Montag, 8. Juni 2009

Um 2.000 Jahre vordatiert

Vor 30 Jahren wurde der Beginn des europäischen Neolithikums umdatiert

Ende der 1970er Jahre gab es einen sehr bedeutenden Fortschritt in der Wissenschaftsgeschichte der Vor- und Frühgeschichte, der auch von der wissenschaftsinteressierten Öffentlichkeit bis heute selten als derartig grundlegend und bedeutend wahrgenommen worden ist, als der er eigentlich wahrgenommen werden müßte: Der Beginn der Jungsteinzeit, des Neolithikums in Mitteleuropa, also der ersten seßhaften, ackerbau-treibenden Kulturen wurde um grob 2.000 Jahre vordatiert, also etwa - nach heutigem Wissensstand - auf die Zeit von 5.700 v. Ztr.. (Wikip) Zuvor hatte man sich unscharf vorgestellt, daß sich der Übergang von der Eiszeit zur Bronzezeit (etwa 3.200 v. Ztr.) in Europa sehr schnell vollzogen hätte.

- In den gleichen 1970er Jahren wurde übrigens der Beginn des Neolithikums im Vorderen Orient ebenfalls um viele Jahrtausende vordatiert. Es wurden dort die vielen Jahrtausende des "vorkeramischen Neolithikums" ("prepottery neolithic") entdeckt. Heute wissen wir: Erst als man im Vorderen Orient um 6.500 v. Ztr. herum zum keramischen Neolithikum überging, breitete sich dieses auch rund um das Mittelmeer und wenig später entlang der Atlantikküste und über das Donau- und Rheintal nach Mittel- und Nordeuropa aus, diesmal aber zumeist schon als "vollkeramisches" Neolithikum. (Ein typisches Beispiel für die Gefäßkultur der mitteleuropäischen "Bandkeramik" siehe Bild oben links.) Eine ausgeprägte, vergleichbar ausdifferenzierte Kulturstufe eines vorkeramischen Neolithikums wie im Vorderen Orient zwischen 9.500 und 6.500 v. Ztr. gibt es deshalb in Mitteleuropa gar nicht. Zu dieser Zeit gab es im urwaldartig bewachsenen Mitteleuropa die Kulturstufe des sogenannten "Mesolithikums" (Wikip), die nur durch vergleichsweise spärliche Funde belegt ist, die eine vergleichsweise niedrige Siedlungsdichte wiederspiegeln.

Mit all diesen Neudatierungen in den 1970er Jahren tauchten also immense Jahrtausende der menschliche Kulturgeschichte in unser Bewußtsein ein, von denen man zuvor trotz Jahrzehnte langer wissenschaftlicher Forschung auch nicht das mindeste ahnen konnte. Grob gesagt: Seßhafte, ackerbautreibende Kulturen gab es doppelt so lang als man es sich bis dahin vorgestellt hatte. Dieser wissenschaftsgeschichtliche Durchbruch ist bis heute nicht wirklich in unser kulturelles Bewußtsein eingegangen und deshalb auch nicht in das Bewußtsein vieler Forscher. Und deshalb führen die frühesten mitteleuropäischen neolithischen Kulturen oft immer noch ein Schattendasein im kulturellen Bewußtsein und in der wissenschaftlichen Forschung (vor allem auch in der theoriegeleiteten Forschung).

Ernst Pernicka und Richard Pittoni Ende der 1970er Jahre

Im neuesten Heft von "Spektrum der Wissenschaft" erzählt der Wiener Archäometallurge Ernst Pernicka (geb. 1950), der jüngst zum Ausgrabungsleiter von Troja ernannt wurde, - ebenfalls eher nur so am Rande und im Vorbeigehen - von diesem bedeutenden wisssenschaftsgeschichtlichen Durchbruch in den 1970er Jahren. Um noch einmal einen Vergleich zu bringen: Dieser Durchbruch ist für die Veränderung unseres Bildes von der Stellung des Menschen in der Menschheitsgeschichte ungefähr so bedeutend wie die etwa zeitgleiche astrophysikalische Entdeckung des Urknalls und der Milliarden Jahre langen Entwicklung des Weltalls insgesamt für unser Bild von der Stellung des Menschen im Kosmos überhaupt (Spektr. d. Wiss, Mai 2009, S. 61f, freies pdf.):
...
Pernicka: Nein. Es gab ein viel spannenderes Thema. Mit der damals noch jungen Radiokarbondatierung war der Beginn des europäischen Neolithikums neu bestimmt worden, und zwar um bis zu 2000 Jahre früher, als es die Archäologen bis dahin annahmen. Ich sollte mit einer neuen, unabhängigen Methode sozusagen als Schiedsrichter fungieren.

Spektrum: Tatsächlich eine gravierender Unterschied. Woher sollte eine so große Abweichung rühren?

Pernicka: Die Frühgeschichtler vertrauten auf das Netzwerk der so genannten Kulturkontaktdatierung – auch heute noch die gängigste Methode, das Alter einer schriftlosen Kultur abzuschätzen. Sie basiert vor allem auf Stilvergleichen. Grabe ich in Kreta eine ägyptische Keramik aus, kann ich diese anhand ihrer Merkmale einer ägyptischen Epoche zuweisen. Am Nil aber gab es schon sehr früh eine Schrift und einen Kalender, so dass diese Phasen datiert werden können. Und durch solche Querbeziehungen hangelten sich die Prähistoriker schrittweise von Kreta in den Ägäisraum und weiter nach Troja, von dort bis nach Südost-und Mitteleuropa.

Spektrum: Und Sie waren nun als Entscheidungsinstanz gefragt?

Pernicka: (Der Wiener Ur- und Frühgeschichtler Richard) Pittioni (siehe Bild, 1906 - 1985) erwartete natürlich, dass ich diese Neudatierung als Unsinn entlarvte. Schließlich passten die etablierten Datierungen zu theoretischen Modellen der Kulturentwicklung. Ich richtete das Labor ein, reiste von einer Grabung zur anderen, um frisches Probenmaterial zu besorgen, und nahm die Messungen vor. Und dann stand ich, damals Ende zwanzig, vor einem der angesehensten Prähistoriker seiner Zeit, holte tief Luft und erklärte ihm, der Weg der Menschheit von der letzten Eiszeit bis zum Aufkommen der Bronzetechnologie sei tatsächlich anders verlaufen als bislang gedacht. Pittioni sah mich an und meinte: Pernicka, wenn Sie mir sagen, hier stehe ich und kann nicht anders, dann glaube ich Ihnen. Das hat mir ungemein imponiert. Wir haben anschließend die europäische Chronologie im Licht der physikalischen Datierung mit der ja unstrittigen Abfolge der Kulturphasen abgeglichen. Diese revidierte Chronologie finden Sie heute in Lehr- und Schulbüchern.
Wie gesagt: Diese Umwälzung in unserem Bild von der Vorgeschichte ist nie wirklich in unserem allgemeinen kulturellen Bewußtsein angekommen. Das hat auch Auswirkungen auf so manche pseudowissenschaftlichen und esoterischen Hirngespinste, die sich in manchen Köpfen immer noch halten. - Im weiteren Interview spielen dann die Entdeckung der Himmelsscheibe von Nebra und die Ausgrabungen von Troja eine Rolle. Hier sagt Pernicka unter anderem:
Troia VI beispielsweise, der Kandidat für den sagenumwobenen Krieg, zeigt Merkmale der mykenischen wie der hethitischen Kultur, ging aber offenbar einen ganz eigenen Weg.
Deshalb möchte er umfassender an dieser Ausgrabungsstätte weiterforschen, als das bislang vorgesehen war. - Ist es nicht erstaunlich: Auf der einen Seite so viele gesellschaftliche Fehlentwicklungen in unserer Zeit und in den vielen Jahrzehnten, die ihr vorangingen. Und auf der anderen Seite ein derart umfassender, geradezu begeisternder Zuwachs an Wissen über unsere Welt und über unsere geschichtliche, evolutionäre, kosmologische Stellung in dieser. Sollte sich nicht das eine durch das andere früher oder später einmal befruchten lassen? Statt ständig immer nur die negative Seite der "Dialektik der Aufklärung" in den Vordergrund zu stellen? Dialektisches Denken erfordert, daß man beide Seiten des dialektischen Prozesses zugleich und in vollem Umfang in Rechnung stellt und ihnen bei der Formung des eigenen Weltbildes gerecht wird.

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