Gestern mitgemacht beim Ausräumen des Hauses eines verstorbenen, 86-jährigen Rechtsanwalts, dessen Vater Medizin-Professor war. Das Haus von oben bis unten angefüllt mit Büchern.
Aber letztlich auch wieder interessant, wie wenig man von dem behalten wird, was man sich da zunächst zusammensammelt. Ernst Haeckel's "Schöpfungsgeschichte" vielleicht. Oder auch ein kleines Büchlein, 5 mal 10 cm groß, von 1890 "Grabschriften und Marterlen, gesammelt und herausgegeben von Ludwig von Hörmann", 150 Seiten. Darin stehen solche Sprüche von Inschriften auf alten Grabsteinen und "Marterln" drin wie dieser (S. 124):
"Er sammelte allerlei Kräuter,
Aber für den Tod hat er keins gfunden."
(Schweiz, auf einen Kräutersammler)
"Grabschriften und Marterlen" (1890)
Oder (S. 121):
"Wie wahr o wie wahr! Als ich in meinen 68. Lebensjahr den 17. August 1863 für meine Geisen Gras zu Heu machen wollte, stürzte ich über diese Hohe Felswand. Meine Sackuhr ging noch eine Zeitlang, doch meine Lebensuhr blieb plötzlich stehen, mein Fleisch und meine Gebeine verdorrten, sind bereits verfault, da du dieses liesest.
Wanderer! bethe für mich
Eugen Haslwanter vom Ochsengarten."
(Zwischen Ötz und Ochsengarten)
Noch einer (S. 120):
"Was der Herr mit Ignatz gethan,
Zuletzt schaut er noch den Bruder an,
Er sagt, springt hin auf den Hut geschwind,
Sonst nimmt ihn hinweg der Wind.
Und als er so auf den Hut hin sprang,
Kein Eisen (gemeint: Steigeisen) ist in den Wasen (gemeint: Rasen) gang.
Er fiel hinunter auf einen Stein,
Der Kopf war entzwei, kein Hirn mehr drein,
Vermuthlich war er auch schon todt,
Tröste ihn der liebe Gott.
Nachschrift. Hier verunglückte Josef Staller im 36. Lebensjahr.
(Auf dem Wege nach Virgen zwischen Rückenthal u. Mitteldorf am "großen Lärchen", am Hinteregger Kogel - beim Bergheuen.)
Als Josef Weinheber sein Gedicht "Marterl" (in "O Mensch, gib acht") dichtete (Marterl), hatte er also viele Vorlagen. Und sein Gedicht klingt also nur in unserem Jahrhundert wie eine Übertreibung, hätte in früheren Jahrhunderten gar nicht so geklungen.
Und wo man schon dabei ist, noch eine Lesefurcht aus einem anderen, "älteren" Buch, das man sich neulich hat ersammeln können, nämlich aus Börries Freiherr von Münchhausen "Das Balladen-Buch" (Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart, Lizenzausgabe Im Bertelsmann Lesring 1962). - Was der heutige christkatholische Bertelsmann-Verlag übrigens damals noch so alles in Lizenzausgabe herausgab ...
In diesem Buch nun gibt es viele schöne Balladen, die man zum Teil auch schon kannte, etwa aus "Der ewige Brunnen". Etwa die Lederhosen-Saga, die Ballade vom Brennettelbusch, das Lied "Jenseits des Tales", "Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm" und andere mehr. - Aber neu war einem - und wurde einem auch gleich zum neuen Lieblingsgedicht von Börries von Münchhausen: "Die Hochzeit" (S. 255). Aber auch "Wunderwirkung der Latinität" (S. 275) hat einen so angesprochen, als würde man es zum ersten mal lesen. Das erstere der beiden sei hier noch einmal eingestellt, auch weil man es derzeit im Netz nirgends zitiert findet. (Allerdings ist Gedichtelesen am Bildschirm überhaupt eine fragwürdige Sache. Solche Beiträge wie der vorliegende können ja nur Anregung sein, mal wieder ein paar rauhe Buchseiten aufzuschlagen.) Das Gedicht ruft einem womöglich auch die Shakespeare-Zeit ins Gedächtnis zurück. Es macht womöglich deutlich, daß damals auch in Deutschland die Zeitumstände viele Vorlagen für Shakespeare-Dramen hätten liefern können.
Die HochzeitNein, Heilige sind es nicht gewesen,Von denen ich heute morgen gelesen!Unsere Ahnen waren derb und hart -Niedersächsische Bauernart!Wenn ihrer einer über den Gutshof ging,Schwer die Erde in seinen Stiefeln hing,Und seinen Fäusten sah man's an,Daß er nicht Wunder damit getan!Fromm aber waren sie über die Maßen!Man mag sich gar nicht mehr sehen lassenVorm Lieben Gott, wenn man liest, was ihnenAlles für Dinge als Wunder erschienen!Einen alten Schmöker ich heute fand,Der droben im obersten Börte stand,Ich setzte mich hin und las und las,Bis ich dies glatte Jahrhundert vergaßUnd mich versenkt in Freud und LeidDer prächtigrauhen vergangenen Zeit.Erst stehen die Namen drin zu lesenDerer, die auf der Hochzeit gewesenVon Ursula Quitzowen tugendsamUnd Klaus Münchhausen, dem Bräutigam.Dann die Hochzeitspredigt von qualvoller LängeUnd Litanei und Gemeindegesänge,Und nun heben die Gebete an,Durch die man den Lieben Gott gewann,Daß alles ohne Raub abliefe,Daß niemand "Wafen, Feindio!" riefe,Daß ehrbar sich verhielten die Gäste,Daß keiner am Leibe Schaden nähme,Und daß von dem trauten FamilienfesteAuch jeder lebendig nach Hause käme.So flehten sie Gott drei Wochen lang an,Und siehe: Gott hat das Wunder getan,Er nahm die Vetternschaft in Hut,Es ging "wider jedes Vorausgesicht" gut.Und als die Hochzeit vorbei gewesen,Da haben sie wieder Gebete gelesenIn allen Kirchen landab, landauf,Und gepriesen den absonderen Lauf.Denn, obgleich der Adel des ganzen LandesZur Feier des jungen EhestandesDrei Tage von Morgen zum Abend gesessen,Gegessen, getrunken, getrunken, gegessen,So sei doch kein Totschlag vorgekommen,Nicht mal habe einer Schaden genommenAn seinen Gliedern oder Haupt -Ja, wer da nicht an Wunder glaubt!So haben es unsere Ahnen getriebenUnd haben's sogar in Bücher geschrieben,Aber, trotz Bittgang und Lobgedicht,Nein - eigentlich Heilige waren es nicht!
Als sehr befreiend können solche Gedichte empfunden werden in diesem - - - aaaaaaaal-"glatten Jahrhundert", wo die Bundeskanzlerin das Nachlassen des christlichen Glaubens bedauert (man glaubt es kaum!!!!!), und wo Margot Käßmann mehr Religionsberichterstattung in den Medien fordert. (Wohl gemerkt: Noch mehr!!!)
"Traute Familienfeste" in früherer Zeit ...
"Und daß auch jeder lebendig nach Hause käme" "von dem trauten Familienfeste" ... Ja, es könnte zu viel Glattheit in unseren sozialen Verhältnissen geben, auch den engsten. Ein bischen mehr bäuerlich-heidnisch-derbe Rauheit und Unkompliziertheit, ein bischen mehr Unverwüstlichkeit und Cicero-hafte Latinität stünde uns allen ganz gut an. Will heißen: Mehr echte Kultur anstatt glattes, "sauberes", religiös und politisch "korrektes" Gejohle und Gesabbere auf allen Kanälen und über alle Frequenzen.
Man kann bei Börries von Münchhausen, diesem Lebemann und Mädchenverführer, auch immer im Hinterkopf behalten, daß, wie erst vor einigen Jahren bekannt wurde, die große Dichterin Ostpreußens, Agnes Miegel, diese zum Schluß allseits verehrte, ehrwürdige alte Dame, ihr Leben lang unsterblich und unglücklich verliebt geblieben ist in diesen Börries von Münchhausen, den sie als blutjunges Mädchen im Jahr 1900 in Berlin kennenlernte, und vorwiegend um dessentwillen sie ihr ganzes Leben lang unverheiratet geblieben ist. Viele ihrer ergreifendsten Liebesgedichte, ja, vieles ihrer Dichtung überhaupt, wird aus dem Wissen um diesen Umstand leichter nachvollziehbar. Diese Liebe hat sie so sehr geprägt, daß sie auch ihren Alterssitz nach der Vertreibung aus Königsberg in Bad Nenndorf nahm, weil dies am nächsten zum Stammsitz seiner Familie lag, und obwohl - oder weil - sich Börries von Münchhausen 1945 das Leben genommen hatte.
Kurz vor seinem Selbstmord im April 1945 hatte Börries von Münchhausen übrigens noch gedichtet: "Die Sonne, die heute auf Deutschland scheint, die ist aus der Hölle gekommen ..." Damit hat sich dieser ungehobelte, rauhbeinige Dichter von dieser Welt verabschiedet. Nein, ein Heiliger ist auch er nicht gewesen ... Und deshalb behalten wir ihn so gern in Erinnerung. Ihn und seine "sechstausend schweren märkischen Reiter".