Ein Mensch, der verzweifelt
Hier einmal wieder nach langer Zeit ein "Videoblog". Und zwar - eher zufällig - über den rumänischen Schriftsteller Emil Cioran (1911-1995) (Wiki).
Es scheint sich ja doch allmählich zu einer Bildungslücke auszuwachsen, wenn man Cioran und seine Essay's nicht kennt. Hier auf dem Blog war 2010 das erste mal von ihm die Rede aufgrund einer anonymen Zuschrift (GA-j! 2010). Seither lag einem dieser Cioran etwas quer im Magen, da er in Zusammenhängen erwähnt worden war, durch die nicht gerade das günstigste Licht auf ihn hatte fallen können.
Radiosendung von 2006, mit deutschen Tonaufnahmen von E.M.Cioran |
Ergänzend zu dem im Videoblog Gesagten hier noch ein Verweis zu (kurzen) deutschen Tonaufnahmen von Cioran, sowie einige Zitate aus der genannten Einführung.
Cioran über Musik und Utopien
1936 schreibt Cioran so schöne Worte über die Musik wie die folgenden (zit. n. 1, S. 42f):
Der musikalische Zustand verknüpft in dem Einzelnen absoluten Egoismus mit höchsten Edelmut. Du willst nur du selbst sein, doch nicht um eines kleinlichen Dünkels, sondern um eines erhabenen Strebens nach Einheit, eines Aufbrechens der Schranken der Individuation willen, nicht jedoch im Sinne des Verschwindens des Individuums, sondern der Auflösung der vom Sein der Welt auferlegten einschränkenden Bedingungen.
Und:
Wenn wir mit Bach die Sehnsucht nach dem Paradies fühlen, so sind wir mit Mozart darin. Diese Musik ist wahrhaft paradiesisch. Ihre Harmonien sind Lichttanz im Ewigen. Mozart kann uns lehren, was der anmutige Begriff der Ewigkeit bedeutet. Eine Welt ohne Zeit, ohne Schmerz, ohne Sünde.
1960 schreibt er über die Utopie (zit. n. 1, S. 81):
Was in den utopischen Erzählungen am meisten auffällt, ist das Fehlen von Gespür, von psychologischem Instinkt. Die Personen darin sind Automaten, Fiktionen oder Symbole: keine ist wahr, keine geht über den Wirklichkeitsgrad einer Strohpuppe hinaus, einer mitten in weglosen Welten verlorenen Idee. (...) Die Utopie ist dem Anomalen, dem Formlosen, dem Unregelmäßigen feindlich gesinnt und strebt nach der Festigung des Homogenen, des Typischen, der Wiederholung und der Orthodoxie. Aber das Leben ist Bruch, Ketzerei, Abweichung von Normen der Materie. Und der Mensch ist im Verhältnis zum Leben eine Ketzerei zweiten Grades ...
Cioran über das Böse als Urgrund der Welt
Deutlich wird, dass Cioran insgesamt daran scheitert, den Sinn der menschlichen Unvollkommenheit und des menschlichen Leides zu deuten. Dass er es für geraten hielt, bestimmten Erfahrungen nicht weiter nachzugehen, hat er einmal 1973 in folgende Worte gefaßt (zit. n. 1, S. 104):
Als ich zu später Stunde in dieser baumgesäumten Allee spazierte, fiel eine Kastanie mir zu Füßen. Das Geräusch, mit dem sie zersprang, das Echo, das es in mir weckte, und eine Ergriffenheit, die zu einem so winzigen Zwischenfall in keinem Verhältnis stand, tauchten mich ins Wunder, in die Trunkenheit des Endgültigen, als gäbe es keine Fragen mehr, nur noch Antworten. Ich war trunken von tausend unerwarteten Evidenzen, mit denen ich nichts anzufangen wusste … So rührte ich beinahe an das Äußerste. Doch hielt ich es für geraten, meinen Spaziergang fortzusetzen.
- - - Der Gedanke Mathilde Ludendorffs, dass die menschliche Unvollkommenheit und das von Menschen anderen Menschen zugefügte Leiden Folgen der letztlich notwendigen menschlichen Freiheit zu Gut und Böse sind und in diesem Sinne "Sinn" machen, in diesem Sinne - mitunter - mit ihnen versöhnen können, diesem Gedanken scheint Cioran womöglich sogar recht bewußt nicht nachgegangen zu sein. Dieser Gedanke hätte wohl sein Leben zu sehr "ändern" müssen ...
Lieber hielt er da insgesamt an seinem tiefen und ehrlichen Verzweifeln an der Welt fest und an seiner 1969 erörterten Vermutung, die Schöpfung des Weltalls selbst könne nicht größtenteils aus dem Willen zum Guten, sondern müsse vor allem aus dem Willen zum Bösen heraus erfolgt sein (1, S. 93ff).
Letzteres natürlich ein Gedanke, dem alle elitären und schnöseligen Satanisten dieser Welt viel abgewinnen können. Weshalb der grundehrlich und aufrecht anmutende Schriftsteller Cioran offenbar so gerne von ihnen mißbraucht wird - sicherlich sogar zur Rechtfertigung ihrer Taten und ihres Nichttuns, sicherlich auch so wie es 2010 auch aus der genannten Zuschrift herausklang (GA-j! 2010). Und so wie es gerne bei vielen rechtskonservativen, rechtschristlichen Untergangspropheten herausklingt (etwa rund um "JF", "EF", "Sezession" usw.).
Gegen einen solchen Mißbrauch hat sich Cioran dann womöglich doch nicht mit genügender Schärfe verwahrt, ja, ihm etwa mit seiner Rechtfertigung der Röhm-Morde durch die Nazis (s. Wiki) sogar mitunter recht deutlichen Vorschub gegeben.
(Ergänzung, 1.5.15:) Vielleicht passen diese Worte Hölderlins aus dem "Hyperion" ganz gut auf Cioran:
Gegen einen solchen Mißbrauch hat sich Cioran dann womöglich doch nicht mit genügender Schärfe verwahrt, ja, ihm etwa mit seiner Rechtfertigung der Röhm-Morde durch die Nazis (s. Wiki) sogar mitunter recht deutlichen Vorschub gegeben.
(Ergänzung, 1.5.15:) Vielleicht passen diese Worte Hölderlins aus dem "Hyperion" ganz gut auf Cioran:
Der Mensch, begann ich wieder, der nicht wenigstens im Leben Einmal volle lautre Schönheit in sich fühlte, wenn in ihm die Kräfte seines Wesens, wie die Farben am Irisbogen, in einander spielten, der nie erfuhr, wie nur in Stunden der Begeisterung alles innigst übereinstimmt, der Mensch wird nicht einmal ein philosophischer Zweifler werden, sein Geist ist nicht einmal zum Niederreißen gemacht, geschweige zum Aufbauen. Denn glaubt es mir, der Zweifler findet darum nur in allem, was gedacht wird, Widerspruch und Mangel, weil er die Harmonie der mangellosen Schönheit kennt, die nie gedacht wird. Das trockne Brot, das menschliche Vernunft wohlmeinend ihm reicht, verschmähet er nur darum, weil er ingeheim am Göttertische schwelgt. Schwärmer! rief Diotima, darum warst auch du ein Zweifler. ...
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- Reschika, Richard: E. M. Cioran zur Einführung. Junius, Hamburg 1995