Kunstraub, Kunstschutz und Massenmord aus ungewohnter Perspektive
In dem Buch "Servus Heiner" von Karl Springenschmid wird ein "Kai Mühlmann" erwähnt als 15-jähriger Schulkamerad von Springenschmid und Waggerl auf der Salzburger Lehrerbildungsanstalt im Jahr 1912 (7, S. 10):
Wenn uns die Professoren allzu heftig mit dem Peloponnesischen Krieg, der Heronischen Formel oder schwierigen Satzgliederungen plagten, flüchteten wir in einen geheimnisvollen Winkel des weitläufigen Gebäudes. Hier führte Waggerl das Wort. Wir anderen, vor allem Kai Mühlmann, ein ähnlicher Sturmgeist wie Waggerl, wollten hier vor allem den Ärger mit der Schule los werden und zogen wütend auf die Professoren los. Doch Waggerl winkte ab. Ihm ging es nicht um das, was an dieser Schule geschah, ihn erfüllten andere Gedanken. ...
Waggerl las seinen Kameraden statt dessen aus "Sprüche und Widersprüche" von Karl Kraus vor. Dieser Kajetan Mühlmann (1898-1958)(
Wiki) war ein Sonderbeauftragter von Hermann Göring und gilt heute als einer der "erfolgreichsten Kunsträuber des Nationalsozialismus". Er saß noch 1944 gerne mit seinen Freunden Waggerl und Springenschmid in einem bekannten Salzburger Künstlercafé. Und Springenschmid berichtet, wie der von der Gestapo abgehörte Gesprächsinhalt an den Salzburger Gauleiter weitergeleitet wurde, der wiederum derenthalben Springenschmid vorlud, da seine Freundschaft zu Waggerl bekannt war. Im Spitzelbericht stand (7, S. 76):
"Café Bazar 13. Oktober 1944 Uhrzeit: 21 Uhr 20. Anwesend am mittleren Kaffehaustisch, Karl Heinrich Waggerl, Kai Mühlmann, Dr. Josef Mühlmann, ferner zwei Frauen und drei weitere Männer, deren Persönlichkeit bisher nicht festgestellt werden konnte."
Und die - im Nachhinein betrachtet harmlose - kritisierte Aussage von Waggerl soll gelautet haben:
"Solange nicht alle politischen und militärischen Stellen im sogenannten Großdeutschen Reich von Österreichern besetzt werden, wird alles schief gehen!"
Jedenfalls scheinen die Erzählungen von Kajetan Mühlmann in diesem Cafehaus Karl Springenschmid auch zu einer seiner bedeutendsten Novellen angeregt haben, nämlich zu "Das wiedergefundene Antlitz" (1). Der Inhalt beruht auf folgenden
historischen Hintergründen (3, S. 299):
Juni 1941 (...) Lemberg (...). Nur einen Tag nach der Einnahme dieser Stadt beschlagnahmte Görings Sonderbeauftragter Kajetan Mühlmann 26 Zeichnungen von Albrecht Dürer und brachte sie aus Lemberg fort.
Das ist auch im Kern der Inhalt der Novelle von Springenschmid. Wobei Springenschmid natürlich auch sein eigenes Kriegserleben verarbeitet:
"... Auf der Straße stand ein zerschossener russischer Panzer. Der Garten lag verwüstet da. Die Rosen waren zertreten, die Beete zerwühlt. Doch ein kleiner neckischer Barockengel, mit dem rechten Bein keck auf einer rosigen Wolke tanzend, hielt dem Besucher freundlich lächelnd, als wäre nichts geschehen, eine Tafel entgegen, auf der in goldenen Buchstaben der Name 'Lischenko' stand. Mitten in der grauenvollen Verwüstung ein heiterer Anblick."
Es handelt sich um ein merkwürdiges Stück Literatur. Man möchte die Novelle auf den ersten Seiten ständig beiseite legen und sich sagen, dass dieses Büchlein nicht zu den gelungensten Werken von Springenschmid gehört. Wie kann man denn ständig so "Larifari" und oberflächlich-"nebensächlich" über Ereignisse in den Anfangstagen des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941 schreiben?
In den Anfangstagen des deutsch-sowjetischen Krieges hat also ein deutscher Kunsthistoriker - in der Novelle "Kunsthistoriker Helmut Frobenius" genannt - den Auftrag, mit den ersten deutschen Panzern in Lemberg einzudringen. Und zwar lediglich, um eine Handzeichnung von Albrecht Dürer in der Ossolinski-Bibliothek in Lemberg sicherzustellen.
Nimmt man das Büchlein trotz Verärgerung oder Verstimmung nach einiger Zeit noch einmal in die Hand und liest weiter, dann muss man sich gut zureden: Dieser Springenschmid war sowohl im Ersten wie am Zweiten Weltkrieg Soldat. Wenn er eine Novelle in dieser Weise schreibt, muss er das bewusst so tun und nicht aus Unfähigkeit.
Eine "Schwejkiade"? Eine Antikriegs-Novelle?
Und über weite Strecken liest sich diese Novelle wie eine "Schwejkiade", wie eine Antikriegs-Novelle. Aber selbst diese Einordnung will noch nicht wirklich passen. Ist es denn möglich, mit einem so geradezu anzüglichen Ton über einen Krieg zu schreiben, einen modernen? Soll damit dem Zynismus oder der Gedankenlosigkeit des deutschen "Landsers" des Jahres 1941 ein - "Denkmal" gesetzt werden?
Im letzten Drittel der Novelle beginnt sich der Hintergrund der seltsamen Widersprüchlichkeit, in die das Herz des Lesers beim Lesen gezogen wird, ein wenig mehr zu erhellen. Etwa ab der zitierten Stelle. In diesen wenigen Worten ist der widersprüchliche Stimmungsgehalt der Novelle überhaupt schon ein wenig angedeutet: "zerschossener Panzer" einerseits - "heiterer Barockengel" andererseits.
Offenbar geht es also genau darum: Diesen zutiefst aufwühlenden, ja, abstoßenden Zwiespalt darzustellen: Krieg, entsetzlichste Verzerrung alles Menschlichen einerseits - banales, flappsiges Landser-Idyll andererseits. Und dann noch etwas Drittes: Dürer. Als Inbild der Werte des europäischen Abendlandes überhaupt. Dass über allem das "andere" immer noch "irgendwie" vorhanden ist, anwesend ist, wenn auch oft auf groteske und geradezu lächerliche, schwejkhafte Weise. Wenn auch in Gestalt eines "Kunstbeauftragten" des "Großdeutschen Reiches" in Soldatenuniform. Dem es letztlich auch tatsächlich - und sei es noch so schwejkhaft - um das Menschlichste geht: um die Kunst.
Aber jenseits der Absicht der Novelle wird natürlich noch ein weiterer Zwiespalt aufgerissen zwischen dem durch und durch menschlich-sympathisch dargestellten "Kunsthistoriker Helmut Frobenius" der Novelle und der heutigen historischen Bewertung der offenbaren Vorlage dieses Novellen-Frobenius, nämlich von Kajetan Mühlmann. In der Springenschmid-Biographie von 1987, die von der oben zitierten Studie des Jahres 2008 noch nichts wissen konnte, hieß es noch (4, S. 95):
"Das wiedergefundene Antlitz", eine 1944 (1944?) entstandene Novelle, sticht völlig aus der übrigen Kriegsliteratur von Springenschmid heraus. Diese meisterliche Novelle gehört zu seinen besten Werken, ja, zum Besten was Springs überhaupt je geschrieben hat. Diese Novelle gibt allerhand Rätsel auf. Wieso unterscheidet sie sich in der Sprache und in der Diktion so dermaßen von seinen anderen Werken dieser Zeit? So manche Novelle hatte Springs meist rasch vollendet und in zwei, drei Wochen Fronturlaub seiner Gattin diktiert. Entweder entstand die Novelle doch erst nach 1945, oder einfach in einer Sternstunde seiner Erzählkunst.
Auf jeden Fall handelt es sich um ein besonderes Stück Erzählkunst. Seine Rätsel werden durch die zeitgeschichtlichen Hintergründe nur noch aufregender. Ob die Aktivitäten eines Kajetan Mühlmann tatsächlich nur unter die Rubrik "Kunstraub" oder auch unter die Rubrik "Kunstschutz" eingeordnet werden kann, so wie es die Novelle darstellt, könnte einer weiteren kunsthistorischen Studie aus dem Jahr 2008 entnommen werden (5). Nach dieser Darstellung sind aber die Dürer-Zeichnungen schon 1940 - während der ersten Besetzung Lembergs durch die Deutschen - beschlagnahmt worden (5, S. 299).
Genickschüsse in den Kellern der GPU
Dass diese Novelle ihr eigentliches Gewicht erst durch das Ansprechen der Morde des sowjetischen Geheimdienstes in Lemberg kurz vor seinem Abzug, kurz vor seiner Flucht erhält, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Obwohl dadurch dem Leser schon ein wenig von der Mühe abgenommen ist, die es bedeutet, sich durch die scheinbare Banalität der ersten beiden Drittel der Novelle zu arbeiten. Zu den Morden des sowjetischen Geheimdienstes in den 1939 und 1940 besetzten Gebieten (in Katyn, Lemberg usw..), die ein so wesentlicher - und bis heute wenig beachteter - Auslöser waren für die nachfolgenden Morde an Juden unter der deutschen Besatzung in diesen Gebieten, hat sich als einer der letzten unter anderem der Historiker Bogdan Musial geäußert. (6)
Übrigens waren noch im Jahr 2002 die Besitzrechte der 1941 aus Lemberg in den Westen geschafften Dürer-Werke nicht abschließend geklärt (
Forbes 2002).
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- Springenschmid, Karl: Das wiedergefundene Antlitz. (Erstveröffentlichung 1955) Arndt-Verlag, Vaterstetten 1971 (124 Seiten)
- Bading, Ingo: Costabella - Berg meiner Jugend. Auf: Studium generale, 22. November 2007, http://studgendeutsch.blogspot.com/2007/11/costabella-berg-meiner-jugend.html
- Stefan Alker, Christina Köstner, Markus Stumpf: Bibliotheken in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte. V&R Unipress, 1., Aufl., (1. Januar 2008)
- Laserer, Wolfgang: Karl Springenschmid. Leben, Werke, Fotos, Dokumente. Biographie. H. Weishaupt Verlag, Graz 1987
- Günther Haase: Kunstraub und Kunstschutz. Band I: Eine Dokumentation. Books on Demand; Auflage: 1 (12. Juni 2008), (568 Seiten)
- Musial, Bogdan: "Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen". Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941. Propyläen, 2000
- Springenschmid, Karl: "Servus Heiner!" Erinnerungen an Karl Heinrich Waggerl. Rudolf Schneider Verlag, München 1979
- Bading,
Ingo: "Das unerreichbare Herz" (1949). Der erste Nachkriegsroman von
Karl Springenschmid. Gesellschaftl. Aufbr. jetzt!, 9.9.2014, https://studgenpol.blogspot.com/2014/09/das-unerreichbare-herz-1949.html