- Eine Biographie über ihn wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet
Zur Mordmoral der Nazis, zu ihrer Euthanasie, ihren Menschenversuchen und zur Haltung der Kriegsgegner in diesen Fragen
Eine Biographie über Hitlers Beauftragten für die geheime Durchführung der Euthanasie an Geisteskranken und Schwerstbehinderten im Dritten Reich, also eine Biographie über seinen Leibarzt Karl Brandt (1904-1948) (Wiki) (1) macht nachdenklich. Sie macht schon allein deshalb nachdenklich, weil Karl Brandt - wie von vielen festgestellt wurde - auf allen überlieferten Fotografien als ein menschlich sympathischer, vor allem auch sehr ernsthafter und überlegter Arzt und Mensch zu sehen ist und weil es viele Anzeichen in seiner Biographie dafür gibt, daß sein Leben auch eine ganz andere Richtung hätte einschlagen können. So wollte Karl Brandt in seiner Jugend etwa Mitarbeiter von Albert Schweitzer in Afrika werden. Er führte eine sehr glückliche Ehe mit der mehrfachen deutschen Meisterin im Schwimmen Anni Rehborn (geb. 1904) (Wiki).
Abb. 1: Karl Brandt - Während seines Schlußwortes im Nürnberger Ärzteprozeß |
Er gehörte lange Jahre zum engsten Kreis Adolf Hitlers. Was aber nicht verhindern konnte, daß er noch Anfang 1945 im Auftrag Adolf Hitlers von einem Standgericht zum Tode verurteilt werden konnte, weil er - angeblich - versucht hatte, die westliche Front hin zu den Amerikanern zu überschreiten und weil er seine Familie in Thüringen zurück gelassen hatte, das von den Amerikanern besetzt worden war und weil er den einen oder anderen tatsächlichen oder vermuteten Fürsprecher unter den Leuten des 20. Juli hatte.
In der Affäre rund um den Leibarzt Adolf Hitlers Theodor Morell im Herbst 1944, in der sich mehrere Ärzte - darunter Brandt - gegen Morell ausgesprochen hatten, hatte sich letzterer durchsetzen können, was auch zur Absetzung Brandts geführt hatte.
Dem Verfasser dieses Blogbeitrages will es scheinen, daß die Zugehörigkeit zum engsten Kreis um Adolf Hitler und der damit verbundene "Führerglaube" dazu führte, daß Karl Brandt kaum noch wahrzunehmen schien, welche Mordmoral von Adolf Hitler schon vor 1933 öffentlich vertreten worden war und im Röhm-Putsch 1934 praktiziert worden war, und daß gerade diese gelebte und praktizierte Mordmoral, daß das dabei gelebte Ausschalten des Rechtsstaates ihn als Arzt vor besonders schwere Entscheidungen stellen konnte, wenn er schließlich - im Auftrag Adolf Hitlers - leitende Positionen im deutschen Gesundheitswesen, bei der Durchführung der Euthanasie und bei Menschenversuchen übernehmen sollte. Daß es bei den ihm vorgeworfenen Taten keine einwandfreie Rechtsstaatlichkeit gegeben hatte, daß ihnen nicht der frei gebildete Konsens der deutschen Öffentlichkeit zugrunde lag, diese Umstände wiegen schwer.
Man hat das Gefühl, daß der "Führerglaube" dazu führte, daß bestimmte Gehirnregionen, die moralisches Verhalten kritisch bewerten, einfach ausgeschaltet wurden, auch bei so ernsthaft und überlegt erscheinenden Menschen wie dem Arzt Karl Brandt. Jedenfalls findet man in der Biographie über ihn (1) keinen wirklich deutlicheren Hinweis darauf, daß er sich des Prekären seiner Situation im Umfeld von Adolf Hitler überhaupt bewußt gewesen wäre. Aber ein rundes Bild ermöglicht diese Biographie schon deshalb nicht, weil aus den benutzten Lebenszeugnissen von Karl Brandt immer nur ausschnittsweise zitiert wurde und weil man den Gesamtzusammenhang des jeweiligen Originaltextes dieser Dokumente nicht auf sich wirken lassen kann.
Im Internet finden sich ausschnittsweise Filmaufnahmen des Prozeß-Schlußwortes von Karl Brandt (2) und es findet sich - leider nur auf zynischsten Nazi-Seiten - das Schlußwort wenigstens einmal im Gesamtzusammenhang, ebenso die letzten Worte von Karl Brandt kurz bevor er hingerichtet wurde, und nachdem eine Fülle von Gnadengesuchen - auch von deutschen Bischöfen - abgewiesen worden waren (3). Das Schlußwort zeigt, daß Brandt immer noch eine Beauftragung durch Adolf Hitler als "Motiv, das der Gemeinschaft gilt" empfand und als solches vor Gericht auch nicht hinterfragte. Dazu fehlte ihm sicherlich der zeitliche Abstand. Hätte er ein ähnlich langes Leben gehabt, wie Albert Speer, so hätte er sicherlich wie Albert Speer sein eigenes Verhalten vor 1945 mehr hinterfragt als es ihm bis 1946 möglich gewesen ist.
Das Schlußwort zeigt weiterhin, daß für Karl Brandt die Gespräche mit dem Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1877-1946) (Wiki)
über das Thema Euthanasie 1940 und 1941 sehr wichtig waren. Nach der
Biographie wird es nicht für unglaubwürdig gehalten, daß auch von
Bodelschwingh in diesen Gesprächen für besonders schwere Fälle
Euthanasie befürwortete, daß sich seine Kritik aber insbesondere gegen
die damalige Art der Durchführung derselben, insbesondere ohne
gesetzliche Grundlage richtete (1, S. 243). Es ist sehr schwer, sich
über diese Biographie (1) zügig ein rundes Bild von Karl Brandt zu
verschaffen, da diese Biographie Defizite aufweist, von denen einige in
einer vor einigen Tagen veröffentlichten Amazon-Rezension wie folgt
benannt worden sind (4).
Eine Einordnung in das internationale Szenario - Sie fehlt völlig (Amazon-Rezension)
Diese Biographie (1) weist eine Fülle von Defiziten auf. Auf drei wesentlichere soll im folgenden hingewiesen werden. So hätte zunächst schon einmal historisch eingeordnet werden müssen, wo die Mordmoral der Nationalsozialisten eigentlich herkommt, innerhalb dessen Rahmen sich diese Biographie bewegt.
Allen aufmerksamen politischen Beobachtern, insbesondere auch den vielen demokratischen deutschen Politikern, die 1933 dem Ermächtigungsgesetz Adolf Hitlers zustimmten oder die sich außerhalb Deutschlands positiv über den Unrechtsstaat Hitlers aussprachen, mußte die Mordmoral der Nationalsozialisten, die Adolf Hitler selbst öffentlich schon vor 1933 befürwortet hatte, bekannt sein. Sie wußten also, was sie taten, als sie den Rechtsstaat in Deutschland außer Kraft setzten oder seine Außerkraft-Setzung befürworteten. Diese Mordmoral war bekannt geworden etwa durch die "Boxheimer Dokumente" des Werner Best aus dem Jahr 1931, jenes nachmaligen, bis 1989 niemals in Deutschland verurteilten "dritten Mannes hinter Himmler und Heydrich", der in Vorbereitung des kommenden Krieges 1937 die Einsatzkommandos aufstellte, wozu zuvor das Reichssicherheitshauptamt in Berlin begründet werden mußte. Auch hatte Hitlers Reaktion auf den "Mord von Potempa" schon vor seiner Machtübernahme keinen Zweifel an seiner Mordmoral lassen können. Viel weniger noch dann die Durchführung der Morde während des sogenannten Röhm-Putsches.
Daß es nun weiterhin viele Hinweise darauf gibt, daß diese nationalsozialistische Mordmoral spätestens seit 1919 in eben jenen völkischen Okkultlogen gepflegt und unterschwellig propagiert wurde, aus denen auch die NSDAP hervorging (Thuleorden, Skaldenorden usw. usf.), wird ebenfalls nicht abgehandelt. Dabei kann man das etwa anhand der Person Ludwig Müller von Hausen schon auf Wikipedia nachlesen.
So hatte es jeder demokratische Politiker und aufgeweckte politische Beobachter eigentlich nur als eine Frage der Zeit ansehen können, wann im Dritten Reich Euthanasie an Geisteskranken und Schwerstbehinderten durchgeführt werden würde - natürlich im Geheimen, ohne Recht und Gesetz und unter fast größtmöglicher Rücksichtslosigkeit gegenüber den davon Betroffenen und ihren nächsten Angehörigen.
Warum es aber nun im Dritten Reich so viele deutsche Ärzte gab, die diesen Zusammenhang zwischen der Mordmoral der Nazis einerseits und dem Euthanasie-Programm andererseits NICHT sahen und sich auch noch nach 1945 zu sehen weigerten, hier einen Zusammenhang zu sehen, das schlüssig zu erklären, bleibt diese Biographie einfach schuldig. Soweit der erste Punkt.
Bemerkenswert ist aber besonders, aus welchen Gründen Karl Brandt 1947 in Nürnberg zum Tode verurteilt worden ist und aus welchen Gründen nicht. Und hier werden weitere besondere Versäumnisse des Biographen deutlich.
Das Urteil war ja doch - so wie es darstellt wird - letztlich sehr "spitzfindig". Es ließ überraschenderweise offen, ob die durchgeführte Euthanasie als Ganzes würdig der Todesstrafe wäre oder nicht. Es betrachtete das (wenn man das als Leser recht versteht) quasi als "innerdeutsche" Angelegenheit. Karl Brandt wurde allein deshalb zum Tode verurteilt, weil er nicht scharf genug darauf geachtet hätte, daß nicht auch Nichtdeutsche, also ausländische Staatsangehörige unter die Euthanasie mit einbezogen werden würden. Natürlich, das geltende Völkerrecht läßt das - soweit man das als Leser erkennen kann - nicht zu. Ob aber die damalige Siegermacht - angesichts der zahllosen eigenen Kriegsverbrechen - befugt war, deshalb ein Todesurteil auszusprechen und ob es etwas mit menschlicher Größe zu tun hat, dass es auch ausgeführt wurde, stehe aber unter solchen Umständen wirklich dahin und man vermißt hier wiederum eine klare Einordnung von Seiten des Biographen.
Noch interessanter ist aber die erörterte Diskussion um die durchgeführten Menschenversuche im Nürnberger Prozeß, für die Karl Brandt mitverantwortlich war und um derentwillen er weiterhin zum Tode verurteilt wurde. Sein deutscher Verteidiger legte schlicht Belege vor, daß Menschenversuche in den USA zu gleicher Zeit an Gefängnisinsassen ebenfalls durchgeführt worden waren, die zum Tode führen konnten (Infizierung mit Malaria). Und nun wurde interessanterweise sogar jener Verantwortliche für die amerikanischen Menschenversuche als Gutachter vor das Gericht gezogen. Interessant. Wußte man ja gar nicht! Und die Versuche an sich wurden nun gar nicht in Abrede gestellt. Aber aufgrund des Hinweises auf sie wurde Karl Brandt nun nicht wegen Menschenversuchen an sich zum Tode verurteilt (!), sondern nur weil er nicht die "informierte Einwilligung" jener Menschen eingeholt hatte, die diesen Versuchen unterworfen worden waren, wie das - angeblich - zeitgleich in den USA geschehen sei.
Und die Brandt-Biographie, die von einem deutschen Historiker in Großbritannien verfaßt worden ist, hat nun überhaupt kein Interesse daran zu überprüfen, wie die Aussage dieses US-amerikanischen Gutachters vor dem Nürnberger Gericht eigentlich zu bewerten ist aus heutiger Sicht, entweder vom ethischen Standpunkt aus oder auch einfach nur dahingehend, ob sie überhaupt wahr war oder nicht. Welcher Gefängnisinsasse gibt denn freiwillig und informiert seine Zustimmung dazu, sich mit Malaria infizieren zu lassen? Man entschuldige schon einmal. So etwas muß doch erörtert und aufgeklärt werden.
Scheinbar hatte aber auch die westliche Öffentlichkeit damals kaum ein kritisches Interesse für das, was hier von dem US-amerikanischen Gutachter eingestanden worden war, nämlich daß es Menschenversuche in US-amerikanischen Gefängnissen gab.
All das ist in der vorliegenden Biographie überhaupt nicht ausgelotet worden. Man kann aber einmal - nachdem man hier ein Interesse entwickelt hat - einen Blick in Wikipedia-Artikel werfen wie "Unethical human experimentation in the United States". Da liest man, nachdem die eben schon erwähnten Malaria-Versuche an Gefängnisinsassen - wiederum - ganz unkritisch aufgeführt worden waren: "In related studies from 1944 to 1946, Dr. Alf Alving, a professor at the University of Chicago Medical School, purposely infected psychiatric patients at the Illinois State Hospital with malaria, so that he could test experimental treatments on them."
Und da wird man ja wohl schon einmal die kritische Frage stellen dürfen, ob ausgerechnet psychiatrisch erkrankte Patienten besonders geeignet sind, "informierte Einwilligungen" zu den an ihnen vorgenommenen Versuchen zu geben. Muß man das alles nicht behandeln, wenn man eine Biographie über Karl Brandt schreibt?
Das alles ist eine reichlich irre Thematik. Aber darüber muß es doch kritische historische Aufarbeitungen geben. Aber der Biograph von Karl Brandt bedient ausschließlich das übliche klischeehafte "germano-zentrische" Geschichtsbild. Er hat es scheinbar gar nicht nötig, die Biographie von Karl Brandt in ein internationales Szenario hineinzustellen. Das würde ja scheinbar wieder einmal die - vorgebliche - "Einzigartigkeit" der deutschen Verbrechen "relativieren" - - - ? Dabei haben das ja ganz eindeutig die Nürnberger Richter selbst schon getan, indem sie Brandt nicht für das verurteilten, was eingestandenermaßen zeitgleich gängige Praxis in den USA war.
Im übrigen ging das von Seiten US-amerikanischer Wissenschaft noch "fröhlicher", "informiert" und "freiwillig" weiter damals, direkt zeitlich parallel zum Prozeß in Nürnberg und zum Vollzug des Todesurteils an Brandt! Heißt doch schon der nächste Satz des zitierten Wikipedia-Artikels:
"In a 1946 to 1948 study in Guatemala, U.S. researchers used prostitutes to infect prison inmates, insane asylum patients, and Guatemalan soldiers with syphilis and other sexually transmitted diseases, in order to test the effectiveness of penicillin in treating the STDs."
Na, das wird ja doch wohl alles herrlich freiwillig und informiert gewesen sein. Daran wird man doch keinen Zweifel haben dürfen.
Schon aus diesen wenigen Anhaltspunkten entnimmt der Autor der vorliegenden Rezension: Das Todesurteil an Karl Brandt ist schlichtweg als heuchlerische "Siegerjustiz" einzuschätzen. Und der Gesamttenor der vorgelegten Biographie läßt eine gründliche Einordnung des Geschehens in Deutschland in das damals international "übliche" Szenario vermissen. Ein außerordentlich deutliches Versäumnis.
Solche unkritischen Biographien tragen zur Perpetuierung US-amerikanischer Verbrechen weltweit bis heute bei.
- Schmidt, Ulf: Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich. Aus dem Engl. von Helmut Ettinger. Aufbau, Berlin 2009 (zuerst englisch 2007)
- Brandt, Karl: Ausschnitt aus seinen Schlußworten im Nürnberger Ärzteprozeß, https://www.youtube.com/watch?v=EcD12nO3BVA
- Brandt, Karl: Prozeß-Schlußwort und Letzte Worte. https://deutschesreichforever.wordpress.com/tag/dr-karl-brandt/
- Bading, Ingo: Rezension von "Hitlers Arzt Karl Brandt", 2. August 2017, https://www.amazon.de/review/R1EKKTXO6NJ2M4/ref=pe_1604851_66412761_cm_rv_eml_rv0_rv
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