an dieser Stelle ebenfalls nachzutragen, insbesondere auch wie sie die Zeit von März bis September 1945 in Pommern erlebt haben. Am 30. September 1945 jedenfalls sind sie wieder in ihrem Haus in Berlin (10; Min. 53:30).

Abb. 17: Garder See und Leba-See in Pommern (Heimat-Karte von 1930, größerer Ausschnitt) (Stolp.de)

Dieser Beitrag soll nach und nach noch ergänzt und vervollständigt werden.

_____________

  1. Lebendes Wasser .... auf Spurensuche. Deutsch-polnischer Fotoworkshop in Holzkathen (Smołdziński Las) an der Pommerschen Ostseeküste, 2014. Projektleitung: Direktorin Heide Schumann vom ZffA gGmbH, Zentrum für fotografische Ausbildung, Berlin (pdf)
  2. Pechtstein, Max: Erinnerungen, 1960 
  3. Dorow, Ulrich (geb. 1932): Leba  im "Blauen Ländchen“, 1357-1945. Hrsg. von Irena Elsner Elsir Verlag, Amberg 2016
  4. Höll, Andreas: Kunstsammlungen Zwickau zeigen Max Pechstein als Fotografen, 2022, https://www.mdr.de/kultur/ausstellungen/zwickau-kunstsammlungen-max-pechstein-als-fotograf-100.html
  5. Witt, Walter: Der Revekol und seine Umgebung in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Stolp i. Pommern o.J. [1934?], http://bibliotekacyfrowa.eu/dlibra/doccontent?id=38235
  6. Zwei Männer - ein Meer - Pechstein und Schmidt-Rottluff an der Ostsee. Ausstellung im Pommerschen Landesmuseum Greifswald 2015
  7. Jürgen Koller: Die Ostsee, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff - Eine Ausstellung im Pommerschen Landesmuseum. Musenblätter, 2015, https://www.musenblaetter.de/artikel.php?aid=16186
  8. Andrzej Czarnik: Pomorskie plenery Maxa Pechsteina, 2003, Seite 159
  9. Lawrenz, Manfred: Erinnerungen an das Ostseebad Leba in Pommern. 2003, https://lawrenz.homepage.t-online.de/index.htm
  10. Hauke, Wilfried: Max Pechstein - Geschichte eines Malers, MDR Dokumentation 2020, https://youtu.be/o3f8SbGU_4c.

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