Montag, 1. März 2021

Ein Kind - In einem Ehekonflikt - In Pompeji im Jahre 79 n. Ztr.

Eine Bildbetrachtung

Abb. 1: Ein Kind, sitzend - Wandmalerei in Pompeji, "Haus des Jason", entdeckt 1878

Was für eine Stimmung geht von diesem Gemälde aus? ....

Es kann sein, daß von einem Kunstwerke eine Stimmung ausgeht, ohne daß man sogleich wüßte, um welche Art von Stimmung es sich handelt (Abb. 1): Ein Kind sitzt mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden. Einsamkeit, Nachdenklichkeit liest man auf seinem Gesicht. Es deutet sich schon mancher Übergang zum Erwachsensein an. Auf den Zügen des Kindes ist auch Anmut zu lesen, auf ihnen ist zu lesen, daß es sich geliebt fühlt. Insgesamt aber: Solche fast "modernen" Gefühle auf einer Wandmalerei des ansonsten so "fröhlichen", übermütigen Pompeji aus der Zeit vor 79 v. Ztr.?

Das Bild wirft Fragen auf, die erst befriedigt sind, wenn man noch weiteres über die Inhalte, Hintergründe dieses Gemäldes in Erfahrung gebracht hat.

Was könnte es denn eigentlich zum Ausdruck bringen? In welcher Lage befindet sich das Kind?

Abb. 2: Medea mit ihren Kindern - Wandgemälde in Pompeji im "Haus des Jason", Museum von Neapel

Die Antwort auf diese Fragen bahnt sich schlagartig an, wenn man heraus bekommt, daß es sich nur um den Ausschnitt aus einem größeren Gemälde handelt .... (Abb. 2).

Und wenn man dann erfährt, daß das Thema dieses größeren Gemäldes lautet (Abb. 2): "Medea nachdenklich darüber, ob sie ihre Kinder töten soll".

Medea nachdenklich darüber, ob sie ihre Kinder töten soll.

Was für ein Geschehen, was für ein Thema. In was für einen Zwiespalt gerät man hier plötzlich - mit dem Wissen um diese Thematik ....

Die Tragödie Medea des Euripides aus dem Jahr 431 v. Ztr.

Im Hintergrund steht die berühmte Tragödie "Medea" des griechischen Dichters Euripides aus dem Jahr 431 v. Ztr. (Wiki): Der Grieche Jason hat auf der Argonautenfahrt die Ausländerin Medea geheiratet. Medea hat Jason auf ihren Fahrten durch ihre Zauberkünste mehrfach aus Gefahren gerettet. Mit den Kindern hat das Paar nun Zuflucht in Korinth gefunden. Der König von Korinth bietet Jason die Heirat mit seiner Tochter an. Jason geht auf das Angebot ein, weil es auch günstig wäre für das Schicksal seiner Kinder. Zugleich aber wird Medea - als Ausländerin - des Landes verwiesen. Der König von Athen bietet ihr Asyl an (Wiki):

Nun beschließt sie, nicht nur ihre Rivalin zu töten, sondern auch die Kinder, um Iason das größtmögliche Leid zuzufügen. Vergeblich erhebt der Chor Einspruch.

Der Handlungsablauf der Tragödie spitzt sich dann folgendermaßen zu (Wiki):

Die fünfte Hauptszene zeigt Medea schwankend, nachdem sie erfahren hat, daß das Verbannungsurteil gegen die Kinder aufgehoben ist. Beim Anblick der Kinder erwägt sie, doch mit ihnen ins Exil zu gehen oder sie in Korinth zurückzulassen. Doch ist es nun zu spät, denn sie hat der Tochter Kreons schon das vergiftete Kleid überreichen lassen, das der Empfängerin den Tod bringen wird, sobald sie es anzieht. Dann werden sich die Angehörigen der Ermordeten an Medeas Kindern rächen. Sie beschließt, die Kinder lieber selbst zu töten als sie in die Hände von Feinden fallen zu lassen. Der Chor weist auf das traurige Schicksal aller Eltern hin, die sich wegen ihrer Kinder grämen und sorgen. Wer sogar den Tod seiner Kinder erleben müsse, dem widerfahre schlimmstes Leid.

Indem man diesen Handlungsablauf zugrunde legt, wird auch der eigentlich "versöhnte" Gesichtsausdruck des Kindes (Abb. 1) nachvollziehbar. Das Kind weiß sich geliebt von der Mutter. Es ist nicht mütterliche Kälte, die zur Tötung führt. In der Schlußszene wird Medea vom Sonnengott Helios gerettet und es kommt zum abschließenden Wortwechsel mit Jason (Wiki):

Er verflucht Medea und wirft ihr nun vor, daß sie einst, um seine Frau zu werden, ihren Vater und ihr Vaterland verraten und ihren Bruder getötet hat. Dies habe sie als Barbarin getan, keine Griechin sei zu so schändlichem Verhalten fähig. Sie weist ihm die Schuld am Tod der Kinder zu, da er die Ehe gebrochen habe, und kündigt ihm einen elenden Tod an.

Der hier aufbrechende, benannte Gegensatz zwischen Grieche und Barbarin wird dann in der Tragödie "Medea" von Franz Grillparzer im 19. Jahrhundert noch wesentlich tiefer psychologisch ausgedeutet als das in der Tragödie von Euripides geschehen war. Aber wir erfahren (Wiki):

Daß Medea ihre Kinder tötet, um sich an Jason zu rächen, ist eine Erfindung des Euripides. In älteren Fassungen wurden die Knaben von den Korinthern aus Haß gegen die Barbaren oder aus Rache für den Mord an Kreon erschlagen.

Also erst Euripides hat durch die Tötung der eigenen Kinder die Gestalt der Medea zu jener oft behandelten Figur der Weltliteratur und der Malerei gemacht als die sie seither gilt. Euripides hat insbesondere auch die Figur des Griechen Jason gezeichnet in einer Weise, die auf Wikipedia folgendermaßen charakterisiert wird (Wiki):

Im Streit mit Medea tritt seine durchgängige, teils groteske Verkennung ihrer Denk- und Empfindungsweise zutage. Durch seine Verständnislosigkeit reizt er sie zu immer heftigerer Wut und Erbitterung, obwohl er sie eigentlich besänftigen und in seinem Sinne zur Vernunft bringen will. Damit trägt er wesentlich dazu bei, daß die Katastrophe unabwendbar wird. In seiner Naivität hofft er allen Ernstes, sie werde sich mit ihrer Verstoßung abfinden und sich damit trösten, daß sein Aufstieg zum korinthischen Thronfolger auch ihren Kindern durch die Nähe zum Königshaus erfreuliche Perspektiven eröffnen könnte.

Es wird deutlich, daß der Mentalitätskonflikt, den Franz Grillparzer dann so entschieden heraus arbeitet, schon in der Tragödie des Euripides enthalten ist.

Obwohl die beiden anderen Gesichter dieses Gemäldes zu Medea im "Haus des Jason" in Pompeji - aufgrund des Erhaltungszustandes - nicht gut sichtbar sind, wird doch spürbar, daß die Szene auch sonst mancherlei Psychologie enthält. Das Entsetzen über die Gedanken und Pläne der Medea ist nur gemildert durch den Blick des an der Wand sitzenden Kindes auf den Betrachter. Es hat wohl in diesem Augenblick noch gar nicht das volle Ausmaß dessen begriffen, was mit ihm geschehen soll. Nur eine kindlich-unschuldig-traurige und vor allem auch einsame Ahnung davon ist in sein Gesicht geschrieben.

Während der jüngere Sohn unbefangen in der Nähe der Mutter spielt, scheint sich der ältere schon - geradezu ahnungsvoll - auf Distanz zur Mutter gesetzt zu haben. Offenbar also ein psychologisch gekonnt ausgedeutetes Geschehen in diesem Gemälde. Auf dem Arm des sitzenden Kindes scheinen zwei kleine weiße Vögelchen zu sitzen, mit denen es sonst zu spielen scheint.

Es ist "nur" eine "gewöhnliche" Wandmalerei. In einem "gewöhnlichen" Haus in der "gewöhnlichen" römischen Provinzstadt Pompeji.

Und doch - welche Stimmung ist in ihm enthalten.

Abb. 3: Medea mit ihren Kindern - Wandmalerei in Pompeji, Museum von Neapel (Wiki)

Abschließend noch ein Blick auf das Gesamtgemälde wie es - von der ursprünglichen Wand abgelöst - heute im Museum in Neapel hängt (Abb. 3). Blickt man mit dem oben umrissenen Wissen und mit einigem zeitlichen Abstand zur Recherche auf dieses Bild, wird einem erst die große Verzweiflung deutlich, von der diese Szene getragen ist. 

Eine Familie in der tiefsten Verzweiflung. Der Mann, der über die Mauer schaut, dürfte der - einigermaßen ahnungslose, naive - Jason sein, der sich im Gespräch mit Medea befindet, der beschwichtigt und der den abgrundtiefen tiefen Ernst der Situation noch kaum zu ahnen begonnen hat. Aller emotionaler Schwerpunkt der Szene liegt in der weiblichen Figur rechts, in der Medea, deren Seele von einer Wildheit von Entschlüssen überquillt.

Eine Szene tiefster Verzweiflung

In dem "Haus des Jason" im Pompeji finden sich übrigens noch andere Wandmalereien zum Thema "Unglückliche Liebesgeschichten".

Und dasselbe Thema "Medea mit ihren Kindern" findet sich auch noch auf einem zweiten Wandgemälde in einem anderen Haus in Pompeji, nämlich im "Haus des Dioskuren" (Wiki). In diesem Gemälde hält Medea sogar schon den Dolch in der Hand. Die beiden Kinder sind aber als völlig ahnungslos dargestellt. Damit wird deutlich, welche Unterschiede es in diesen Wandgemälden geben konnte bei der Behandlung desselben Themas.

Die psychologisch viel interessanter gestaltete Darstellung im "Haus des Jason" ist auf Wikipedia zu den Artikeln "Medea" noch gar nicht eingebunden. Wenn das mal nicht ein Desiderat ist. Das aufwühlende Geschehen ist in diesem Gemälde fast noch viel deutlicher zum Ausdruck gebracht als in allen anderen Werken der Kunstgeschichte zu diesem Thema, auch dem von Anselm Feuerbach (1).

Dabei sind die Wandmalereien aus dem Haus des Jason seit 1878 bekannt, dem Jahr, in dem dieses Haus ausgegraben wurde (2). Ob auch Gefühlswelten der Tragödie "Medea" des Seneca (3) in dieses Gemälde in Pompeji mit eingeflossen sind - immerhin entstand es zu Lebzeiten dieses Philosophen und Dichters - wäre noch einmal zu klären. Es wäre das eine von vielen Fragen, die eine solche Wandmalerei aus Pompeji aufwerfen kann.

Auch Lessing hat sich mit dieser Art zu malen beschäftigt

Ergänzung 30.5.2025: Wir lesen gerade in der Schrift "Laokoon" von G. E. Lessing aus dem Jahr 1766 (Gutenb):

Unter den alten Malern scheinet Timomachus Vorwürfe des äußersten Affekts am liebsten gewählet zu haben. Sein rasender Ajax, seine Kindermörderin Medea waren berühmte Gemälde. Aber aus den Beschreibungen, die wir von ihnen haben, erhellet, daß er jenen Punkt, in welchem der Betrachter das Äußerste nicht sowohl erblickt, als hinzudenkt, jene Erscheinung, mit der wir den Begriff des Transitorischen nicht so notwendig verbinden, daß uns die Verlängerung derselben in der Kunst mißfallen sollte, vortrefflich verstanden und miteinander zu verbinden gewußt hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augenblicke genommen, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpfet. Wir sehen das Ende dieses Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloß die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungskraft gehet weit über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen Augenblicke zeigen könnte. Aber eben darum beleidiget uns die in der Kunst fortdauernde Unentschlossenheit der Medea so wenig, daß wir vielmehr wünschen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden, oder hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Überlegung die Wut entkräften und den mütterlichen Empfindungen den Sieg versichern können. Auch hat dem Timomachus diese seine Weisheit große und häufige Lobsprüche zugezogen, und ihn weit über einen andern unbekannten Maler erhoben, der unverständig genug gewesen war, die Medea in ihrer höchsten Raserei zu zeigen, und so diesem flüchtig überhingehenden Grade der äußersten Raserei eine Dauer zu geben, die alle Natur empöret. Der Dichter Philippus (Anthol. lib. IV. cap. 9. ep. 10). 
Αιεὶ γὰρ διψα̃ς βρεφέων φόνον; η̃ τις ’Ιήσων
    Δεύτερος, ὴ Γλαυκὴ τις πάλι σοι πρόφασις;
’Έρρε καὶ εν κηρω̃ παιδοκτόνε –, 
der ihn desfalls tadelt, sagt daher sehr sinnreich, indem er das Bild selbst anredet: "Durstest du denn beständig nach dem Blute deiner Kinder? Ist denn immer ein neuer Jason, immer eine neue Kreusa da, die dich unaufhörlich erbittern? - Zum Henker mit dir auch im Gemälde!" setzt er voller Verdruß hinzu.

Damit wird klar, daß dieses Bild aus Pompeji von Timomachus (Wiki) entweder gemalt worden sein könnte, bzw. eine Kopie seines Bildes sein könnte - oder doch zumindest klar in der Tradition von dessen Art zu malen steht. Plinius der Ältere, der beim Untergang Pompejis selbst ums Leben gekommen ist (Wiki) ...

... berichtet in seiner Naturalis Historia, daß Julius Caesar zwei Gemälde von Timomachus erworben hatte, eines von Ajax während seines Wahnsinns und eine Medea, die über die Tötung ihrer Kinder sinnt, wofür er die beträchtliche Summe von 80 Talenten bezahlte.

Cäsar lebte 100 bis 44 v. Ztr., also mehr als hundert Jahre bevor auch dieses Bild in Pompeji verschüttet wurde. Aus der Bezahlung geht die große Wertschätzung hervor, die dieser Maler Timomachus schon hundert Jahre zuvor genossen hat (Wiki):

Wissenschaftler gehen davon aus, daß zwei bekannte, in Pompeji erhaltene Darstellungen der Medea unter dem Einfluß von Timomachus‘ Werk entstanden sind.

_________

  1. Feuerbach, Anselm: Medea, 1870 (Wiki)
  2. IX.5.18 Pompeii. Casa di Jasone or House of Jason. Linked to IX.5.19, IX.5.20 & IX.5.21. Excavated 1878 (pompeiiinpictures)
  3. Seneca: Medea (lateinlehrer)

1 Kommentar:

Ingo Bading hat gesagt…

Schon G. E. Lessing hat sich mit einem Gemälde dieser Art beschäftigt

Ergänzung 30.5.2025: Wir lesen gerade in der Schrift "Laokoon" von G. E. Lessing aus dem Jahr 1766 (Gutenb):

Unter den alten Malern scheinet Timomachus Vorwürfe des äußersten Affekts am liebsten gewählet zu haben. Sein rasender Ajax, seine Kindermörderin Medea waren berühmte Gemälde. Aber aus den Beschreibungen, die wir von ihnen haben, erhellet, daß er jenen Punkt, in welchem der Betrachter das Äußerste nicht sowohl erblickt, als hinzudenkt, jene Erscheinung, mit der wir den Begriff des Transitorischen nicht so notwendig verbinden, daß uns die Verlängerung derselben in der Kunst mißfallen sollte, vortrefflich verstanden und miteinander zu verbinden gewußt hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augenblicke genommen, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpfet. Wir sehen das Ende dieses Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloß die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungskraft gehet weit über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen Augenblicke zeigen könnte. Aber eben darum beleidiget uns die in der Kunst fortdauernde Unentschlossenheit der Medea so wenig, daß wir vielmehr wünschen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden, oder hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Überlegung die Wut entkräften und den mütterlichen Empfindungen den Sieg versichern können. Auch hat dem Timomachus diese seine Weisheit große und häufige Lobsprüche zugezogen, und ihn weit über einen andern unbekannten Maler erhoben, der unverständig genug gewesen war, die Medea in ihrer höchsten Raserei zu zeigen, und so diesem flüchtig überhingehenden Grade der äußersten Raserei eine Dauer zu geben, die alle Natur empöret. Der Dichter Philippus (Anthol. lib. IV. cap. 9. ep. 10).
Αιεὶ γὰρ διψα̃ς βρεφέων φόνον; η̃ τις ’Ιήσων
Δεύτερος, ὴ Γλαυκὴ τις πάλι σοι πρόφασις;
’Έρρε καὶ εν κηρω̃ παιδοκτόνε –,
der ihn desfalls tadelt, sagt daher sehr sinnreich, indem er das Bild selbst anredet: "Durstest du denn beständig nach dem Blute deiner Kinder? Ist denn immer ein neuer Jason, immer eine neue Kreusa da, die dich unaufhörlich erbittern? - Zum Henker mit dir auch im Gemälde!" setzt er voller Verdruß hinzu.
Damit werden wir darauf aufmerksam, daß dieses Bild aus Pompeji von Timomachus (Wiki) gemalt - oder doch zumindest von dessen Art zu malen beeinflußt gewesen sein könnte.

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