Abb. 10: Die Moltkebrücke, rechts das Generalstabsgebäude rückseitig von der Spree aus gesehen nach seiner bis 1882 erfolgten Erweiterung (1886)
Die "Stoeckerei" der Waldersee-Clique, ein frömmelnder Betkreis im Generalstabsgebäude, wirkt mit am Sturz Bismarcks
Nicht nur geben sich die heutigen Berliner Regierenden bis tief in die SPD hinein betont christlich, nicht nur stand der Generalstabschef Helmut von Moltke, der Jüngere, über seine Frau unter überdurchschnittlichen religiösen Einflüssen von Seiten Dritter (Rudolf Steiner und andere), auch schon die Aktivitäten seines Vorgängers Graf Alfred von Waldersee (1832 - 1904) zwischen 1882 und 1891 scheinen von ebensolchen religiöse Einflüssen - ebenfalls über die Ehefrau - bestimmt gewesen zu sein (Bürger-Kaiser, 2008):
Die Waldersees bezogen im April 1882 ihre (...) Dienstwohnung im zweiten und dritten Stock des Generalstabsgebäudes in der Herwarthstraße 2, dem Roten Haus, wie die Berliner es nannten.
Im Salon der Waldersees im Generalstabsgebäude wurde parliert und gebetet. Vorbeter war Hofprediger Adolf Stoecker.
Wilhelm II., das hatten die Gräfin Waldersee und ihr frömmelnder Betkreis sich in den Kopf gesetzt, sollte ein christlicher Herrscher und Wahrer des Glaubens sein.
Auch diese fast entscheidenden religiösen Einflüsse auf die Politik, die zum Sturz Bismarcks führten, machen sich selbst Geschichtsbewußte wohl selten ausreichend bewußt. Jedenfalls begann mit ebendiesen frömmelnden Akivitäten des Ehepaares Waldersee, das in beiden Teilen gut befreundet war mit dem nachmaligen Kaiser Wilhelm II. und seiner Frau, der "Kirchenguste", jene Destabilisierungen des deutschen Kaiserreiches und damit der europäischen Verhältnisse - durch das Säen von Mißtrauen gegenüber Bismarck Vater und Sohn und durch das Fördern von reichsdeutschem Imperialismus -, die dann im 20. Jahrhundert die bekannten langfristigen, frömmelnden "Erfolge" zeitigen sollten. Über diese Aktivitäten nun heißt es auf Wikipedia:
1882 wurde Waldersee Generalquartiermeister und damit Stellvertreter Helmuth Graf von Moltkes im Großen Generalstab. Moltke hatte ihn persönlich ausgesucht und baute ihn in der Folge zu seinem Nachfolger auf; in den letzten Jahren ließ er ihm relativ freie Hand, da er in hohem Alter nicht mehr die administrative Führung seines Amtes ausüben wollte und in Waldersee einen geeigneten Offizier sah, der ihn ersetzen konnte.
Die 1885/86 entwickelten Strategien für einen Präventivkrieg gegen Rußland und Frankreich für den Fall eines Bündnisses zwischen beiden Staaten (wie sie später Schlieffen weiterentwickelte) gerieten zunehmend in den Widerspruch zur Außenpolitik des Reichskanzlers Fürst Otto von Bismarck. 1887 forderte Waldersee dann erneut, einen Präventivkrieg gegen Rußland zu überdenken, verbunden mit Annäherungen an das konservative Lager um Adolf Stoecker (er und seine Frau engagierten sich sehr in der Berliner Stadtmission) und Prinz Wilhelm, den späteren Kaiser. 1888, nach dem Amtsantritt Wilhelms II., wurde Waldersee Nachfolger Moltkes (auf dessen ausdrücklichen Wunsch) als Chef des Generalstabs. In dieser Position stärkte er das Militär gegenüber der Politik (Kriegsministerium und Reichsleitung) und wirkte am Sturz Bismarcks 1890 aktiv mit. Waldersee wurde aber nicht, wie von ihm selbst erhofft, Bismarcks Nachfolger.
Es ist auffallend, daß die "graue Eminenz" des deutschen Reiches, daß Friedrich von Holstein, auf der Seite dieser unheilvollen Pläne stand:
In Deutschland plädierten einflußreiche Persönlichkeiten aus Militär und Diplomatie wie Friedrich von Holstein, Helmuth Karl Bernhard von Moltke und Alfred von Waldersee für einen Präventivkrieg gegen Rußland.
Und noch auffallender ist, daß noch 1965 in deutschen rechtskonservativ-bigotten Kreisen die Präventivkriegspläne Waldersee's grotesk-befremdend positiv gewürdigt worden sind (Johannes F. Barnick im Seewald-Verlag). Und auffallend ist ebenso, daß der "expressionistische" Worpsweder Künstler Bernhard Hoetger 1915 für die Freimaurerstadt Hannover (der Heimatstadt Hindenburgs) ein Waldersee-Denkmal geschaffen hat, das Waldersee als einen Tempelritter ("Kreuzritter") darstellt. Bernhard Hoetger, in dessen Werken auch buddhistische Einflüsse wirksam sind, hat 1922 als Kriegerdenkmal einen sogenannten "Niedersachsenstein" geschaffen, der - wie manche anderen seiner "sehr expressionistischen" Kunstwerke - einen noch heute außerordentlich befremdlichen "Geist" ausstrahlt. Es ist nicht besonders fernliegend, als gemeinsamen kausalen Nenner all dieser Erscheinungen die Einflüsse freimaurerischer Okkultlogen zu vermuten. Und da es bis heute Vermutungen darüber gibt, daß Kaiser Friedrich III. keines natürlichen Todes gestorben ist, könnten an die damaligen politischen Vorgänge viele weitere Mutmaßungen angeschlossen werden. - Übrigens berichtet der Historiker Franz Herre über den Moltke der letzten Jahre auch (1984, S. 376):
Moltke betrachtete Waldersee nicht ohne Mißtrauen, aber er war zu müde geworden, um die Zügel noch straff zu führen, und so alt, daß er selbst eine Entlastung, die ihn belastete, hinnahm. Es fiel ihm schwer, sich an neue Gesichter zu gewöhnen und in neue Verhältnisse zu finden. Waldersee brachte neue Leute mit. (...) Nicht nur in den Amtsstuben, auch in den Privaträumen des Generalstabsgebäudes gab es Veränderungen.
Da wäre wohl noch manches zu finden, wenn man weiter recherchieren würde. Wie man überhaupt - das wird einem durch die Inhalte des vorliegenden Beitrags vielleicht erstmals vollumfänglich bewußt gemacht - in der Kenntnisnahme geschichtlicher Entwicklungen die Biographie Bismarcks parallel zu Biographien wie denen von Moltke dem Älteren oder auch Wilhelm II. sehen muß und auch parallel zu den Örtlichkeiten in der Wilhelmsstraße und im Bezirk Tiergarten, wo sich die meisten politischen Ereignisse jener Zeit abgespielt haben. Erst dann wird das Bild der "Kaiserzeit" vollständig "rund".
"Waldersee-Konferenz" 1887
Aber das unheilvolle Wirken des Grafen Waldersee und derjenigen hinter ihm, die diesem Wirken positiv gegenüber standen, ist damit noch keineswegs ausreichend charakterisiert. Im November 1887 fand im Generalstabsgebäude eine für die Beteiligten später außerordentlich diskreditierende Konferenz statt über die sozial- und kirchenpolitische Arbeit des Dom- und Hofpredigers Adolf Stöcker. Sie stellte den ersten deutlicheren Schritt zur Entfremdung zwischen Bismarck und dem nachmaligen "christlichen" Kaiser Wilhelm II. dar, jener Entfremdung, die schließlich drei Jahre später zur Entlassung Otto von Bismarcks - und seines vorgesehenen Nachfolgers Herbert von Bismarcks - führen sollte. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2001 werden diese Vorgänge folgendermaßen zusammengefaßt (T. Benner, S. 81 - 89):
Waldersee war mit einer streng religiösen Amerikanerin verheiratet, einer Freundin Prinzessin Auguste Victorias, der Gemahlin des Prinzen. Kirchenpolitisch stand Waldersee dem Hofprediger und Politiker Adolf Stoecker sehr nahe, den er maßgeblich unterstützte. Bereits Anfang der 80er Jahre hatte der Hofprediger ein durchaus enges Verhältnis zum Prinzenpaar gewonnen, eine Beziehung, die von gegenseitiger Sympathie getragen war. (...) Die Verbindung mit dem Geistlichen sollte für Wilhelm zum Anlaß eines scharfen Konflikts mit dem Reichskanzler werden. Als die unheilbare Krankheit Kronprinz Friedrich Wilhelms im November 1887 publik wurde, war allen politisch maßgeblichen Kreisen klar, daß nach dem Tode Wilhelms I. nur ein kurzes Interregnum durch desssen krebskranken Sohn würde stattfinden können. (...) So wurde Wilhelm (...) zum Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. (...) Noch im gleichen Monat, am 28. November 1887, präsidierte Wilhelm einer kirchenpolitischen Versammlung im Hause Waldersees
- gemeint ist das Generalstabsgebäude -,
die der sozialkaritativen Arbeit Stoeckers gewidmet war. Daß der präsumptive spätere Kaiser wie ein Privatmann an einer Aktion der Berliner Stadtmission teilnahm, die nun einmal von dem politisch exponierten Stoecker geleitet wurde, konnte Bismarck gerade in der Phase des zuende gegangenen Kulturkampfs überhaupt nicht nachvollziehen. Erschwerend kam hinzu, daß die Versammlung bei Waldersee stattgefunden hatte, einem erklärten Kriegstreiber und Gegner der Bismarckschen Diplomatie der Balance der Mächte. Der Beginn der Krise zwischen Wilhelm II. und Bismarck (...) läßt sich hier festmachen. (...) Um sich zu verteidigen, schrieb Wilhelm - unter Beratung Waldersees - am 21. Dezember an Bismarck, daß die geplante Ausdehnung der Arbeit der Stadtmissionen nicht unter Leitung Stoecker stehen werde und parteiübergreifend sei. (...)
Der Reichskanzler antwortete am 6. Januar 1888.
Diese Antwort Bismarcks enthält so viele "goldene Worte" über das Wesen des Priestertums an sich und des protetantischen Priestertums im Besonderen, daß es auf diesem Blog unmöglich ist, es zu unterlassen, aus derselben hier sehr ausführlich zu zitieren. Ein priesterkritisches Schreiben Bismarcks - Januar 1888Auf die Tatsache, daß es sicherlich schon damals eine enge Verquickung gegeben hat zwischen der Freimaurerei und der protestantischen Priesterschaft, geht Bismarck darin zwar nicht ein, ihre Berücksichtigung würde aber die Aussagen Bismarcks nur verstärken. Verstehen sich doch auch die Freimaurer - zumindest in den Hochgraden - oft noch viel bewußter als okkulte "Priester" denn viele protestantische Pfarrer. Diese Antwort hat Otto von Bismarck im 1919 erschienenen dritten Band seiner "Gedanken und Erinnerungen" abgedruckt ebenso wie die Briefe Wilhelms, auf die er dabei antwortet (vgl. Zeno). Dort hat er auch die Begleitumstände seiner Antwort noch genauer geschildert. Im folgenden sei aber nur aus dem Antwortbrief Bismarcks selbst zitiert (Hervorhebungen nicht im Original):
Die Opposition im Parlament würde eine ganz andere Kraft gewinnen, wenn die bisherige Geschlossenheit des Bundesrates aufhörte und Bayern und Sachsen mit (Eugen) Richter und (Ludwig) Windthorst gemeinsame Sache machten.
Eugen Richter war der langjährige wichtigste Redner der linksliberalen, Ludwig Windthorst der christ-katholischen Gegner Bismarcks im Deutschen Reichstag. Ihnen unterstellte Bismarck immer wieder die Bereitschaft und den Willen, die Einheit und den Bestand des von ihm geschaffenen Deutschen Reiches zu gefährden. Bismarck weiter:
Der nationale Gedanke ist auch den Sozial- und anderen Demokraten gegenüber, auf dem Lande vielleicht nicht, aber in den Städten stärker als der christliche. Ich bedauere es, sehe aber die Dinge, wie sie sind. Die festeste Stütze der Monarchie suche ich aber in beiden nicht,
- also weder im Christentum, noch im nationalen Gedanken -
sondern in einem Königtum, dessen Träger entschlossen ist, nicht nur in ruhigen Zeiten arbeitsam mitzuwirken an den Regierungsgeschäften des Landes, sondern auch in kritischen lieber mit dem Degen in der Faust auf den Stufen des Thrones für sein Recht kämpfend zu fallen, als zu weichen. Einen solchen Herrn läßt kein deutscher Soldat im Stich, und wahr bleibt das alte Wort von 1848 'gegen Demokraten helfen nur Soldaten'. Priester können dabei viel verderben und wenig helfen; die priesterfrommsten Länder sind die revolutionärsten, und 1848 standen in dem gläubigen Pommerlande alle Geistlichen zur Regierung, und doch wählte ganz Hinterpommern sozialistisch, lauter Tagelöhner, Krüger und Eieraufkäufer. Ich komme damit auf den Inhalt des gnädigen Schreibens vom 21. v.M. und beginne am liebsten mit dem Schlusse desselben und dem Ausdruck des Bewußtseins, daß Friedrich der Große Ew. Ahnherr ist, und bitte Höchstdieselben, ihm nicht bloß als Feldherr, auch als Staatsmann zu folgen. Es lag nicht in der Art des großen Königs, sein Vertrauen auf Elemente wie das der inneren Mission zu setzen; die Zeiten sind heut freilich andere, aber die Erfolge, welche durch Reden und Vereine gewonnen werden, auch heut keine dauernden Unterlagen monarchischer Stellungen; für sie gilt das Wort, 'wie gewonnen so zerronnen'. Beredtsamkeit der Gegner, giftige Kritik, taktlose Mitarbeiter, deutsche Zanksucht und Mangel an Disziplin bereiten der besten und ehrlichsten Sache leicht einen betrübten Ausgang. Mit solchen Unternehmungen wie die 'Innere Mission', besonders in der Ausdehnung wie sie beabsichtigt ist, sollte meines untertänigsten Dafürhaltens Ew. Name nicht in solche Verbindung treten, daß er von dem möglichen Mißerfolge mitbetroffen würde. Der Erfolg entzieht sich aber jeder Berechnung, wenn die Verbindung sich auf alle großen Städte ausdehnt und also die Elemente und Richtungen alle in sich aufnimmt, welche in den Lokalverbänden schon vorhanden sind oder in sie eindringen werden. In solchen Vereinen ist schließlich nicht der sachliche Zweck für das wirkliche Ergebnis maßgebend, sondern die darin leitenden Personen drücken ihnen Stempel und Richtung auf. Das werden Redner und Geistliche sein, vielfach auch Damen, lauter Elemente, die zu einer politischen Wirksamkeit im Staate nur mit Vorsicht verwendbar sind und von deren Wohlverhalten und Takt ich die Meinung des Volkes über seinen künftigen König in keiner Weise abhängig wissen möchte. Jeder Fehler, jedes Ungeschick, jeder Uebereifer in der Vereinstätigkeit wird den republikanischen Blättern Anlaß geben, den hohen Protektor des Vereins mit dessen Verirrungen zu identifizieren.
Ew. führen eine stattliche Zahl achtbarer Namen als einverstanden mit höchstdero Beteiligung (an der Waldersee/Stöcker-Versammlung) an. Unter denselben finde ich einmal keinen, dem ich die Verantwortung für die Zukunft des Landes isoliert zumuten möchte; dann aber fragt sich, wie viele von den Herren ein Interesse an der inneren Mission betätigen würden, wenn sie nicht wahrgenommen hätten, daß Ew. und die Frau Prinzessin der Sache höchstihre Teilnahme zuwenden. Ich bin nicht bestrebt, Mißtrauen zu wecken, wo Vertrauen besteht; aber ein Monarch kann ohne einiges Mißtrauen erfahrungsgemäß nicht fertig werden, und Ew. stehen dem hohen Berufe zu nahe, um nicht jedes Entgegenkommen daraufhin zu prüfen, ob es der Sache gilt, um die es sich gerade handelt, oder dem künftigen Monarchen und dessen Gunst. Wer von Ew. Vertrauen in der Zukunft etwas begehren will, der wird heut schon streben, eine Beziehung, ein Band zwischen sich und dem künftigen Kaiser herzustellen; und wie viele sind ohne geheimen Wunsch und Ehrgeiz? und auch für den, der es ist, bleibt in unsern monarchisch gesinnten Kreisen das Streben nicht ohne Wirkung, in irgend welchem nähern Verhältniß zum Monarchen zu stehen. Das Rote Kreuz und andere Vereine würden ohne I.M. die Kaiserin so viele Teilnahme nicht finden; das Verlangen, zum Hofe in Beziehung zu stehen, kommt der Nächstenliebe zu Hilfe. Das ist auch erfreulich und schadet der Kaiserin nicht. Anders ist es mit Thronerben. Unter den Namen, die Ew. nennen, ist keiner ganz ohne politischen Beigeschmack, und der Bereitwilligkeit, den Wünschen des hohen Protektors zu dienen, liegt die Hoffnung zu Grunde, sich oder der Fraktion, der man angehört, den Beistand des künftigen Königs zu gewinnen. Ew. werden nach der Thronbesteigung die Männer und die Parteien mit Vorsicht und mit wechselnden Treffen nach höchsteigenem Ermessen benutzen müssen, ohne die Möglichkeit, äußerlich einer unserer Fraktionen Sich hinzugeben. Es gibt Zeiten des Liberalismus und Zeiten der Reaktion, auch der Gewaltherrschaft. Um darin die nötige freie Hand zu behalten, muß verhütet werden, daß Ew. schon als Thronfolger von der öffentlichen Meinung zu einer Parteirichtung gerechnet werden. Das würde nicht ausbleiben, wenn höchstdieselben zur inneren Mission in eine organische Verbindung treten, als Protektor. (...) Schon in dem Namen 'Mission' liegt ein Prognostikon dafür, daß die Geistlichkeit dem Unternehmen die Signatur geben wird, selbst dann, wenn das arbeitende Mitglied des Comité nicht ein General-Superintendent sein würde. Ich habe nichts gegen Stöcker; er hat für mich nur den einen Fehler als Politiker, daß er Priester ist, und als Priester, daß er Politik treibt. Ich habe meine Freude an seiner tapferen Energie und an seiner Beredsamkeit, aber er hat keine glückliche Hand; die Erfolge, die er erreicht, bleiben momentan, er vermag sie nicht unter Dach zu bringen und zu erhalten; jeder gleich gute Redner, und deren gibt es, entreißt sie ihm; zu trennen von der innern Mission wird er nicht sein, und seine Schlagfertigkeit sichert ihm den maßgebenden Einfluß darin auf seine Amtsbrüder und die Laien. Er hat sich bisher einen Ruf erworben, der die Aufgabe, ihn zu schützen und zu fördern, nicht erleichtert; jede Macht im Staate ist stärker ohne ihn als mit ihm, in der Arena des Parteikampfes aber ist er ein Simson. Er steht an der Spitze von Elementen, die mit den Traditionen Friedrichs d. Gr. in schroffem Widerspruch stehen, und auf die eine Regierung des Deutschen Reiches sich nicht würde stützen können. Mir hat er mit seiner Presse und seiner kleinen Zahl von Anhängern das Leben schwer und die große konservative Partei unsicher und zwiespältig gemacht. Die 'Innere Mission' aber ist ein Boden, aus dem er wie der Riese Antäus stets neue Kräfte saugen und auf dem er unüberwindlich sein wird. Die Aufgabe Ew. und höchstihrer dereinstigen Minister würde wesentlich erschwert werden, wenn sie die Vertretung der 'inneren Mission' und der Organe derselben in sich schließen sollte. Der evangelische Priester ist, sobald er sich stark genug dazu fühlt, zur Theokratie ebenso geneigt wie der katholische, und dabei schwerer mit ihm fertig zu werden, weil er keinen Papst über sich hat. Ich bin ein gläubiger Christ, aber ich fürchte, daß ich in meinem Glauben irre werden könnte, wenn ich, wie der Katholik, auf priesterliche Vermittlung zu Gott beschränkt wäre. (...)
Alle Vereine, bei welchen der Eintritt und die Thätigkeit der einzelnen Mitglieder von diesen selbst abhängig ist und von ihrem guten Willen und persönlichen Ansichten, sind als Werkzeuge zum Angreifen und Zerstören des Bestehenden sehr wirksam zu verwenden, aber nicht zum Bauen und Erhalten. Jeder vergleichende Blick auf die Ergebnisse konservativer und revolutionärer Vereinstätigkeit überzeugt von dieser bedauerlichen Wahrheit. Zum positiven Schaffen und Erhalten lebensfähiger Reformen ist bei uns nur der König an der Spitze der Staatsgewalt auf dem Wege der Gesetzgebung befähigt. Die Kaiserliche Botschaft bezüglich sozialer Reformen wäre ein toter Buchstabe geblieben, wenn ihre Ausführung von der Tätigkeit freier Vereine erwartet worden wäre; die können wohl Kritik üben und über Schäden Klage führen, aber heilen können sie letztere nicht. Das sichere Mißlingen ihrer Unternehmungen können die Vereinsmitglieder um so leichter tragen, als jeder nachher den Andern anklagt; einen Thronfolger als Protektor aber trifft es schwerer in der öffentlichen Meinung. Mit Ew. in einem Verein zu sein, ist für jedes andere Mitglied ehrenvoll und nützlich ohne jedes Risiko; nur für Ew. tritt das umgekehrte Verhältnis ein; jedes Mitglied fühlt sich gehoben und macht sich wichtig mit dem Vereinsverhältnis zum Thronerben, und Letzterer hat allein als Gegenleistung für die Bedeutung, welche er dem Verein verleiht, Nichts als die Gefahr des Mißlingens durch Anderer Schuld. Aus dem anliegenden Ausschnitt der freisinnigen Zeitung, der mir heut zugeht, wollen Ew. huldreich ersehn, wie schon heut die Demokratie bemüht ist, hochdieselben mit der sogenannten christlichsozialen Fraction zu identifiziren. Sie druckt die Sätze gesperrt, durch welche Ew. und meine Beziehungen zu dieser Fraktion in's Publikum gebracht werden sollen. Das geschieht von der freisinnigen Zeitung doch gewiß nicht aus Wohlwollen oder um der Regierung des Kaisers einen Dienst zu erweisen. 'Religiöse und sittliche Bildung der Jugend' ist an sich ein ehrenwerter Zweck, aber ich fürchte, daß hinter diesem Aushängeschild andere Ziele politischer und hierarchischer Richtung verfolgt werden. Die unwahre Insinuation des Pastors Seydel, daß ich ein Gesinnungsgenosse sei und ihn und seine Genossen vorzugsweise als Christen betrachtete, wird mich zur Widerlegung nötigen, und dann wird es offenbar werden, daß zwischen den Herrn und mir das Verhältnis ziemlich dasselbe ist wie mit jeder anderen Opposition gegen die jetzige Regierung Sr. Majestät.
Ich (...) habe seit 20 Jahren zu viel unter der Giftmischerei der Herren von der Kreuzzeitung und den evangelischen Windthorsten gelitten, um in Kürze von ihnen reden zu können. Ich schließe dieses überlange Schreiben mit meinem unterthänigen und herzlichen Danke für die Gnade und das huldreiche Vertrauen, welches Ew. Schreiben mir bekunden.
Zumindest oberflächlich betrachtet scheint sich Wilhelm als Kaiser an viele Ratschläge dieses Briefes während seiner Regierungszeit gehalten zu haben. - Allerdings war es in jedem Fall priesterliches Wirken, das die Entfremdung zwischen dem Prinzen Wilhelm und Bismarck ausgelöst hatte, und das mit imperialistischen Präventivkriegsabsichten zumindest nicht unvereinbar war - sondern eher im Gegenteil. Es scheint nicht, als ob diese Umstände seither schon ausreichend durch die Geschichtswissenschaft gewürdigt worden wären und ins allgemeine Geschichtsbewußtsein eingegangen wären. - Und deuten sich nicht auch Parallelen an zu heutigen deutschen "Präventivkriegen", die an exakt dieser Örtlichkeit beschlossen werden von allerchristlichsten (anthroposophischen oder freimaurerischen) Bundeskanzlern, Bundespräsidenten, Bundestagspräsidenten, Verteidigungsministern, Innenministerns, Staatssekretären, Fraktionsvorsitzenden und Abgeordneten? Von den großen Druck- und Fernsehmedien ganz zu schweigen? - Der Kaiser Wilhelm I. hatte Waldersee noch 1887 eine Rüge darüber ausgesprochen, daß er eine solche Versammlung im Generalstabsgebäude veranstaltet hatte (Im Ring der Gegner Bismarcks, 1943, S. 280). Und offenbar als Folge derselben ist noch im Jahr 1912 im Handwörterbuch "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" die Verantwortlichkeit Wilhelms für diese Veranstaltung vertuscht, bzw. widerspruchsvoll kleingeredet worden - so peinlich ist sie also noch im Jahr 1912 offiziell von allen Beteiligten - insbesondere von der Priesterschaft - empfunden worden:
Zum 28. November 1887 beriefen Prinz und Prinzessin Wilhelm von Preußen (das jetzige Kaiserpaar) in das Generalstabsgebäude zu Berlin zum Grafen Waldersee eine aus etwa 50 Herren und einigen Damen bestehende Versammlung. Zweck und Aufgabe dieser Versammlung bezeichnete der Prinz in einer freien Ansprache dahin: In den großen Volksmassen, namentlich der großen Städte, nehmen die Umsturzideen immer mehr überhand.
Dem sollte das "christlich-soziale" Wirken Stoeckers entgegengestellt werden. Entgegen der Erwartungen des Prinzen aber, so das Handwörterbuch, der Stöcker ursprünglich zu dieser Versammlung gar nicht hatte einladen wollen (!), ergriff derselbe aber dann dennoch auf dieser Versammlung sogar selbst das Wort (!), um über seine Arbeit in der "Stadtmission" zu berichten. Eine reichlich unglaubwürdige Darstellung. Insbesondere das 1912 noch in vollem Umfang in Tätigkeit sich befindende langjährige sozial- und kirchenpolitische Engagement der Prinzessin und nachmaligen Kaiserin Auguste Viktoria ("Beruf Kaiserin")
nahm mit der "Waldersee-Konferenz" am 28.11.1887, die im Berliner Generalstabsgebäude (...) stattfand, ihren Anfang. Darin lag eine dezidierte Popularisierungsstrategie des eigenen monarchischen Images, welche das Kronprinzenpaar im rechtskonservativen Lager der "Kreuzzeitungs-Partei" verankerte. Ziel war es, sich eindeutig von der eher liberalen Gesinnung des kurzzeitigen Kaiserpaares Friedrich und Victoria abzusetzen.
Der von der "Kirchenguste", also der nachmalige Kaiserin Auguste Viktoria geförderte
protestantische Kirchenbau in Berlin und Preußen war eine nationalpatriotische Angelegenheit geworden, weil er seit der "Waldersee-Konferenz" in bewußtem Gegensatz zur Sozialdemokratie (...) positioniert worden war.
Um so mehr man von diesen Zusammenhängen erfährt, um so unheimlicher werden sie einem (G. Herm, 1964, S. 234):
Immer zielstrebiger begann Mary (von Waldersee) in den letzten Wochen der Regierungszeit Friedrichs III. die Feinde des Reichsgründers um sich zu versammeln. Baron Holstein, die "graue Eminenz" des Auswärtigen Amtes ...
Das zielbewußte Streben der Mary von Waldersee nach Macht ist in einer 1962 im "Spiegel" besprochenen Biographie über sie noch einmal betont herausgearbeitet worden. Diese Biographie zu konsultieren, könnte sinnvoll sein, um die Frage zu beantworten: Ist es möglich, daß hinter diesem bigott-christlichen weiblichen Machtstreben, das so eng mit einem Holstein kooperieren konnte, keine bewußten priesterlichen Einflüsse gestanden hätten? Zumal auch sonst so manches über diese Mary von Waldersee gemunkelt wird?
Der Staatsakt für Kaiser Wilhelm I. - 1888
Schon drei Monate nach der Rüge an seinem Enkelsohn starb Kaiser Wilhelm I.. Der Trauerzug für ihn am 16. März 1888 vom Berliner Dom "Unter den Linden" entlang zum Brandenburger Tor und von dort zum Charlottenburger Schloß führte über den Königsplatz und am Generalstabsgebäude vorbei. Er wurde von Prinz Wilhelm angeführt, da sein Vater schon schwer erkrankt war. Hunderttausende von Menschen säumten ihn. Noch heute wird dieser Staatsakt auf der "Protokoll"-Seite der Bundesregierung als Beispiel aufgeführt (a, b, c). Der Maler August Westphalen malte den Trauerkondukt vor der Siegessäule. Auch von dem Schriftsteller Rudolf G. Binding, der diesen Staatsakt miterlebt hat, gibt es einen Bericht von diesem Tag (Projekt Gutenberg). Dieser wurde in nachfolgenden Generationen - insbesondere unter jenen, die dem Kaiserreich hohe Wertschätzung entgegenbrachten - als bedeutend eingeschätzt (etwa von Seiten Ernst von Salomon's). Im folgenden seien nur aus drei zeitgenössischen Berichten Auszüge zitiert, die sich auf das Geschehen am Königsplatz beziehen:
Als der Trauerzug die Siegesallee erreicht hatte, gaben die Stabsoffiziere die Führung an acht Leutnants von den Leibregimentern ab. Auch die den Baldachin tragenden Generale wurden von Hauptleuten abgelöst, und die Spitze des Gefolges nahm in den bereitstehenden Wagen Platz. Die Könige, Fürsten und Prinzen fuhren nach Charlottenburg.
... So verließ die Leiche des großen Kaisers seine Hauptstadt. An der Siegesallee löste sich der Zug auf. Der Leichenwagen wurde nur noch von einer Schwadron Garde du Corps und den Hofchargen durch Spalier von Kavallerie und Infanterie, welche sich durch den ganzen Tiergarten bis Charlottenburg erstreckte, und durch viele Tausende, in dichten Reihen stehende Zuschauer eskortiert.
Nachdem die Stadt Berlin ihrem geliebten Kaiser beim Durchzug des Sarges durch das Brandenburger Tor ihren letzten feierlichen Gruß dargebracht hatte (...) und an der Siegessäule die Reichsinsignien vom Trauerzug abgelöst worden waren, um nach dem Königsschloß zurückgeleitet zu werden, nahmen die Reihen der Garde die sterbliche Hülle ihres ruhmgekrönten Führers und Kriegsherrn in ihre Mitte auf. (...) Neben der Chaussee nach Charlottenburg, rechts und links vom Weg, standen sämmtliche Truppenteile des Garde-Korps, regimenter- und bataillonsweise aufgestellt. Langsam, in feierlicher Stille, nur durch kaum vernehmbares Kommando, gedämpften Trommelschlag und die klagende Weise des Trauermarsches unterbrochen, nahm der tote Kaiser zwischen zwei salutierenden Paradeaufstellungen seine letzte Heerschau ab. Die Leiche begleitend ritten, sich ablösend, die Kommandeure der Truppenteile, zwischen denen der Zug sich fortbewegte und hinter dem Sarg die zum Militärkabinet weiland S. M. gehörenden Offiziere. So, in der Ordnung, in welcher der Monarch, als er noch unter den Lebenden weilte, so manche Parade abgenommen hatte, näherte sich der Zug der letzten Ruhestätte des toten Kaisers; und dort blieb der Sarg zurück, während die trauernden Truppen in ihre Quartiere zurückzogen.
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