Mittwoch, 14. Oktober 2009

Wolfgang Harich: Der Geist ist ein Wühler ...

Das faszinierende und zugleich groteske Leben des bekennenden deutschen Kommunisten Wolfgang Harich (1923-1995)
Abb. 1: Wolfgang Harich

So wie er in seiner Jugend Frauen gegenüber ein "Hochstapler" gewesen ist (1, S. 92f), ein "Blender", um - immer wieder neue unter ihnen - für sich zu gewinnen - seit seinem siebten Lebensjahr gibt er vor, keinen einzigen Tag in seinem Leben nicht verliebt gewesen zu sein (5) - so scheint der deutsche, kommunistische Intellektuelle Wolfgang Harich (1923-1995) (Wiki) auch dem Kommunismus gegenüber über sein ganzes Leben hinweg ein "Hochstapler" geblieben zu sein. Er, der die DDR und ihre Nomenklatura 1956 reformieren wollte, indem er den Marxismus-Leninismus und seine Parteidoktrinen noch intelligenter, und das hieß bei ihm: noch "hochstaplerischer", offensiver auslegte, als das irgend ein anderer Kommunist seiner Zeit tun konnte oder wagte, er, der sich dabei über sein ganzes Leben hinwe gnaiver stellte, als er es überhaupt hätte tun brauchen.

Aber auch naiv verhalten sich mitunter intelligente, vergeistigte Männer Frauen gegenüber. Warum also nicht auch einmal dem Kommunismus und seiner Nomenklatura gegenüber, wenn man einmal in solche Verrücktheiten hineingeraten ist durch etwaige einschneidendere Prägungen in frühreifer Jugend?

In jedem Fall: Was für ein verwegenes, hochstaplerisches Leben und Denken - das Leben und Denken des deutschen Kommunisten Wolfgang Harich.

Die Ausbreitung des Kommunismus in Europa 1945

Die Ausbreitung des Kommunismus bis nach Mitteleuropa, bis in die Mitte Deutschlands hinein, bis an die Elbe und eine damit einhergehende Zweiteilung Europas waren das Kriegsziel der westlichen Alliierten spätestens seit 1941, als von westalliierter Seite zu gleicher Zeit der unterschiedslose Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung immer größere Dimensionen annahm und noch bevor von der Ermordung der europäischen Juden etwas im Westen bekannt geworden war (2).

Abb. 2: Wolfgang Harich

Den Westalliierten war bewußt, daß mit der Tolerierung und Förderung der Ausbreitung des Kommunismus einem verbrecherischen Regime Vorschub geleistet würde, das verbrecherische Methoden anwendete gegenüber allen Menschen, die in seinem Herrschaftsbereich lebten oder die in diesen hineingeraten würden.

In der Geschichtswissenschaft gibt es bis heute auffallend wenig Auseinandersetzungen darüber, ob es zu dem Geschichtsverlauf der Ausbreitung des Kommunismus im Jahr 1945 nach Mitteleuropa hinein realistische Alternativen gegeben hätte. Aber zum Teil wurde die Ausbreitung des Kommunismus nach Mitteleuropa von westlichen Politikern auch deshalb gefordert, weil die eigenen westalliierten Truppen nicht so rücksichtslos und erbarmungslos gegen die Zivilbevölkerung würden vorgehen können, wie man das von den sowjetischen Truppen erwartete, die auch nicht der öffentlichen Kontrolle unterlagen (2).

Denn die eigenen Truppen würden von Journalisten begleitet und würden Rücksicht nehmen müssen auf die öffentliche Meinung im Westen (so der amerikanische Kriegsminister Simpson und viele andere) (2). Solche und viele andere Erwägungen zeigen auf, daß man ab einem bestimmten Zeitpunkt, in maßgebenden Kreisen seit 1941, gar nicht mehr ernsthaft über Alternativen zu dem schon 1941 "vorausgesehenen" und dann auch eingetretenen Kriegsende von 1945 nachdachte, sondern genau dieses Kriegsende für das Wünschenswerteste hielt, das der Welt überhaupt passieren könne.

Man kann also sagen, daß der "Eiserne Vorhang", der nach dem 8. Mai 1945 östlich der Elbe niederging, letztlich vom Westen mit eingeplant gewesen und von diesem bewußt vorausgesehen worden war. Nicht anders war ja auch die berühmte und so tief menschen- und kulturverachtende "Westverschiebung Polens" zu bewerkstelligen und all die ungeheuerlichen Verbrechen, die damit verbunden waren.

Bewußt wurden auch alle Verbindungen zu Widerstandsgruppen innerhalb Deutschlands von Seiten des Westens zurückgewiesen oder auffallend lauwarm gepflegt. Stattdessen wurde die Forderung nach der bedingungslosen Kapitualtion Deutschlands gegenüber allen vier gegnerischen Mächten - unter Einschluß der Sowjetunion - gestellt. Damit war der Möglichkeit eines "Separatfriedens" im Westen der Boden entzogen.

Damit der unberechenbare, mißtrauische Stalin nicht seinerseits einen Seperatfrieden mit Deutschland schließen würde, konnte man die ganze Kriegszeit über mit dem gefangen genommenen Rudolf Heß "wohldosiert" Drohungen ausüben, nämlich daß man im Falle eines Falles mit ihm schneller zu einem Seperatfrieden mit Deutschland kommen würde, als Stalin seinerseits mit Deutschland.

1955 wurde dem vormaligen britischen Kriegspremier Winston Churchill der "Karlspreis" der deutschen Stadt Aachen verliehen. Winston Churchill war es Jahrzehnte lang gelungen, die Geschichtsfälschung zu verbreiten, er hätte - erfolglos - eine alliierte Landung auf dem Balkan angestrebt, um der Sowjetunion in Osteuropa zuvorzukommen. Daß er dies niemals ernsthaft angestrebt hat, ist schon vor mehreren Jahrzehnten von der Geschichtswissenschaft aufgedeckt worden (2) Von dieser Tatsache hat sich aber das geschichtliche Bewußtsein seither niemals beeinflussen lassen.

Mit unserem Geschichtsbewußtsein denken wir deshalb was die Ausbreitung des Kommunismus betrifft heute immer noch in den Schienen der Denkmuster des Kalten Krieges. An eine Mitverantwortung des Westens wird so gut wie nie erinnert.

Welche Folgen hat die Ausbreitung des Kommunismus?

Aber wie haben sich Menschen im zweigeteilten Deutschland und Europa innerhalb der letzten 50 Jahre - und auch heute noch - in dieser soeben geschilderten, fast alternativlosen, zubetonierten, starr festgelegten geschichtlichen Situation, auf die sie selbst kaum Einfluß nehmen konnten, zurechtgefunden? Wie haben sie gehandelt? Welche Langzeitwirkungen an seelischen Abründen, Boshaftigkeiten, Verwüstungen waren die Folgen a) des Nationalsozialismus, b) der Ausbreitung des Kommunismus, der c) erbarmungslos durch die Kriegszielpolitik der Westalliierten gefördert worden war?

Menschen wie Rudi Dutschke lehnten sich gegen die Zweiteilung Deutschlands und Europas auf. Menschen wie Heinrich George starben in sowjetischen "Speziallagern". Menschen wie Walther von Seydlitz, deutscher General in Stalingrad, schlossen sich dem Nationalkommitee Freies Deutschland an und unterstützten den Kommunismus. Wolfgang Harich ist in Neuruppin aufgewachsen in einer Villa auf der anderen Seite des Sees. Menschen wie er genossen während der Jahre des Zweiten Weltkrieges zum einen Teil das süße Leben in der Heimat und durchlebten zum anderen Teil "Schweijk-mäßige" Odyseen als sich vor dem Kriegsdienst drückende Wehrmachtsangehörige. Und sie wurden - noch während des Krieges - Kommunisten. Und sie blieben es bis an das Ende ihres Lebens.

Andere Menschen "warteten auf Antwort" ein Leben lang (9). Wiederum andere Menschen lehnten sich gegen das System auf. Roland Garve, Jürgen Fuchs und viele andere DDR-Dissidenten, prominente Opfer der Stasi, Inhaftierte in Hohenschönhausen. Tausende, Millionen von Schicksalen.

Der eine oder andere von ihnen - wie etwa Wolfgang Harich - bewahrten sich, obwohl sie fast durchgängig während ihres Lebens eher auf Seiten der Täter als auf Seiten der Opfer standen, auf dem einen oder anderen Gebiet ihres Denkens und Handelns eine innerseelische - und zum Teil auch äußere Freiheit -, wie dies der Mehrheit ihrer Mitmenschen - und zumal in der Nomenklatura der DDR - noch nicht einmal einen Fingerbreit gelang. Dies war allerdings - allzu oft - nur unter persönlichen Opfern zu erkaufen. Wolfgang Harich saß dafür, daß er sich 1956 in der DDR in "hochstaplerischer" Weise zu viele "Freiheiten" herausgenommen hatte, acht Jahre in Einzelhaft in Bautzen.

Der Kommunist und Schöngeist, der feurige Liebhaber

Abb. 3: Wolfg. Harich
Wolfgang Harich. Der Kommunist und Schöngeist, der feurige Liebhaber vieler Frauen, der fast stolz darauf war, daß seine Ehefrau eine der Geliebten von Bertold Brecht war, der DDR-Dissident und Stalinist, der acht Jahre lang in Bautzen in Einzelhaft einsaß, weil er 1956 - während des ungarischen Aufstandes - die Absetzung Walter Ulbrichts und die Wiedervereinigung Deutschlands auf sozialistisch-demokratischer Grundlage gefordert hatte.

Er, der von seinen Unterdrückern in der DDR verachtet wurde, weil er sich nach seiner Haft dennoch wieder anbiederte an sie, der noch in den späten 1980er Jahren ein staatliches Verbot aller Bücher Friedrich Nietzsches in der DDR forderte, worüber sogar die verhärtetsten Parteibonzen der Nomenklatura nur noch mit dem Kopf schütteln konnten, und der um solcher und anderer Haltungen hinwiederum von anderen DDR-Dissidenten ebenfalls verachtet wurde. Dessen Ruf schlecht gemacht wurde auch in den Augen vieler westlicher Sympathisanten, da er sich an das System anbiederte in einer Weise, in der es damals zumeist noch nicht einmal mehr die verhärtetsten Stalinisten taten. Und dessen Parteilinien-programmatische Gespräche über die Einbeziehung der Philosophen Nicolai Hartmann und Geroge Lukacsz in die philosophische Programmatik des von der DDR vertretenen Marxismus-Leninismus in den Jahren 2000 und 2004 posthum im angesehenen westdeutschen Verlag Königshausen und Neumann veröffentlicht worden sind. Hartmann war der Hochschullehrer Wolfgang Harichs während des Zweiten Weltkrieges in Berlin gewesen. Deshalb sind diese Bücher Hartmann's auch ein wichtiger Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des Philosophen Nicolai Hartmann.

Was war Harich für ein merkwürdiger Mensch?

Mußte man so "schwierig" gestrickt sein in seiner eigenen Charakterlage, wenn man sich - wenigstens - Inseln von seelischer Lebendigkeit in einem solchen System wie dem der DDR erhalten wollte? Daß sich Wolfgang Harich viele solcher Inseln seelischer Lebendigkeit erhalten konnte, davon zeugen die Lebenserinnerungen seiner letzten Frau, einer "unstudierten" Krankenschwester. Vor zwei Jahren sind diese lesenwerten Lebenserinnerungen erschienen (1). Und indem wir zufällig auf diese stoßen und uns in ihnen festlesen, werden wir hinein gezogen in dieses Leben.

Wolfgang Harich, Philosoph und Literaturwissenschaftler

Durch ihr Buch lernt man viele Interesse weckende Seiten der Persönlichkeit von Wolfgang Harich kennen. Was scheibt Harich etwa über Heinrich Heine? Heinrich Heines Schrift "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" würde von den "bürgerlichen" Historikern der Philosophie nicht genügend gewürdigt (1, S. 71):

Tatsächlich handelt es sich hier aber um den ersten Versuch, die historisch-gesellschaftliche Funktion der klassischen deutschen Philosophie von Leibnitz bis Hegel zu erfassen, ihren revolutionären Kern herauszuarbeiten und gleichzeitig ihre philisterhaften Seiten, ihre Abhängigkeit von der deutschen Misere, ihre idealistische Verschrobenheit zu kritisieren.
Abb. 4: Harich

Gut gebrüllt, Löwe. Dem muß man zustimmen. Harich versteht es auch, wenn Leser ungeduldig und wütend werden auf den deutschen Schriftsteller Jean Paul, den er im letzten Jahr seiner Haftzeit in Bautzen lieb gewonnen hatte (1, S. 44):

... weil sie seine übermütigen, albernen, ausschweifenden Phantasien, die in groteske Metaphern münden, nicht verstehen und mit ihnen nicht zurechtkommen. Und wenn ich (Anne Harich) ihn (Wolfgang Harich) frage: Hat er dich auch manchmal genervt?, dann sagt er: Ja, na selbstverständlich, Jean Paul kann furchtbar sein, Jean Paul läßt sich nicht schnell lesen, der zwingt einen, seine Mitteilungen genau zu verfolgen, man muß sich mit ihm beschäftigen, er verlangt einem Zeit ab, und er verlangt Mitdenken; aber dann, hat man sich erst einmal durchgebissen, dann ist es etwas Herrliches. Die Jean Paulschen Charaktere bleiben einem unvergeßlich, und man begegnet ihnen überall. Er lehrt einen das Beobachten, das Näherhinsehen. Katzenberger, der nur sein wissenschaftliches Ziel sieht, und Nies, der eitle Schriftsteller, werden in unseren Unterhaltungen zu feststehenden Begriffen und Vorstellungen, wenn es darum geht, jemanden mit einem Wort zu charakterisieren.

Über Jean Paul schreibt Harich 1965 in einem Brief (1, S. 298f):

Ich kann heute ohne Übertreibung sagen, daß ich dem Jean-Paul-Studium in meinem letzten Haftjahr eines der herrlichsten Bildungserlebnisse meines ganzen bisherigen Lebens verdanke. (...) Diese 'heroischen Romane' Jean Pauls, die im Zeichen der Französischen Revolution das edle Pathos des 'Werther' und des 'Hyperion' mit grandiosem Humor und sieghaftem Optimismus verbinden.

Harich hat nach eigener Aussage in seinem umfangreichen Werk über Jean Paul den "heroischen Romanen" dieses deutschen Schriftstellers eine neue literaturgeschichtliche Deutung gegeben. Anne Harich berichtet auch das folgende (1, S. 43):

Wissend um meine Vorliebe für die russische Literatur, fragt er (Harich) mich, ob ich den "Oblomow" kenne. Ich kannte ihn nicht. Oh, raunte er, das ist etwas Wunderbares, den solltest du kennenlernen! Soll ich dir daraus etwas vorlesen? Ich sage ja, und durch Harich erfahre ich "Oblomows Traum", und er stimmt mich ein auf einen der schönsten und ergreifendsten Romane. Ich lese und bin ganz für Oblomow, und ich lege das Buch erst beiseite, als es zu Ende ist. Und Harich genießt meinen Genuß und meine Freude an und meinen Kummer um Oblomow, und wir reden die ganzen neun Jahre über Oblomow, über Sachar, über Stolz und über Olga, über die Liebe und über uns, und wir liegen auf dem Sofa und oblomowieren, das heißt: Wir liegen rum und machen gar nichts, oder wir lesen oder reden miteinander oder hören Musik.
Abb. 5: Wolfgang Harich

Im April 1946 schrieb Harich in einem Brief an einen Kollegen (1, S. 81f):

Dabei wäre es unsere Aufgabe, eine linksradikale Einheitsfront des Proletariats zu schaffen, die den revolutionären Bolschewismus und die eherne Konsequenz des Marxismus-Leninismus mit dem fairen, freiheitlichen Geist der westlichen Demokratie zu einer höheren Synthese aussöhnt.

Ein groteskes Leben im Jean Paul'schen Sinne?

Von solch einer fast schon Jean Paul'schen "Groteske" in der Zielsetzung läßt er sich sein Leben lang leiten und muß damit scheitern. Aber da es eben Jean Paul-mäßig grotesk ist, bleibt eine Spur von Faszination, wenn ein im einstigen deutschen Großbürgerum Neuruppins aufgewachsener, frühreifer Mensch, ein früherer, lebhafter und lebendiger Briefpartner einer solchen liberal-konservativen Schriftstellerin wie Ina Seidel (1, S. 94-113) schon kurz nach dem Krieg - 1946 - von der "ehernen Konsequenz des Marxismus-Leininismus" spricht. Und wenn ein solcher aus dem unfreiheitlichen Geist dieser "ehernen Konsequenz" noch in den späten 1980er Jahren ein Verbot sämtlicher Bücher Friedrich Nietzsches in der DDR fordert. Wir grotesk. Wie "fair" sollte das alles denn eigentlich sein?

Zu seinen Plänen von 1956 äußerte sich Harich auch in einem kurzen Video, das ins Netz gestellt wurde und einen Video-Eindruck von der Person Wolfgang Harich gibt. (2019: Zur Zeit nicht mehr zugänglich.)

Und wie grotesk, wenn Harich auf dieser Linie der Stasi 1956 "ironisch" - wie er im Nachhinein rechtfertigend sagt - "dankt" dafür, daß sie ihn rechtzeitig festgenommen habe, bevor er der Todesstrafe würdige Dinge getan hätte (siehe auch --> MDR). Und wenn er sein Leben lang an den Jahrestagen des ungarischen Aufstandes schwer depressiv wird (1, S. 147). Und zwar offensichtlich nicht, weil er traurig über den erfolglosen Verlauf desselben ist, sondern weil er es bereut, damals so gehandelt zu haben, wie er gehandelt hat. Nämlich als Freigeist. Als er 1952 eine Tochter bekommt, schreibt er fröhlich an einen Kollegen (1, S. 87):

Wir haben sie Katharina genannt, erstens ist das ein Name, mit dem man überallhin emigrieren kann, ohne Anstoß zu erregen: Jekaterina, Cathrean, Caterine. Zweitens kann man den Namen je nach Entwicklung modeln: Wird sie ein Hausmütterchen, nennt sie sich Käthe oder Käti, wird sie ein Vamp - Katja oder Katinka, wird sie eine Bardame - Kat oder Kath, wird sie kunstgewerblich mit Bastmatten an der Wand und gedrechselten Holzknöpfen an der Bluse - Kattrin. Außerdem je nach Vogel: Kathrin, Catharina, Katrina, Catarina, Catrina usw. Man kann sie auch "Trine" schimpfen, falls sie sich als Schlampe entpuppt. Kurz: Es ist alles drin.

Auch bei Harich war wohl immer - - - "alles drin" - außer daß er bis zum Ende seines Lebens davon abweichen würde, daß es eine "eherne Konsequenz des Marxismus-Leninismus" gäbe. Anne Harich schreibt über ihren Mann:

Abb. 6: Wolfgang Harich
Sein Vorhaben war ein gesellschaftliches, das bestimmte sein Dasein, und das war mir fremd, daß einer hauptsächlich für ein gesellschaftliches Vorhaben lebte. (...) Er hatte etwas, das wenige Menschen besitzen: Er hatte ein Ziel im Leben.
1975 schreibt Wolfgang Harich anläßlich des 90. Geburtstages des marxistischen Philosophen Ernst Bloch an diesen (2, S. 306):
Lieber Ernst, in der Hölle, Abteilung Kommunisten, warten Brecht, Eisler und Lukacs vorwurfsvoll auf Dich. Ihnen unter die Augen zu treten, möge Gott, milder gestimmt dank Thomas Münzers Fürsprache, Dir noch lange ersparen. Für mich bleibt die Trennung von Dir ein chronisches Leiden, verschlimmert durch häufiges Lesen Deiner Bücher, gemildert durch den Zorn über Dein Weggehen aus Gegenden, die ohne Dich ärmer sind, als sie sein müßten. ...

Welche Rolle spielte die Stasi?

Welche Rolle die Stasi und vielerlei sonstige bewußte oder unbewußt geführte Intrigen gespielt haben mögen bezüglich des Umstandes,

  • daß sich Wolfgang Harich und Rudi Dutschke nie in ihrem Leben begegnet sind, schon gar nicht zusammen bei George Lukacz zu Besuch waren, 
  • daß Wolfgang Harich nach 1956 niemals mehr sein großes Vorbild Georg Lukacz sprechen konnte, ebensowenig seinen Freund Ernst Bloch, und 
  • daß Wolfgang Harich in der westdeutschen Umweltschutzbewegung der frühen 1980er Jahre nicht festen Fuß hat fassen können, worum er sich so sehr bemühte in Enttäuschung und Abwendung von der DDR-Nomenklatura und ihrer Haltung gegenüber der Umweltschutzbewegung, und 
  • daß Wolfgang Harich im Oktorber 1989, kurz vor der Maueröffnung, geradezu "synchronisiert" der öffentliche Ruf auch und gerade innerhalb der Reihen der DDR-Regimegegner neuerlich schwer geschädigt worden ist (1, S. 386-393), 

all das ist - offensichtlich - bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Aber die Masche scheint auch hier zu durchsichtig: Letztlich war eben Wolfgang Harich ein unberechenbarer, für die - Vereinigten Geheimdieste aller Länder - gefährlicher, weil viel zu intelligenter, geistreicher, selbständiger Denker. Er durfte niemals mehr zu Einfluß kommen. Er hätte ja die Leute zu allzu ernsthaftem Nachdenken bringen können, sie auch durch sein gar zu groteskes Leben, das ebenso Mitleid erregen kann wie das eines gar zu intelligenten Clowns, zu stark emotional bewegen können ...

Und auch deshalb darf man es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht wirklich wagen, ein abschließendes Urteil über Wolfgang Harich als Gesamterscheinung zu fällen. Darum ist ein vollständig schlüssiges und abgerundetes Lebensbild Wolfgang Harichs, das seinem Handeln voll gerecht werden würde, wohl heute noch gar nicht möglich. - Wird an ihm deutlich, was für "groteske" Persönlichkeitsstrukturen man aufweisen mußte, wenn man innerhalb der DDR geistige Selbstständigkeit, ja Lebendigkeit bewahren wollte? Ist er womöglich das Beste, was die DDR auf dem Gebiet seelischer Lebendigkeit, Geistigkeit überhaupt noch hatte hervorbringen können? Auf diesem Friedhof von Millionen Menschenseelen? Diese Faszination an dem kombinierten "Hochstaplertum" von Intelligenz, Geistigkeit und grenzenloser kindlicher Naivität, die bleibt. Und von ihnen darf auch ein wenig geredet werden, wenn das Gespräch auf die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rede kommt.

"Der Geist ist ein Wühler," sagte Jacob Burckhardt. Und er wühlt nicht gar zu selten auf unerwartete und darum kaum vorhersehbare Weise. Und dadurch wird der Geist - fast - wieder zu einem Stück Natur: Unbändig, ungezähmt, niemals vollständig erfaßbar, niemals vollständig nachvollziehbar ....

/ Ergänzung, 27.1.2019: Einen recht guten Eindruck von dem facettenreichen und bunten, ja, verrückten politischen Denken, Leben und Handeln von Wolfgang Harich erhält man auch durch die Erzählungen von zwei Zeitgenossen, die Wolfgang Harich noch persönlich kannten, und die 2016 von Michael Voigt interviewt wurden, nämlich von seinem Biographen Siegfried Prokop und von Peter Feist (10). /

/ Ergänzung 23.12.2021: Der vorliegende Aufsatz wurde vor mehr als zehn Jahren veröffentlicht. Er genügt uns heute an keiner einzigen Stelle mehr. Er repräsentiert nicht mehr das, was uns heute an geistigen Inhalten wichtig wäre. Heute hätten wir ganz andere Fragen an diese Biographie, uns wären womöglich noch ganz andere Dinge hervorhebenswert. Aber vielleicht kämen wir auch zu dem Urteil, daß wir die kulturgeschichtliche Bedeutung der Erscheinung Wolfgang Harich - dennoch - überbewertet hatten in diesem Aufsatz. Zwischenzeitlich hatten wir uns auch selbst "den Oblomow" angeschafft (angeregt durch die Lektüre von Anne Harich). Aber so richtig Festlesen gelang uns nie. Womöglich hätte man in den 1980er Jahren in der DDR leben müssen, um zu diesem Buch einen besseren Zugang zu finden. /

 

/ erarbeitet im Wesentlichen bis 26.7.09 
leicht überarbeitet 23.12.2021 /  
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Literatur:
  1. Harich, Anne: "Wenn ich das gewußt hätte ..." Erinnerungen an Wolfgang Harich. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2007
  2. Bading, Ingo: Wie kam Stalin in die Mitte Europas? Kriegsziele der westlichen Demokratien seit 1941. Magisterarbeit an der Universität Mainz 1993, http://www.lulu.com/content/paperback-buch/wie-kam-stalin-in-die-mitte-europas---kriegsziele-der-westlichen-demokratien-seit-1941/1230965
  3. Harich, Wolfgang: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR. Dietz Verlag, Berlin 1993
  4. Prokop, Siegfried: Ich bin zu früh geboren. Auf den Spuren Wolfgang Harichs. Dietz, Berlin 1997
  5. Harich, Wolfgang: Ahnenpass. Versuch einer Autobiographie. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999
  6. Harich, Wolfgang: Nicolai Hartmann. Leben, Werk, Wirkung. Königshausen und Neumann, Würzburg 2000
  7. Prokop, Siegfried: Ein Streiter für Deutschland. Auseinandersetzung mit Wolfgang Harich 2002
  8. Harich, Wolfgang: Nicolai Hartmann - Größe und Grenzen. Versuch einer marxistischen Selbstverständigung. Königshausen und Neumann, Würzburg 2004
  9. Margret Bechler: Warten auf Antwort - Ein deutsches Schicksal. 1978 
  10. Siegfried Prokop & Philosoph Peter Feist: Wolfgang Harich – der vergessene deutsche Patriot. Quer-denken.tv Am 09.04.2016, https://youtu.be/1gD_bBJH9cI.

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