Die derzeitige Berliner Babylon-Ausstellung unterscheidet "Wahrheit und Mythos" in Bezug auf das Geschichtsbild über das babylonische Reich. Wer hätte gedacht, daß sich an einer solchen Unterscheidung noch heute aus monotheistisch-theologischer Sicht die Geister scheiden könnten? Aber offenbar empfinden es Theologen noch heute geradezu als "Verunglimpfung" der Bibel, wenn festgestellt wird, daß die Bibel über Jahrtausende hin ein außerordentlich tendenzielles, wenn nicht gar ganz und gar falsches und verzerrtes Bild von Babylon gegeben hatte. So jedenfalls im Vorabdruck aus dem Novemberheft des "Materialdienstes" der "Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen". (Materialdienst)
Wenn man dort liest, könnte einem erst bewußt werden, was für tatsächlich doch recht aufregende Fragestellungen mit dieser Ausstellung verbunden sind. Die Ausstellung stellt Geschichtsbild-Verzerrungen richtig, die durch die Bibel Jahrtausende lang propagiert worden waren. Sollte man vielleicht doch einmal hin gehen zu dieser Ausstellung? - Ist das jetzt ein neuer "Bibel-Babel"-Streit, der um ähnliche Themen kreist wie Anfang des 20. Jahrhunderts ein gleichnamiger sehr berühmter Streit (Wikipedia)?
Damals wurde erstmals einer breiteren Öffentlichkeit die geschichtliche Bedingtheit eines großen Teiles der Texte des Alten Testamentes bewußt. Es ging damals aber wohl noch nicht um die propagandistische Wirkung, die die Bibel hervorrief in Bezug auf das Bild von untergegangen Reichen. Bei der EZW jedenfalls heißt es jetzt (Hervorhebung nicht im Original):
Wenn man dort liest, könnte einem erst bewußt werden, was für tatsächlich doch recht aufregende Fragestellungen mit dieser Ausstellung verbunden sind. Die Ausstellung stellt Geschichtsbild-Verzerrungen richtig, die durch die Bibel Jahrtausende lang propagiert worden waren. Sollte man vielleicht doch einmal hin gehen zu dieser Ausstellung? - Ist das jetzt ein neuer "Bibel-Babel"-Streit, der um ähnliche Themen kreist wie Anfang des 20. Jahrhunderts ein gleichnamiger sehr berühmter Streit (Wikipedia)?
Damals wurde erstmals einer breiteren Öffentlichkeit die geschichtliche Bedingtheit eines großen Teiles der Texte des Alten Testamentes bewußt. Es ging damals aber wohl noch nicht um die propagandistische Wirkung, die die Bibel hervorrief in Bezug auf das Bild von untergegangen Reichen. Bei der EZW jedenfalls heißt es jetzt (Hervorhebung nicht im Original):
Biblischen Geschichten begegnen Menschen nicht nur in Kirche und Schule, sondern z. B. auch im Museum. Mehrere hunderttausend Interessierte haben sich von der am 15. Juni im Pergamonmuseum in Berlin eröffneten Ausstellung über Babylon "Wahrheit und Mythos" faszinieren lassen. Was für Botschaften nehmen Berlintouristen, Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der biblischen Geschichten aus dem Pergamonmuseum mit?Da stellt sich als erste Frage: Diese Ausstellung ist doch wohl nicht konzipiert worden, um den Menschen - - - "Religionsunterricht" zu erteilen?!!! Im übrigen aber: Wenn sich ein Bibelgläubiger um solcher Aussagen einer Ausstellung willen noch aufregen kann, dann, so will es scheinen, muß sie doch einen "Nerv" getroffen. - Das wird bisher nicht jeder mitbekommen haben.
Die Ausstellung besteht aus zwei Teilen. Der erste zeigt unter dem Titel "Wahrheit", wie es wirklich war im antiken Zweistromland und was "hinter den Legenden von Babel steckt" (Ausstellungsflyer). Fundstücke aus drei Jahrtausenden vermitteln in thematischen Räumen über Götterwelt und Königsideologie Babyloniens. Sie zeigen eine staunenswerte Gesellschafts- und Rechtsordnung mit beachtlicher Wirtschafts- und Wissenschaftsleistung. Die Gegenstände aus Berliner Beständen, dem Louvre und dem Britischen Museum sind hervorragend didaktisch erschlossen. Die Audio-Führung ist im Eintrittspreis enthalten. Die Ausstellung will die Wurzeln unserer Kultur im Zweistromland zeigen: Kalender, Zahlen, Sternzeichen, Schrift - all dies stammt aus Babylon.
Der andere Teil verfolgt unter dem Begriff "Mythos" mit sieben thematischen Schwerpunkten die andere Wirkungsgeschichte Babylons bis in unsere Gegenwart, die Wirkungsgeschichte einer Legende. Babel wird, die historische Wahrheit verfälschend, in der Geschichte unserer Kultur aufgrund biblischer Texte immer wieder tendenziös erinnert und grell inszeniert - so zeigen es die Ausstellungsmacher: Es wird zur Hure, zum Unterdrückungssystem, der Turmbau wird zum Aufstand gegen Gott. Die Ausstellung suggeriert, wie "die Mythe log" (Gottfried Benn). Das historische Babylon war ganz anders als Babel. Nebukadnezar war kein Gewaltherrscher, sondern ein gerechter, weiser König. Die Ballade von Heine, die Bilder von Rembrandt - alles trügerischer Mythos? (...) Die Bibel hat also nicht Recht, sie ist der Ursprung einer die historische Wahrheit verfälschenden Mythisierung. Ausdrücklich wird darauf verwiesen, dass es den deportierten Juden in der babylonischen Gefangenschaft nicht schlecht ging. Der König Jojakin bekam genug zu essen. Niemand will das bestreiten.
Diese Hermeneutik wirft mindestens drei Fragen auf:
1. Darf man die andere Rezeption, die das babylonische Exil bei Zeitgenossen und bei den kommenden Generationen fand, so einfach als "Mythos" bezeichnen? Missbrauchen die Klagen des Propheten Jeremia, Erinnerungen an Tränen an den Strömen von Babylon und die Unterdrückung von Verschleppten das historische Babylon?
2. Der schlichte Gestus "Ich sag euch, wie es wirklich war" kann nerven. Zeigt die Ausstellung in schlichter Entdeckerfreude zu wenig hermeneutische Sensibilität dafür, dass es "die" eine historische Wahrheit nicht gibt? Das Bild Babylons im Wahrheitsteil ist doch auch ein Konstrukt, bei dem Gegenstände aus mehreren Jahrtausenden unter thematischen Gesichtspunkten ein bestimmtes Bild einer fortschrittlichen, effektiven, auf Nachhaltigkeit bedachten Kultur ergeben.
3. Die sieben Themen Nebukadnezar, Babylon-System, Semiramis, Turm, Apokalypse und Sprachverwirrung erzählen, so heißt es im Flyer, "nicht die historische Wahrheit über Babylon, sondern die Wahrheit über eine Zivilisation, die den Mythos Babel braucht, um sich selbst zu verstehen". In diesem Text wird zwischen Wahrheit und Mythos ein anderes Verhältnis aufgezeigt als in manchen Tafeln und in der schrillen Vermarktung der Ausstellung. Mythos und Wahrheit sind keine diametralen Gegensätze. Gälte es diese Botschaft nicht zu vertiefen? Die Berliner Ausstellung hat zu wenig Sensibilität für diese Lektion. Sie setzt zu sehr auf "simplify the history" und bietet deswegen schlechten Religionsunterricht.
Dr. Michael Nüchtern (Theologisches Mitglied im Oberkirchenrat der Evangelischen Landeskirche in Baden)
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