Donnerstag, 3. Dezember 2009

"Aufbruch der Leistungsträger"

Aber mit welcher Moral?

Peter Sloterdijk ist einer der wenigen selbständigeren, geistreicheren Denker, Kultur- und Gesellschaftskritiker im heutigen Deutschland. Immer wieder einmal ist es lohnend, sich mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen. Im November-Heft des "Cicero" ist sein neuester Aufsatz unter dem Titel "Aufbruch der Leistungsträger" veröffentlicht. - War es Sloterdijk selbst oder war es die "Cicero"-Redaktion, die diesen Aufsatz im Untertitel aufgepäppelt hat zu einem "bürgerliche(n) Manifest" (siehe Bild rechts)?

Und gibt das dieser Text her?

Einer der wesentlichsten Kritikpunkt an diesem Text ist sicherlich die inkonsequente, ja, fast gedankenlose Verwendung des Begriffes "Leistungsträger" durch Peter Sloterdijk. Sloterdijk unterscheidet - wie die meisten Denkenden heute - zu wenig zwischen gesellschaftsstabilisierenden und -weiterführenden Leistungen, die in einer Gesellschaft erbracht werden und "Leistungen" des Opportunismus, die den Fortbestand und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft existentiell gefährden. Er scheint sich noch davor zu scheuen - wie so viele andere ebenfalls - sich einmal selbst und anderen zu verdeutlichen, wie hoch eigentlich der Anteil der bloßen Opportunisten unter der von ihm definierten Gruppe der "Leistungsträger" ist. Jedenfalls findet man zu diesem Thema auch nicht ansatzweise Abschätzungen in seinem Text.

Daß Sloterdijk durchaus ein ganz klares Gefühl für die gesellschaftsschädigende Wirkung der Opportunisten unter den Leistungsträgern hat, wird ja schon gleich im ersten, aufsehenerregendsten Abschnitt seines Textes deutlich. Da spricht er doch ebenfalls von jenen "Leistungsträgern", die er in den hinteren Abschnitten so herausstellt. Oder etwa nicht? Aber im vorderen Teil in einem ganz anderen Tonfall, als im hinteren. Macht sich Sloterdijk das denn nicht ausreichend klar? Warum bezieht er die im ersten Abschnitt gewonnenen Erkenntnisse über die vorherrschende Feigheit unter den heutigen "Leistungsträgern" nicht mit ein in sein Raisonement in den späteren Abschnitten?

"Leistungsträger" Axel Weber

Im ersten Abschnitt zeigt er anhand des Beispiels eines nicht unwichtigen "Leistungsträgers" in unserer Gesellschaft, nämlich anhand von Axel Weber, des Chefs der Deutschen Bundesbank, und anhand seines Verhaltens gegenüber seinem Kollegen Thilo Sarrazin:

... Auch die Leitung der Deutschen Bundesbank erweist sich gegen die Epidemie des Opportunismus als nicht immun. (...) Statt sich gelassen vor seinen Kollegen zu stellen (...), statt irgendetwas Souveränes, Aufheiterndes, gut Ventiliertes zu sagen, spricht Axel Weber (...) die allgemein erwartete Sklavensprache (...). Er kommt nicht auf den Gedanken, seine eigene entkernte Haltung, sein serviles Vorwegnehmen von eingebildeten Nachteilen, sein Floaten mit dem Tageskurs der Empörerei könnten die wirkliche Gefahr für das Ansehen seines Unternehmens bedeuten.

(Hervorhebungen nicht im Original.) Hier spricht Sloterdijk nicht nur von einer Gefahr für die Deutsche Bundesbank, sondern von Gefahren für die deutsche Gesellschaft überhaupt. Und ausgerechnet solche gefährlich-opportunistischen "Leistungsträger" soll man bei einer allgemeinen Beurteilung von "Leistungsträgern" in die gleiche Kategorie stecken wie jene - wenigen? - anderen "Leistungsträger", die nicht opportunistisch sind, nicht lethargisch sind und darum - nach Meinung von Sloterdijk - nicht die "Zukunft blockieren"?

Erst wenn man "Leistungsträger" nicht mit "Besserverdienenden" gleichsetzt und wenn man aus der Gruppe der Besserverdienenden (ebenso wie aus der Gruppe der weniger gut Verdienenden) jeweils den Anteil der Nicht-Opportunisten als einen speziellen Fall betrachtet, wird es doch sinnvoll, von einem "Aufbruch der Leistungsträger" überhaupt zu sprechen. Wollen wir denn einen Aufbruch in Bezug auf die "Leistungen" auf dem Gebiet des Opportunismus? Auf dem Gebiet der Feigheit? Auf dem Gebiet der (altchinesischen) Lethargie? Die entscheidende Frage ist doch: Wer sind denn die eigentlichen Leistungsträger in einer Gesellschaft?

Wo werden gesellschaftsstabilisierende Leistungen erbracht?

Erkennt man sie etwa - wie plump! - an dem Gehalt, das sie aufgrund ihrer "Leistungen" - etwa gar auf dem Gebiet des Opportunismus (?) - auf ihr Bankkonto überwiesen bekommen?

Nein. Die wichtigste gesellschaftsstabilisierende und -weiterführende Leistung ist es heute - "Studium generale" machte schon häufiger darauf aufmerksam -, wenn Eltern Kinder groß ziehen. Das kann doch nicht so schwer zu verstehen sein. Sollte das einem so klugen Kopf wie Peter Sloterdijk nicht endlich auch irgendwann einmal zugänglich sein? Daß zu aller Motivation, zu aller Fähigkeit für Leistung ein heiles Elternhaus die beste Grundlage ist?

Wer wenn nicht Eltern würden - zumindest doch ihrem eigenen Ideal nach - sogar jene "thymotischen Tugenden" des großzügigen Gebens alltäglich leisten, die Peter Sloterdijk so ganz richtig in unserer Gesellschaft - ansonsten - so sehr vermißt? Eines der Hauptprobleme unserer Gesellschaft ist doch, daß wir noch nicht einmal mehr großzügig genug sind, um überhaupt genügend Kindern das Leben zu schenken. - Oder sollte man diese thymotischen Tugenden wiederum ausgerechnet bei den vielen Opportunisten unter den "Besserverdienenden" suchen? Wie viele unter den Besserverdienenden gehören nur deshalb zu ihnen, weil sie insbesondere einer einzigen "Tugend" folgen, nämlich dem Opportunismus und dem eigenen Vorteil?

Auch Peter Sloterdijk läßt - wieder einmal - die entscheidendste, gesellschaftsstabilisierende Leistung außen vor. Obwohl er andererseits - wie Thilo Sarrazin - herrlich davon reden kann, wie schwierig es ist, die Kinder von Menschen anderer Kulturen zu integrieren. Also die Kinder jener, die zu den aus dem Ausland eingeführten "Streikbrechern" gezählt werden müssen, die den deutschen Geburtenstreik brechen. Aufgrund dieser ständigen Nachfuhr von Streikbrechern muß der offenbar so notwendige, schon Jahrzehnte lang anhaltende "Geburtenstreik" unter den Deutschen in Wirkungs- und Folgenlosigkeit verpuffen. Womit kein ausreichender Veränderungsdruck wirksam werden kann in Richtung einer Verbesserung der Lebensbedingung von Eltern, von in Lebenspartnerschaft lebenden Menschen und von Single's, die sich Kinder wünschen. Also insgesamt von grob sechs bis acht Millionen Menschen, die sich derzeit ihren vorhandenen Kinderwunsch - aufgrund von erforschbaren Ursachen - nicht erfüllen. (siehe St. gen.)

Wenn man dieser Gruppe von Leistungswilligen und Leistungsträgern nach jeder Richtung hin gerecht geworden ist, dann darf man sich - gerne - auch auf andere Gruppen, etwa auf die besondere Gruppe der Leistungsträger unter den Besserverdienenden konzentrieren.

Welcher Moral entspringen gesellschaftsstabilisierende und -weiterführende Leistungen?

Aber hat sich eigentlich Sloterdijk ausreichend klar gemacht, wie Leistungen auch im beruflichen Bereich überhaupt zustande kommen? Wie eigentlich die menschlichen Motivationssysteme beschaffen sind, die - auf die eine oder andere Weise - gesellschaftsstabilisierende und gesellschaftsweiterführende Leistungen hervorbringen? Oder konkreter: Woher stammt die Motivation, kein Opportunist zu sein, nicht in der einen oder anderen Weise nur angepaßt zu sein, mitzuschwimmen im Strom? Das ist doch die entscheidende Frage.

Und: Kann diese Motivation überhaupt mit Geld bezahlt werden? Mit Steuervergünstigungen? Mit dem Abbremsen von Steuererhöhungen? Was für eine Trivialmoral wird hier wiederum vertreten?

Über die menschlichen Motivationssysteme kann man sich informieren bei Joachim Bauer oder bei Konrad Lorenz. Auch ein Nachdenken über die protestantische Ethik und ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln (Rechtfertigungslehre von Martin Luther) könnte viel zu Tage bringen: Ist es allein die auch von Peter Sloterdijk umsonnene, schon im Alten Testament und im Mittelalter favorisierte "tit-for-tat"-Moral und ihr möglichst reibungsloses Funktionieren, die unsere Gesellschaft voranbringen wird?

Herr Peter Sloterdijk! Hören Sie, womit Sie mit Ihren "thymotischen Energien" noch hinkommen, wenn Sie diese einmal konsequent zu Ende denken? Sie rufen nach einer neuen "Reformation". Also nach einem neuen Martin Luther. Welcher Art waren die "thymotischen Energien", die Martin Luther zur Entfaltung brachte? Entsprangen sie im tiefsten Kern der "tit-for-tat"-Moral?

Wie kam nach Martin Luther der Mensch mit sich selbst ins Reine? Indem er Gutes tat, um in den Himmel zu kommen? Nein, indem er das Gute um seiner selbst willen tat. Allein um des Guten selbst willen. Um keines anderen Grundes willen. Und das ist doch die große, "thymotische Großzügigkeit" im guten Handeln, nach der Sie suchen. Muß man bibelgläubig sein, um eine solche Moral leben und allgemeingültiger formulieren zu können?

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