Montag, 27. Juli 2009

"Die Freiheit hat einen Ort in der Evolution"

Erste Ansätze zu einer "Naturgeschichte der Freiheit" von Seiten des Philosophen Volker Gerhardt

Wenn man sich mit der Arbeit der "Arbeitsgruppe Humanprojekt" bei der "Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften" (BBAW) beschäftigt, stößt man auf ein so spannendes wie grundlegendes Buch mit dem Titel "Naturgeschichte der Freiheit" (1)*). Der Buchtitel geht auf eine gleichbetitelte Vorlesungsreihe der BBAW aus dem Jahr 2007 zurück. 

Schon der Titel enthält so viele Implikationen! Wird hier etwa der Versuch gemacht - endlich der Versuch gemacht, eine konsequent naturalistische Erklärung menschlicher Willensfreiheit zu geben? Nachdem das naturwissenschaftsnahe ("naturalistische") Denken und Forschen heute so weit verbreitet unter Hirnforschern und darüber hinaus ist und so auffällig kurzsichtig gerade diese menschliche Willensfreiheit und damit letztlich die Existenz menschlicher Verantwortung überhaupt abstreitet?

Abb. 1: Volker Gerhardt (SPD), aufgenommen während eines Gespräches mit Olaf Scholz (SPD) (Welt, 02/2011)

Den Kern-Vortrag dieser Vorlesungsreihe, an der etwa auch Hirnforscher Gerhard Roth teilgenommen hat,  wurde von dem Vizepräsidenten der "Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften" gehalten. Das ist der Philosoph Volker Gerhardt (Wiki) (Abb. 1). In der Buchvorstellung erfährt man über diesen Vortrag das folgende:

Gelingt es, die Eigenständigkeit lebendiger Systeme in ihrer spezifischen Gesetzmäßigkeit genauer zu fassen, wäre es möglich, die Selbstorganisation des Lebendigen mit der Selbstbestimmung gesellschaftlich handelnder Personen zu parallelisieren. Nach den im Humanprojekt bereits im Herbst 2005 vorgetragenen Überlegungen von Volker Gerhardt ist es auf diesem Wege möglich, eine Annäherung biologischer und sozialer Beschreibungsverfahren zu erzielen. Gelingt dies, so kann man hoffen, daß sich die (sich stets in sozialer Selbstbestimmung äußernde) menschliche Freiheit als eine komplexe Form lebendigen Verhaltens ausweisen läßt. Damit hätte die Freiheit einen Ort in der Evolution des Lebens. Die Negation der Freiheit fiele dann mit der Negation des Lebendigen überhaupt zusammen, eine Konsequenz, die auch für Neurobiologen nicht ohne Folgen wäre.

"Damit hätte die Freiheit einen Ort in der Evolution des Lebens." - Also zielt der Vortrag offenbar auf eine rein naturwissenschaftliche Erklärung der Willensfreiheit hin. Von einem solchen Anliegen hat man in den letzten Jahren selten gehört. Der diesbezügliche Aufsatz findet sich frei zugänglich im Internet (1, Google Bücher).

Gleich zu Beginn stößt man auf recht kühn-gelassene Sätze über die Freiheit jener, die von ihrer eigenen Freiheit Gebrauch machen und die menschliche Willensfreiheit durch den Gebrauch ihrer eigenen Freiheit infrage stellen ... 

Humor ist also auch vorhanden. Das kann nur von Vorteil sein.

Ein Philosoph, der über Freiheitsgrade in der Evolution argumentiert - welch rarer Fall!

Gerhardt äußert den vordergründig zunächst paradoxen Satz, der einem aber zugleich viel Vertrauen in sein Räsonieren schenkt (1, S. 464):

Freiheit ist nur möglich, wo sich der Mensch auf die lückenlose Kausalität der Natur verlassen kann. (...) Der Mensch müßte an sich irre werden, wenn seine Kausalität aus Freiheit in Widerspruch zur Kausalität der physischen und physiologischen und - am Ende natürlich auch - der neurologischen Prozesse stünde.

Ein hinreißender Gedanke, den man aber erst einmal etwas auf sich wirken lassen muß.

Damit ist auch gesagt, daß man eben, wenn man nach einer naturwissenschaftsnahen ("naturalistischen") Erklärung menschlicher Willensfreiheit fragt, zunächst einmal nach den Freiheitsgraden in der Evolution überhaupt zu fragen hat. Wenn es dort "Freiheitsgrade" gibt, warum soll es solche dann nicht auch im menschlichen Gehirn geben? (Und zwar auch jenseits der viel zu häufig in diesem Zusammenhang angeführten Quantenphysik?)

Manfred Eigen nicht im Personenverzeichnis genannt

Es wird zunächst nicht ersichtlich, wie weit Gerhardt einen Autor wie Manfred Eigen und dessen Buch "Das Spiel - Naturgesetze bestimmen den Zufall" (2) rezipiert hat. Grundsätzlich argumentiert er jedoch durchaus in die Richtung von Manfred Eigen. Wenn auch nicht von so präzisen Ausgangspunkten in der empirischen Forschung und in mathematisch-statistischen Überlegungen herkommend und sich an ihnen entlang bewegend, wie das Manfred Eigen zusammen mit seinen Mitarbeitern getan hat. Dieses Buch müßte doch für Herrn Gerhardt einmal eine Lektüre wert sein. Auch Konrad Lorenz hat sich ja geistig sehr durch dieses Buch befruchten lassen, als er in Richtung der Unvorhersehbarkeit, Nichtdeterminiertheit des evolutionären Geschehens argumentierte und damit in Richtung der Verantwortlichkeit des Menschen für die weitere Entwicklung (3).

Ein fester Kristall behauptet starr seine individuelle Eigenform gegenüber einer Umwelt, deren Kräfte gegebenenfalls darauf ausgerichtet sind, ihn zu verformen und zu verändern, ihn der Umwelt anzugleichen. Deshalb neigen wir dazu, die Schönheit seiner je individuellen, einzigartigen "Eigenpersönlichkeit" zu bewundern. Ein flüssiger Kristall behauptet ebenfalls seine Eigenform, nun sogar in noch größerer Anpassungsfähigkeit gegenüber Kräften, die gegebenenfalls darauf ausgerichtet sind, diese Eigenform zu zerstören. Und eine lebende Biozelle bewegt sich "aus eigenem Antrieb", wie Gerhardt ausführt (- ohne auf die ebengenannten Vorformen von Individualität in der nichtbelebten Natur einzugehen).

Die lebende Biozelle jedenfalls behauptet ihre Eigenform und die Individualität ihrer Art durch noch größere Anpassungsfähigkeit gegenüber einer diese Eigenform bedrohenden Umwelt. Gerhardt spricht von der "eigenen Dynamik" der Lebewesen. Von der sponaten Verursachung ihrer Lebensvollzüge, von ihrer "Eigengesetzlichkeit" (1, S. 464f). - Warum dies nun aber schon für sich selbst ein Argument dafür sein soll, daß Lebewesen im menschlichen Sinne "frei" sind und "Freiheit" gegenüber Zwang (oder gar gegenüber Existenzvernichtung) behaupten, wird noch nicht ganz deutlich.

Die Eigendynamik des Lebens und seine Behauptung von Individualität

Hier wäre wenigstens noch herauszuarbeiten, daß etwaige Freiheitsgrade im Lebensvollzug der ihrer selbst unbewußten - oder schon von Instinkten und Lernprogrammen geleiteten - Natur von jeweils neuer Art sind, daß also die Freiheitsgrade im Lebensvollzug von bewußt entscheidenden Lebewesen wie dem Menschen wesentlich größere sind, als die aller anderen Lebewesen. Diesen stufenweisen Fortschritt hat Konrad Lorenz in "Die Rückseite des Spiegels" herausgearbeitet (4), wobei er darauf hingewiesen hat, daß es insbesondere die immer größere Fähigkeit zum Irrtum des individuell lernenden Individuums (schon im Tierreich) ist, die dann immer größere Grade von (Handlungs- und Entscheidungs-)Freiheit ermöglicht. Und diese Irrtumsanfälligkeit wird durch die "Lehrmeister" Lust und Unlust auf den Bahnen der Existenzerhaltung gehalten.

Es wäre herauszuarbeiten, daß eben hier - wie dies schon Hegel, ausgehend von den Gedanken seines philosophierenden Dichterfreundes Hölderlin getan hat - wohl von einem stufenweisen, evolutionären "Fortschritt im Bewußtsein" und im "Bewußtwerden von Freiheit" die Rede sein kann.

Es wäre also noch herauszuarbeiten, daß Freiheit in jenem vollen Umfang, wie wir sie heute als Menschen verstehen und bewußt erleben, ein Endprodukt der Evolution darstellt.**) Es könnte sinnvoll sein, sich auch die weiteren Ausführungen von Gerhardt noch genauer anzuschauen. Dennoch schade, daß nirgends auf Manred Eigen und sein Buch "Das Spiel" Bezug genommen wird. Ebenso schade, daß die schon so weitgehenden psychologischen Forschungen von Konrad Lorenz nicht zu Rate gezogen worden sind.

Friedrich Schiller: Ansätze naturalistischen Philosophierens

Wenn es um die Freiheit geht, ist natürlich der Dichter und Philosoph Friedrich Schiller immer ein gern gewählter Referenzpunkt. Auch Manfred Eigen zitiert Schillers Satz "Der Mensch ist immer nur dort ganz Mensch, wo er spielt". Friedrich Schiller hat in seiner Jugend Medizin studiert und anfangs sehr deutlich von medizinischer Fachkenntnis aus mit seinem philosophischen Denken begonnen (laut Erinnerungen an diesbezügliche Philosophie-Vorlesungen von Professor Rudolf Malter in Mainz).

Auch in seinem "Don Carlos" wird letztlich sein naturwissenschaftsnahes ("naturalistisches") Räsonnement deutlich, nämlich in der emphatischen Ansprache des gesellschaftlichen Reformers Marquis Posa an den bigott-katholischen, dikatorischen spanischen König:

Sehen Sie sich um ...
... in der herrlichen Natur,
auf Freiheit ist sie gegründet.
Und wie reich ist sie durch Freiheit.

Da ist es natürlich sehr passend, daß ein Denkmal dieses Friedrich Schiller in Berlin auf dem Gendarmenmarkt direkt auf - nein: in - das Gebäude der "Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften" blickt. 


"Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!"


Jedenfalls: Wenn eine "Akademie der Wissenschaften" wie die "Berlin Brandenburgische" einen solchen Vizepräsidenten hat, dann, so möchte man meinen, - - - ... "wird noch alles gut". Dann besteht aller Anlaß, die humanistisch-naturalistische Giordano Bruno-Stiftung gut zu finden. Aber - so wird man sagen: Die "Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften" könnte noch um vieles besser, um vieles wichtiger sein. Denn sie vertritt - unter anderem - aus dem naturalistischen Denken heraus den Gedanken der Freiheit. Da bekommt erst all das Positive, das man bislang schon bei "Studium generale" von dieser "Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften" hatte erfahren können, einen abschließenderen Sinn. Wenn eine solche Organisation einen solchen Vizepräsidenten hat.


Auch ein Video-Vortrag, auf den man über den Wikipedia-Artikel zu Volker Gerhardt stößt, beginnt unkonventionell, wenn es dort gleich in den ersten Sätzen heißt:

"Früher war es für einen Wissenschaftler wichtig, nicht für einen Künstler gehalten zu werden ..."

"Früher" ... - Damit ist klar: Mit diesem Volker Gerhardt muß sich "Studium generale" noch gründlicher befassen. (Ergänzung 2011: Es gibt inzwischen noch mehr Videos mit ihm, etwa "Das Göttliche als Sinn des Daseins", in dem viel von Charles Darwin die Rede ist [Teil 1 und 2], in dem aber "das Göttliche" [in Teil 3] bloß postuliert wird, noch nicht einmal stingent philosophisch begründet wird, geschweige denn  in Bezug gesetzt wird zum naturwissenschaftlichen Kenntnisstand. Gerhardt schließt sogar das Argumentieren für eine personale Gottheit nicht als möglich aus. ...)

Daß das naturalistische Argument für die Willensfreiheit ist ein sehr grundlegendes auch für diesen Blog selbst und sein gesellschaftliches Freiheits- und Verantwortungsverständnis ist, daß sich also Freiheit und Verantwortung auch in der Natur - und damit auch im Menschen - verwirklicht, dafür haben wir auch schon an anderer Stelle Plausibilitätsargumente zusammengestellt (s. "Über Studium generale I".) Aus der Sicht etwa des wichtigen Buches "Das Spiel" von Manfred Eigen erscheint einem diese Einsicht geradezu selbstverständlich, ja, notwendig. Und man wundert sich nur, daß dieser Gedanke nicht schon längst möglichst wissenschaftsnah auch von anderen den Naturwissenschaften nahestehenden Menschen vertreten worden ist.


(überarbeitet und neu gegliedert: 9.9.11)

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*) Professor Joachim Bauer aus Freiburg machte uns freundlicherweise auf seinen Vortrag aufmerksam, den er vor einer Woche, am 17. Juli 2009, in Berlin gehalten hat: "Kreative Biosysteme - Einige Gedanken zur Koevolution von Natur und Kultur". Er wurde gehalten im Rahmen des 22. Arbeitstreffens der "Interdisziplinären Arbeitsgruppe Humanprojekt - Zur Stellung des Menschen in der Natur" der "Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften" (BBAW).
**) Exkurs: Ja, möglicherweise sogar ein "Ziel" derselben - was aber ein neuer, weitergehender Gedankengang wäre. Immerhin ließe sich ein solcher Gedankengang formulieren, schon, weil es keine schlüssigen, widerspruchsfreien Alternativen zu ihm gibt: Das Weltall entstand, um Freiheit im bewußten Lebensvollzug möglich zu machen. Der Urknall wäre dann der Phasenübergang von einer unbegrenzten Freiheit von Möglichkeiten gewesen hin zu einer stufenweise verwirklichten Möglichkeit von bewußt erlebter und diese Freiheit von Möglichkeiten und Wirklichkeiten nachvollziehender Freiheit.

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  1. Gerhardt, Volker: Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherungen an eine Naturgeschichte der Freiheit. In: Heilinger, Jan-Christoph (Hrsg.): Naturgeschichte der Freiheit. Humanprojekt: Interdiszinplaere Anthropologie. Gruyter 2007 (Google Bücher)
  2. Eigen, Manfred; Winkler, Ruthild: Das Spiel - Naturgesetze steuern den Zufall. Piper, München 1975; neu aufgelegt Christian Rieck Verlag Eschborn 2010
  3. Lorenz, Konrad: Der Abbau des Menschlichen. Piper, München 1983
  4. Lorenz, Konrad: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens. Piper, München 1973

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