Was die westliche Welt alles von einem kleinen Volk im Amazonas lernen kann
Der Sprachforscher Daniel Everett, er, der den großen Sprachforscher Noam Chomsky wissenschaftlich "alt" aussehen ließ (1, 2), macht derzeit unter Atheisten, Humanisten und Naturalisten die Runde: Als christlicher Missionar besuchte er einen Indianerstamm am Amazonas. Aber statt daß er diesen Indianerstamm bekehrt hätte zu Jesus Christus und zum christlichen Glauben, wird vielmehr er selbst durch durch diesen Indianerstamm, seine Zufriedenheit, seine Fröhlichkeit von der Widersinnigkeit des Wahrheitsanspruches der christlichen Religion überzeugt.
Und ebenso von der Widersinnigkeit des Wahrheitsanspruches so mancher anderen "Religion". Etwa der "Religion" vom universalen "Sprachinstinkt" aller Menschen (Steven Pinker), der "Religion" von der "angeborenen Universalgrammatik" aller Menschen (Noam Chomsky). Sein nun auch ins Deutsche übersetztes Buch (1) ist außerordentlich lesenswert, mehr aber noch, wenn man danach die beiden in diesen Beitrag eingeflochteten Film-Dokumentationen sieht.
Der Originaltitel seines Buches sagt mehr als der Titel der deutschen Übersetzung und würde auf Deutsch lauten: "Schlaf nicht, es gibt Schlangen!" Das sagt der Indianerstamm der Piraha (Wiki) sich gegenseitig anstelle unseres: "Gute Nacht!" Und in der Tat ist das - wie so vieles andere - für uns ein etwas skurriler Gutenacht-Gruß. Aber die Piraha meinen ihn wörtlich: Die ganze Nacht hindurch redet irgendjemand im Dorf weiter und schwätzt.
Die Forschungen von Daniel Everett bestätigen die Forschungen des Sprachforschers Wilhelm von Humbold, sowie die Sapir-Whorf-Hypothese (Wiki): Die Kultur, Lebens- und Denkweise eines Volkes bestimmen die Art der von diesem Volk benutzten Sprache. Und umgekehrt bestimmt die Art der von diesem Volk benutzten Sprache die Wahrnehmungen und das Denken dieses Volkes, das auf diese Weise eine ungeheuer starke Anpassung an seine Umwelt erfährt.
Gibt es "eine" Wahrheit für "alle Völker"?
Die Piraha zeigen, daß die Theorie der angeborenen Universalgrammatik Noam Chomsky's der vorgefundenen Wirklichkeit bei den Völkern nicht gerecht wird - oder höchstens sehr unvollständig - gerecht wird: Unser Denken und unsere Wahrnehmungen sind, wie die Forschungen der letzten Jahre immer mehr erhärten, kulturell von unserer jeweiligen Muttersprache tiefgehend und einzigartig vorgebahnt. Jede Kultur, jedes Volk der Welt hat seine eigene unverwechselbare, einzigartige Sicht auf die Welt, interpretiert die Welt und das menschliche Zusammenleben auf seine ihm ganz eigenartige Weise.
Es gibt also keine Religion, keine Wahrheit, die für alle Völker auf der Welt in gleicher Weise gültig sind. Man kann sich eine sechsminütige, deutschsprachige Vorstellung des sehr lesenswerten, neu erschienen Buches von Daniel Everett über seine Forschungen und über seinen persönlichen religiösen Weg ansehen (Yt, ARD). Man kann einen Mann der Piraha sprechen hören, jenes Volkes, dem die Forschungen Daniel Everett's gelten (s. Yt oder Yt). Und es findet sich ein einstündiger (englischsprachiger) Vortrag von Daniel Everett über seine Forschungen (Fora.tv).
Von diesem Vortrag kann man sehr profitieren, um so mehr, wenn man zuvor sein Buch gelesen hat. Durch das persönliche Erzählen von Seiten Everett's bekommen die Piraha eine Lebendigkeit und damit eine Liebenswürdigkeit, daß man ihnen und ihrem Erforscher mit großer Sympathie gegenübersteht. Es gibt übrigens inzwischen viele Vortragsausschnitte, in denen Daniel Everett von seiner "Bekehrung" durch die Piraha berichtet (Beispiele: Yt1, 2, 3, ...).
Gibt es eine universelle Sprache auf dem Gebiet des Religiösen?
Ein Volk, das keine Zahlen kennt, sondern daß "per Sprache" unfähig und dem es auch ganz und gar gleichgültig ist, den Geist des Neuen Testamentes zu verstehen, bzw. seine tieferliegende religiöse Konzeption. Mit diesem Volk wird also nicht nur eine "universelle Grammatik" auf dem Gebiet der Sprache infrage gestellt, sondern auch gleich noch eine von den meisten Menschen und Wissenschaftlern heute vorausgesetzte "universelle Sprache" auf dem Gebiet der Religiosität. Daniel Everett setzt an das Ende seines Buches das Kapitel "Ein Missionar wird bekehrt" (S. 385ff). Er schreibt, wie ihn 1983 sein Piraha-Sprachlehrer eines morgens beim Kaffee ansprach:
He, Dan, ich muß mit dir reden. Die Piraha wissen, daß du deine Familie und dein eigenes Land verlassen hast, um hierherzukommen und bei uns zu leben. Wir wissen, daß du das alles getan hast, um uns von Jesus zu erzählen. Du willst, daß wir wie Amerikaner leben. Aber die Piraha wollen nicht wie Amerikaner leben. Wir trinken gern. Wir lieben nicht nur eine Frau. Wir wollen Jesus nicht. Aber wir mögen dich. Du kannst bei uns bleiben. Aber wir wollen nichts mehr von Jesus hören. Okay?
Was für ein souveränes Volk. Mit genau diesem Adjektiv bezeichnet schließlich auch Everett selbst die Piraha (S. 396).
"Wir wollen nichts mehr von Jesus hören. Okay?"
Aber in einem neuen Anlauf und mit sehr ernster Miene nannte Everett den Piraha irgendwann später seine persönlichen Gründe, wie er zum Glauben an Jesus Christus gekommen sei. Everett war nämlich "bekehrt" worden, so erzählte er ihnen sehr ernst, unter anderem durch den Selbstmord seiner Stiefmutter. Davon erzählte er den Piraha mit bewegten Worten ausführlicher. Und er endete:
Ich erklärte, dies sei eine sehr ernste Geschichte.
Als ich geendet hatte, brachen die Piraha in Gelächter aus. Das kam, gelinde gesagt, unerwartet. Ich (...) rechnete damit, daß mein Publikum ehrlich beeindruckt war: Ich hatte Schlimmes durchgemacht, und Gott hatte mich da herausgeholt.
"Warum lacht ihr?", fragte ich.
"Sie hat sich selbst umgebracht? Ha ha ha. Wie dumm von ihr. Piraha bringen sich nicht selbst um."
Sie waren nicht im Mindesten beeindruckt. Die Tatsache, daß ein mir nahestehender Mensch sich das Leben genommen hatte, war für sie ganz eindeutig keinerlei Grund, an meinen Gott zu glauben. Ganz im Gegenteil: Es hatte genau die entgegengesetzte Wirkung.
Souveräne, vorbildliche Menschen. Nicht im geringsten lassen sie sich in ihrer eigenen Wertewelt erschüttern. Tod ist ein trauriges Ereignis für Piraha, wie auch Everett berichtet. Aber sie haben keine Angst vor ihm. Und so souverän, eigenständig in ihrem Wertesystem, so wirken sie auch in den Videoaufnahmen. Warum kommen uns die Menschen gerade überall dort mitunter so vorbildlich vor, wo Weltreligionen wie Christentum oder Islam noch nicht hingekommen sind? Was hat das Christentum, was hat der Islam mit den Menschen gemacht? Warum diese schlotternde Angst vor dem Tod? Warum dieses unwürdige Kriechen vor ihm?
Waren unsere eigenen heidnischen Vorfahren möglicherweise in früheren Zeiten auch einmal souveräner und in ihrer Wertewelt eigenständiger und haben "Missionare" einfach nur - - - ausgelacht? Und welche Macht maßen sich heute noch diese monotheistischen Interessenklüngel in der westlichen Welt an ... Was geht es sie an, was andere Leute glauben? Warum sagen wir ihnen nicht auch einfach:
Ihr könnt bleiben. Aber wir wollen nichts mehr von Jesus hören. Okay?
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- Everett, Daniel: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas. Deutsche Verlags-Anstalt, 15. Februar 2010 (Bücher)
- Henk, Malte: Gixai kaxaxai - Die Sprache der Piraha. In: Geo, 1/2010, S. 48 - 70 (im Netz eine --> zu kurze Version - aber mit Video und Hörbeispielen)
- Weigmann, Katrin: Beeinflußt Sprache unser Denken? (Spektrumdirekt, 23.3.2007)