Abb. 1: Lutherporträt im vormaligen Wohnhaus Luthers in Wittenberg |
Daß man Königsberg besuchen müßte, um Immanuel Kant nahe zu kommen oder Thorn und Frauenburg um Nikolaus Kopernikus' willen, das ist heute den Menschen in Deutschland nicht mehr so bewußt wie vor 1945. Ähnliches wird von Breslau oder Prag zu sagen sein.
Es gibt aber noch so die eine oder andere weitere deutsche Stadt, an die man sich erst heftig erinnern muß, um sich geschichtlich längst in den Hintergrund Getretenes wieder bewußt zu machen. Dies gilt auch für die deutsche Stadt Wittenberg an der Elbe. Die Stadt der Reformation. Die Stadt Martin Luthers. Am Eingang dieses Beitrages ein Gemälde, das heute im Wohnhaus von Martin Luther im ehemaligen Augustinerkloster in Wittenberg hängt.
"Für meine Deutschen bin ich geboren und diene ihnen auch."
Das sagte Martin Luther. Und eine Tagung versucht "Der Deutschen Luther" an diesem Wochenende - aus Anlaß des Reformationstages - auch in Wittenberg wieder einmal auf den Grund zu gehen. Abgesandte Vertreter der "christlichen Weltgemeinschaft" weltweit nehmen an dieser Tagung teil. Für sie bedeutet Wittenberg noch etwas. Aber für uns Deutsche selbst?
Wittenberg ist eine übersichtliche Stadt. Sie ist viel schneller zu durchwandern als etwa Rothenburg ob der Tauber. Aber an jeder Straßenecke wird man - im Gegensatz zu Rothenburg ob der Tauber - daran erinnert, daß man sich hier in einer Stadt befindet, in der Weltgeschichte gemacht worden ist. Von einem einfachen Augustinermönch. Hier einige, fast nur willkürliche Beispiele:
Der bedeutende italienische Philosoph Giordano Bruno kam nach Wittenberg und rühmte die deutsche Wissenschaft und Gelehrsamkeit. Hier in Wittenberg würde also ein Giordano Bruno-Denkmal hingehören, nicht an den Potsdamer Platz in Berlin (s. St. gen.), wo Giordano Bruno nie gewesen ist, weil von einem "Gelehrtenruhm" der Stadt Berlin vor 1600 noch niemandem etwas bekannt war.
Der spanische Kaiser Karl V., der russische Zar und der französische Kaiser Napoleon waren in Wittenberg. Sie alle kamen, um Luthers Grab in der Schloßkirche zu besuchen - an dem einen Ende der Stadt - und Luthers Wohnhaus im großen, ehemaligen Augustinerkloster am anderen Ende. Beide eine Viertelstunde Gehweg durch die Hauptstraße der Stadt voneinander entfernt. Herzog Alba riet seinem Kaiser Karl während ihres Besuches (im Schmalkaldischen Krieg), die Gebeine Luthers auszugraben und sie wegen Ketzerei zu verbrennen. Karl V. ging - vielleicht ein wenig wehmütig gestimmt? - auf diesen Vorschlag nicht ein.
Doch zeigt dieser Vorschlag zum anderen, daß nicht alle Besucher Wittenbergs immer und jeder Zeit freundlichen Sinnes in diese Stadt gekommen sind. Wittenberg steht für "das Rom des Nordens", steht für Konkurrenz, steht für Ketzertum.
Und in der Tat: Wenn man heute vom Bahnhof kommt, stößt man schon vor dem Stadttor auf die Eiche, die an den Ort erinnert, an dem Martin Luther 1520 die Bannandrohungsbulle des römischen Papstes öffentlich verbrannte. Welch ein weltgeschichtlich bedeutsamer Ort! Was bedeutete es damals, eine Bulle des Papstes öffentlich zu verbrennen. Und was für weltgeschichtlich bedeutsame Ereignisse in einer äußerlich so unauffälligen deutschen Landstadt. Eine Stadt, die längst vergessen zu sein scheint im deutschen Kulturbewußtsein.
Heute war Reformationstag. Die Straßen und Plätze in Wittenberg sind an diesem Tag traditionell überfüllt. Seit der "Wende" ist Wittenberg wieder eine schöne Stadt geworden. Eine sehenswerte. Und da Wittenberg mit dem "Intercity" für einen Berliner nur eine halbe Stunde "vor der Stadt" liegt, haben auch wir uns einmal dorthin aufgemacht, um uns umzusehen an jenem Ort, dem Menschen wie Giordano Bruno oder Friedrich Schiller so große Hochachtung entgegen gebracht haben.
Abb. 3: Der Marktplatz in Wittenberg |
Der Tisch, an dem Martin Luther seine berühmten Tischreden geführt hat. Und an dem er seine Lieder gesungen hat. Der Tisch, an dem das kulturgeschichtlich so einflußreiche Phänomen des protestantischen Pfarrhauses begründet wurde. Wer hätte gedacht, daß das alles noch original erhalten ist im Lutherhaus in Wittenberg. Und so vieles andere mehr ist zu sehen in diesem ehemaligen Augustinerkloster und der dort eingerichteten Ausstellung "Martin Luther - Leben, Werk, Wirkung". Eigentlich hatte man sich das Wohnhaus von Luther auch viel kleiner, bescheidener vorgestellt.
Aber in den letzten Jahren ist dort die umfangreiche Wirtschaftsführung der Katharina von Bora museal in vorbildlicher Weise aufgearbeitet worden. Katharina von Bora, verheiratete Luther, kaufte sich nach und nach mit ihrer Wirtschaftsführung auf dem ehemaligen Augustinerkloster den größten Bauernhof Wittenbergs zusammen. Anhand der jüngst getätigten Ausgrabungen rund um das Arbeitszimmer Martin Luthers an der Stadtmauer und die dort ebenfalls befindliche Latrine hat man mancherlei neue Erkenntnisse gewinnen können auch über das häusliche Leben im Hause Martin Luthers.
Neben vielem anderen - etwa einer riesigen Bibliothek von Erstdrucken aller Schriften Martin Luthers - sind in der Ausstellung auch die Totenmasken von Martin Luther zu sehen. Zusammen mit einer Schrift der völkischen Hintergrundpolitik-Kritikerin Mathilde Ludendorff, die in den 1930er Jahren viel Wirbel verursacht hat: "Der ungesühnte Frevel an Luther, Lessing, Mozart und Schiller - Ein Beitrag zur Deutschen Kulturgeschichte" (1). (In diesem wurde die These vertreten, daß Martin Luther durch Okkultlogen, zum Beispiel dem Rosenkreuzer-Orden, ermordet worden ist.) Aber auch sonst werden viele Zeugnisse aus der 500-jährigen Geschichte des deutschen Luther-Gedenkens gezeigt. Diesen ist auch das eingangs gebrachte Luther-Porträt entnommen.
2017 ist der 500. Jahrestag des Anschlags der 99 Thesen an die Schloßkirche von Wittenberg, des Beginns der Reformation in Deutschland und Europa. Und damit des Beginns der Neuzeit. Auch Deutschland könnte sich seines großen Reformators häufiger erinnern, als das gewöhnlicherweise getan wird.
Protestantische Ethik
In den letzten Jahren ist ja auch plausibel nahegelegt worden, daß die reformatorische Grundeinsicht von Martin Luther und damit die weltgeschichtlich einflußreiche protestantische Ethik (s. St. gen.) gar nicht auf der Bibel selbst beruht, sondern auf einer Bibelinterpretation durch Martin Luther, die mit der eigentlichen Bibel wenig zu tun hat (St. gen.). Damit hat Martin Luther die Deutschen und die Welt der Sache nach und im Kern von der Bibel weggeführt - nicht zu ihr hin. Das heißt: die angebliche "Gnadenlehre des Paulus" im Sinne des Protestantismus stammt gar nicht von Paulus (der ganz im jüdischen, ethnozentrischen Denken befangen war, auch dann, wenn er von "Gnade" sprach), sondern von: Martin Luther. Daß die Stadt Wittenberg heute in der deutschen Erinnerung das träumerische Dasein eines wenig bekannten Landstädtchens schläft, ist auch ein Ausdruck der Tatsache, daß sich die Deutschen viel zu wenig mit der Bibel beschäftigen und mit den vielen - falschen - Bibelübersetzungen ihres großen Deutschen Martin Luther.
Aus einer solchen Beschäftigung würde nämlich deutlich: Aus einer Welt voll Irrwahn hat sich der neuzeitliche Geist emporgerungen, nach und nach. Friedrich Hölderlin ahnte, daß die in der Neuzeit gewonnenen neuen revolutionären, philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und auch die daraus entspringenden neuzeitlichen Sprachschöpfungen "bald wie ein Hund umgehen werden in der Hitze auf den Gassen der Gärten", bevor die Menschen - "aus Zweifel und Ärgernis" - sich wieder zurück an die Gottheit wenden, an eine Gottheit, die immer schon anwesend war und immer anwesend sein wird, so nah auch immer sich die Menschen über Jahrhunderte hinweg am Abgrund des Irrwahns und der Gottleugnung entlang bewegen mögen:
Vom Abgrund nämlich_______________________________________
haben wir angefangen
und sind gegangen dem Leuen gleich,
in Zweifel und Ärgernis,
denn sinnlicher sind Menschen
im Brand der Wüste,
lichttrunken,
und der Tiergeist ruhet mit ihnen.
Bald aber wird, wie ein Hund,
umgehn in der Hitze meine Stimme
auf den Gassen der Gärten
In denen wohnen Menschen
In Frankreich ....
- Ludendorff, Mathilde: Der ungesühnte Frevel an Luther, Lessing, Mozart und Schiller. Ein Beitrag zur Deutschen Kulturgeschichte. Im Selbstverlag der Verfasserin (Fortschrittliche Buchhandlung), München 1928 (96 S.) (Scribd), 1929, Ludendorffs Volkswarte Verlag, München 1931, 1933 (156 S.), 1935, 1936 (212 S.) (52. - 55. Tsd.); Verlag für ganzheitliche Forschung, Viöl 1998, 2003
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