Dienstag, 31. Mai 2022

Elisabeth Vigée-Le Brun - Die bedeutende französische Portraitistin

Von der Schönheit, Weisheit und Vaterlandsliebe zweier Hohenzollern-Frauen um 1800

Nachdem wir schon in zwei Beiträgen Werke der französischen Portraitistin Elisabeth Vigée-Le Brun (1755-1842) (Wiki) brachten (GAj!2022, GAj!2022), möchten wir in diesem Beitrag nach und nach noch weitere Angaben zu ihrem Leben und Schaffen ergänzen, sowie insbesondere auch zu einigen Menschen, die ihr Portrait gesessen haben.

Abb. 1: Ölportrait der "energischen" Prinzessin Luise von Preußen (1770-1836), einer Schwester des Prinzen Louis Ferdinand, gemalt von Elisabeth Vigée-Le Brun, 1802 (Wiki)

Man lernt nämlich über ihre Werke viel über bedeutende Menschen zu ihren Lebzeiten, nämlich sowohl in Frankreich wie in Italien wie in Rußland und auch in Preußen. 

So werden wir aufmerksam auf ein Portrait der Prinzessin Luise von Preußen (1770-1836) (Wiki) (Abb. 1), die man nicht mit der Königin Luise von Preußen verwechseln darf. Sie war eine Schwester des Prinzen Louis Ferdinand und eine enge Vertraute der Königin Luise ebenso wie ihrer Kinder, deren Mutter ja so früh gestorben ist. Die Prinzessin Luise wird als eine "energische" Frau beschrieben. Sie führte als solche seit 1796 eine sehr glückliche - wenn auch "nicht ebenbürtige" - Ehe mit dem katholischen, polnischen Magnaten und Komponisten Anton Fürst Radziwill (1775-1833) (Wiki). Sieben Kinder sind aus dieser Ehe hervorgegangen.

Zwischen Juli 1801 und Januar 1802 weilte die Vigée-Le Brun in Berlin und fertigte ein Pastell-Portrait dieser Prinzessin an. Anhand dieser Pastell-Studie erstellte sie dann 1802 in Paris ein sehr einnehmendes Portrait derselben (Abb. 1).

Portraits der Prinzessin Luise von Preußen (1770-1836), einer Schwester des Prinzen Louis Ferdinand

Und wir lesen nun über das Leben dieser preußischen Prinzessin noch weiterhin (Wiki):

Als nach dem Untergang Polens Warschau vorübergehend preußisch war, besuchte die preußische Königsfamilie 1795 Radziwiłłs Eltern auf deren Schloß Nieborów bei Lotsch. Dabei verliebten sich Antoni Henryk und die fünf Jahre ältere Prinzessin Luise von Preußen, eine Nichte Friedrichs II. und Schwester des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen. Nach zähen Verhandlungen durften die beiden am 17. März 1796 heiraten. Ihre Ehe dauerte 37 Jahre und galt als glücklich. 

Angesichts der vielen unglücklichen Ehen im europäischen Hochadel früherer Jahrhunderte darf man doch diesen Umstand auch einmal auf sich wirken lassen. Aus dieser Ehe sind - wie gesagt - sieben Kinder hervor gegangen, und zwar vier Söhne und drei Töchter (Wiki): 

Während die Söhne katholisch erzogen wurden, wuchsen Luises Töchter wie ihre Mutter im protestantischen Glauben auf.

Eine sehr interessante Lösung für gemischtreligiöse Ehen. Und weiter (Wiki):

Sie bedauerte besonders, daß die Verbindung ihrer Tochter Elisa mit dem späteren Kaiser Wilhelm I. als "nicht standesgemäß" abgelehnt wurde. 

Diese Ehe kam deshalb nicht zustande. Wie ihr Bruder Prinz Louis Ferdinand war auch sie selbst sehr eng mit Königin Luise befreundet (Wiki):

Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt war Luise 1806 mit dem preußischen Hof nach Königsberg geflohen und gehörte hier, gemeinsam mit Königin Luise und Prinzessin Marianne, zu dem patriotischen, antifranzösischen Kreis, der an einer Wiederaufrichtung des preußischen Staates arbeitete. Luise pflegte Freundschaften mit Barthold Georg Niebuhr, Dorothea von Kurland, Wilhelm von Humboldt, August Neidhardt von Gneisenau, Carl von Clausewitz und Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein. Die Entlassung des letzteren beklagte sie bitter und war wesentlich an dessen Wiedereinsetzung beteiligt. Gemeinsam mit ihrem Mann empfing sie in ihrem Haus, dem Radziwiłł-Palais in der Wilhelmstraße, zahlreiche Künstler und Gelehrte, mit denen sie ohne jegliche höfische Etikettevorschriften verkehrte und von 1796 bis 1815 einen Salon unterhielt. (...) Seit 1816 lebte sie in Posen, wo ihr Mann als preußischer Statthalter des Großherzogtums fungierte. Sie gründete hier Armenspeisungen und das Institut der Elisabethanerinnen.

Der Freiherr vom und zum Stein war ja damals der wichtigste Reformpolitiker Preußens. Es war also sehr wesentlich, wenn sich jemand an einflußreicher Stelle für seine erneute Ernennung zum Minister einsetzte. 

Nun aber zurück zu  Elisabeth Vigée-Le Brun.

Ihr erstes Selbstportrait malte sie schon mit 16 Jahren.

Zwischen 1778 und 1788 malte sie neun Portraits der französischen Königin Marie Antoinette (1755-1793) (Wiki) (zu den Portraits siehe: Wiki). Sie malte in dieser Zeit außerdem zahllose Portraits ihrer Hofdamen.

"Die Vielfalt ihrer Portraits ist einzigartig für eine Frau in dieser Epoche," lesen wir über ihr Gesamtwerk (Wiki). Als 1789 die Revolution in Frankreich ausbrach, mußte Vigée-Le Brun Hals über Kopf aus Frankreich fliehen, da sie als enge Vertraute der Königin und Royalistin äußerst gefährdet war. Erst 1802, zwölf Jahre später, konnte sie nach Frankreich zurück kehren, ohne daß ihr davon Schaden entstand. In der Zwischenzeit mußte sich ihr Ehemann von ihr scheiden lassen, um das gemeinsame Vermögen zu bewahren. 

Vigée-Le Brun ging zunächst nach Italien, wo sie große künstlerische Erfolge feierte. Danach lebte sie sechs Jahre in Rußland, wo ebenfalls zahllose Portraits bedeutender Persönlichkeiten entstanden. 1801 hatten sich die politischen Verhältnisse in Frankreich soweit entspannt, daß Vigée-Le Brun wieder ins Auge fassen konnte, nach Frankreich zurück zu kehren.

Ende Juli 1801 kam sie deshalb mit der Postkutsche von Petersburg über Riga und Königsberg nach Berlin. Im Januar 1802 reiste sie dann nach Paris weiter. Während ihres Aufenthaltes in Berlin entstand die Pastell-Vorlage des Portraits der Prinzessin Luise Radziwill.

Portraits der Königin Luise von Preußen

Ähnlich wie die beiden Portraits der Prinzessin Luise Radziwill entstanden auch die Portraits der Königin Luise (1, S. 198):

Die preußische Königin gewährte ihr im November des Jahres vier Porträtsitzungen, bei der zwei Pastellstudien entstanden, eine davon "en face", die andere im Dreiviertelprofil. Auf der Grundlage der zweiten Studie entstand das Kniestück in Öl, das 1802 fertiggestellt und nach Berlin geschickt wurde.

Eine Übersicht zu diesen drei Kunstwerken findet sich (2) (s.a. 3, S. 33). Auf Wikipedia findet sich derzeit nur eines der Pastelle (Wiki), auf dem die Königin nicht nur kindlich, sondern zugleich sehr "ländlich" wirkt, außerdem das Ölgemälde (Wiki). Wir stellen hier zusätzlich das zweite der Pastelle ein, das Vigée-Le Brun 1837 auch ihren Lebenserinnerungen beigab (Abb. 2) (s. 1, S. 213, Anm. 7).

Abb. 2: Königin Luise, Pastellstudie "en face" von Elisabeth Vigée-Le Brun, November 1801 - Enthalten auch in der Erstauflage der Erinnerungen der Vigée-Le Brun von 1837 (s. 1, S. 213, Anm. 7)

Von Königin Luise gibt es viele Porträts. Die vergleichsweise bekannte, "ländlich" anmutende Pastell-Vorlage (Wiki) und das vergleichsweise bekannte Ölgemälde (Wiki) der Vigée-Le Brun gelten als die bedeutendsten. Vigée-Le Brun schreibt in ihren Erinnerungen sehr überschwenglich über die Königin (zit. n. 4):

Schließlich fühlte ich mich um ein wesentliches besser, als die Königin von Preußen, die zu jener Zeit nicht in Berlin war, mich nach Potsdam bat, wo sie ein Portrait von mir wünschte. Ich ging hin. Aber ich bin unfähig, den Eindruck wiederzugeben, den diese Prinzessin beim ersten Anblick auf mich machte. Die Schönheit ihres himmlischen Gesichts, das Wohlwollen und Güte ausdrückte, und dessen Konturen so regelmäßig und delikat waren, die Lieblichkeit ihrer Figur, ihres Nackens, ihrer Arme, die exquisite Frische ihrer Haut - all das ging weit über alles, was man sich vorstellen kann. Sie war in tiefer Trauer und trug ein samtschwarzes Diadem, das, weit davon entfernt, unvorteilhaft zu wirken, die blendende Weise ihrer Haut hervor hob. Man muß die Königin von Preußen gesehen haben, um zu verstehen wie verwunschen ich war, als ich sie zum ersten mal erblickte.
I was feeling much better when the Queen of Prussia, who was then absent from Berlin, was kind enough to request my presence at Potsdam, where she desired me to do her portrait. I went. But my pen is incapable of rendering the impression which the first sight of that Princess made upon me. The beauty of her heavenly face, that expressed benevolence and goodness, and whose features were so regular and delicate, the loveliness of her figure, neck, and arms, the exquisite freshness of her complexion – all was enchanting beyond anything imaginable. She was in deep mourning, and wore a coronet of black jet, which, far from being to her disadvantage, brought out the dazzling whiteness of her skin. One must have seen the Queen of Prussia in order to understand how bewitched I was when I first beheld her.

Die Besitzgeschichte des Ölportraits der Königin Luise zeigt auf, welche Bedeutung man diesem Portrait gegeben hat und gibt (1, S. 213): Es hing 1842 bis 1850 im Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses, 1883 befand es sich im Schloß Freienwalde, 1888/89 im Schreibzimmer der Kaiserin Auguste Victoria im Stadtschloß zu Berlin. 1919 bis 1941 befand es sich im Haus Doorn in den Niederlanden im Besitz des abgedankten letzten deutschen Kaisers. Kronprinz Wilhelm ließ das Gemälde nach dem Tod seines Vaters zurück nach Deutschland holen, wo es sich im Besitz seiner Frau befand, der Kronprinzessin Cecilie. Diese lebte in Bad Kissingen und Stuttgart. Sie starb 1954 und danach befand es sich im "Wümmehof" in Bremen, dem Wohnort ihres zweitältesten Sohnes, des Prinzen Louis Ferdinand. Nach dessen Tod kam es 1994 auf die Burg Hohenzollern, wo es im Zimmer der Königin präsentiert wird (3), solange es nicht für Ausstellungen ausgeliehen ist. 

"Keine zufriedenstellenden Portraits der Königin" vorhanden

Wir möchten als beeinträchtigenden Umstand zu diesem Portrait benennen, daß auf diesem die womöglich gewiß in Andeutungen vorhandenen kindlichen Gesichtszüge der Königin Luise zu deutlich heraus gestellt sind. Das ist eine Eigenart auf vielen Portraits der Vigée-Le Brun, die sich aber selten so störend bemerkbar macht wie auf diesen. 

So ausgeprägt kindliche Züge finden sich auf keinem der anderen zu Lebzeiten der Königin entstandenen Portraits, auch nicht auf solchen, die viele Jahre vor 1801 entstanden sind. Deshalb möchte man ein Portrait wie das der Schwester des Prinzen Louis Ferdinand insgesamt als ein gelungeneres bezeichnen, verglichen mit diesem Portrait der Königin. Auch die Königin Luise selbst hat sehr klar an ihren Portraitisten Schadow über das Gemälde geschrieben (zit. n. 1, S. 198):

"Die Le Brun hat mir eine Schönheit geben wollen, die ich nicht habe, indem sie die Oberlippe kurz und ihre Distanz zwischen Nase und dem Spalt des Mundes zu lang gemalt hat."

So berichtete es Schwadow in einem Brief aus dem Jahr 1842. Auch dieser Umstand trägt sicherlich zu der betont kindlichen Erscheinung auf diesem Portrait bei.

Daß dieses Portrait von dem bedeutendensten Portraitkünstler stammt, von dem es überhaupt ein Portrait der Königin gibt, soll damit nicht in Abrede gestellt werden. Es soll nur in Abrede gestellt werden, daß man durch dieses Portrait ein authentisches, historisches Bild der Königin gewinnen könnte. Es dürfte sicherlich sehr "stilisiert" sein.

Ein authentisches, historisches Bild der Königin zu gewinnen, dürfte aber auch im Angesicht der Vielfalt der zeitgenössischen Portraits derselben schwierig sein, da diese sich allesamt zu sehr untereinander unterscheiden und jeweils mehr vom Charakter des einzelnen Künstlers bestimmt sind als etwas "Gemeinsames" aufweisen würden. Etwas ähnliches kann man etwa auch sagen für die vielen Portraits Friedrichs des Großen. Authentizität im Portraitieren war ja überhaupt schwierig im Zeitalter vor der Erfindung der Photographie. 

Erwähnt sei noch, daß Elisabeth Vigée-Le Brun am 11. Dezember 1801 ehrenvoll in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen worden ist (1, S. 213, Anm. 5). 

Erwähnt sei weiterhin noch, daß die Königin Luise in einem britischen Diplomaten einen Verehrer besaß, der sie persönlich um ein Portrait bat, und der alle Portraits von ihr sammelte, denen er habhaft werden konnte. In dem Besitz seiner Nachfahren befindet sich noch heute das Pastell aus Abbildung 2. Kein Abbild Luises stellte ihn zufrieden (1, S. 213, Anm. 8):

Ich habe alle tolerierbaren Portraits gesammelt, die ich finden konnte - aber es gibt keine zufriedenstellenden.
I have collected all the tolerable resemblances I can find but there are none satisfactory.

Damit dürfte wohl Ausreichendes zur Schönheit der Preußen-Königin gesagt sein und zur Schwierigkeit, sie in einem Kunstwerk festzuhalten. Fast alle Zeitgenossen, die sie erleben durften, waren von ihr eingenommen. Man erhoffte sich von derselben so viel, daß man die Königin Luise um ein persönliches Gespräch mit Napoleon bitten ließ, damit sie günstigere Friedenbedingungen für Preußen aushandeln könne. Aber dieser kalte Machtmensch ließ sich auch dadurch nicht erweichen.

Halten wir uns insgesamt besser an die Schwester des Prinzen Louis Ferdinand und ihres Portraits (Abb. 1) und lassen wir uns inspirieren von der Ahnung, daß die - auch von ihr verehrte - Königin Luise noch um vieles schöner gewesen sein muß als sie selbst!

__________

  1. Luise. Die Kleider der Königin. Mode um 1800. Ausstellungsband, hrsg. von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, bearbeitet von Bärbel Hedinger, Adelheid Schendel und Stefan Schimmel. Hirmer Verlag München 2010
  2. Portraits of Louise Augusta, Queen of Prussia, https://www.batguano.com/xqueenofprussia.html
  3. "Bei ihrem Anblick wie verzaubert" - Zur Restaurierung des "Zimmers der Königin" und der Neuhängung des Bildnisses der Königin Luise von Elisabeth Vigée Lebrune. In: Museums Journal, Band 16, 2002, Ausgabe 2. Museumspädagogischer Dienst Berlin, in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Mussen Preussischer Kulturbesitz, 2002 (GB), S. 32f
  4. Memoirs of Elisabeth Vigée-Lebrune (Archive), http://digital.library.upenn.edu/women/lebrun/memoirs/memoirs.html
  5. Der Schönheit Malerin ... Erinnerungen der Elisabeth Vigée-Le Brun. Hrsg. von Lida v. Mengden. 1985

Sonntag, 8. Mai 2022

Professor Wolfram Bernhard (1931-2022) - Ein Nachruf

"... diesen Charakter der steten Vernichtung"

Mein Lehrer am Anthropologischen Seminar der Universität Mainz, Professor Wolfram Bernhard (1931-2022) (Uni Mainz), ist im Februar diesen Jahres mit 90 Jahren gestorben (Traueranzeige).

Ich habe 1993 bis 1995 bei ihm studiert und mich von ihm auch für das Erste Staatsexamen in Biologie prüfen lassen (schriftlich und mündlich).

Ich habe ihn immer als sehr menschlich, ja, geradezu behutsam erlebt.

Ich habe es selbst nie erlebt, aber ich weiß, daß er an der Universität Mainz schärfsten Anfeindungen ausgesetzt war. Insbesondere von Studenten, die sich als besonders "fortschrittlich" wähnten, wenn sie eine altüberkommene Forschungsrichtung wie die Physische Anthropologie der übelsten Absichten und Machenschaften verdächtigten und beschuldigten. Ich habe solche Angriffe (die auch am Anthropologischen Seminar in Hamburg und vielerorts sonst wüteten) immer als absolut ungerechtfertigt empfunden.

Prof. Bernhard
Ich hatte immer das Gefühl, daß diese Angriffe Professor Bernhard außerordentlich schwer getroffen haben, daß sie ihn menschlich schwer belasteten, ohne daß er jemals darüber irgendein Wort verloren hätte (zumindest in meiner Gegenwart). Ich hatte das Gefühl, daß er ihnen gegenüber nur noch ohnmächtig und sprachlos verstummen konnte.

Meines Wissens und meiner Erfahrungen nach war Professor Bernhard gar kein "Kämpfertyp", der solche Anfeindungen besonders leicht weggesteckt hätte. Von seiner ganzen Haltung her war er Mediziner, Arzt.

In der Traueranzeige, die viel von der zurückhaltenden, menschlich anmutenden Art von Professor Bernhard atmet, kann man lesen, daß er drei Kinder und elf Enkelkinder zurück gelassen hat. Seine drei Kinder sind offenbar alle Ärzte geworden. Sie ist überschrieben mit:

"Ein der Wissenschaft gewidmetes Leben ist zu Ende gegangen,"

Und es heißt: 

"Wir sind dankbar dafür, daß er uns ein wertvoller Unterstützer und Ratgeber war und zu dem gemacht hat, was wir heute sind." 

Aus dem Schopenhauer-Wort, das der Traueranzeige vorangestellt ist, kann man - wenn man will - viel von der inneren Trauer, ja, geradezu Vernichtung heraushören, die Professor Bernhard angesichts der Jahre langen Angriffe auf ihn an der Universität erfüllt haben könnten, bzw. die ich selbst während seiner Vorlesungen und Seminare glaubte, erahnen zu können:

"Das Tier lernt den Tod erst im Tode kennen: der Mensch geht mit Bewußtsein in jeder Stunde seinem Tode näher, und dies macht selbst dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht schon am ganzem Leben selbst diesen Charakter der steten Vernichtung erkannt hat."

Ja, Professor Bernhard wirkte auf mich zeitweise innerlich wie erstarrt. Wie vernichtet. Und ich hatte das Gefühl, daß dort die Behutsamkeit und sehr große, zurückhaltende Freundlichkeit herrührte, mit der er auf Menschen zuging und mit ihnen umging. 

Indem ich diese Schopenhauer-Worte googele, finde ich, daß sie in einem Aufsatz enthalten sind, der ebenfalls von einer Mainzer Hochschullehrerin verfaßt worden ist, und zwar von einer solchen, die in jenen Jahren bei dem von mir hoch geschätzten Philosophie-Professor Rudolf Malter (1937-1994) (Wiki) wissenschaftliche Hilfskraft war, in denen ich selbst bei diesem studiert habe (pdf). 

Von der Schopenhauer-Begeisterung von Rudolf Malter wird sie also angesteckt worden sein. Man konnte sie ja auch nicht anders als ansteckend nennen. Wo immer Menschen aufeinander treffen, die in Vorlesungen von Rudolf Malter gesessen haben, ist sofort eine innere Verbindung da. Denn diese Vorlesungen waren einfach unvergeßlich, eindrucksvoll. Ich habe sie Jahre lang besucht. Vorlesungen über Kant, über Schopenhauer, über Schiller als Philosophen, über die Geschichte der Philosophie des Abendlandes. Unvergessene Eindrücke aus der Geschichte des menschlichen Geistes. Mit außerordentlich lebendiger innerer Anteilnahme vorgetragen.

Der Hörsaal war immer voll, voll mit jungen Studenten, aber auch voll mit Menschen aus Mainz, die nach einem langen Berufsleben noch einmal den Gasthörer-Status nutzten, um Philosophie zu hören. Volksbildung von aller erster Güte.

Wundervolle Mainzer Studentenjahre, wohin seid ihr entschwunden!

Ergänzung 17.5.2022: Es war damals eine ganze Wissenschaftler-Generation, mit der ggfs. rüde umgegangen wurde, und die damit menschlich oft kaum umgehen konnte. An der Freien Universität Berlin habe ich zum Beispiel in Vorlesungen und Seminaren des Historikers Professor Wolfgang Steglich (1927-2004) (Wiki) gesessen und auch Seminararbeiten bei ihm geschrieben über die deutsche Geschichte vor und während des Ersten Weltkrieges.

Es war das zu der Zeit als sich sein Kollege Ernst Nolte ebendaselbst scharf und nicht selten überlegen offen den heftigen Angriffen der Studenten stellte. Steglich sympathisierte mit Nolte, nahm selbst aber eine ganz andere Haltung ein, auch geprägt durch Asthma und Atemnot, die ihn immer begleiteten. Auch er war keineswegs eine Kämpfernatur. 

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  1. Helke Panknin-Schappert (Mainz): Arthur Schopenhauer und die Paradoxie des Todes. In: Schopenhauer-Jahrbuch 2006 (pdf)

Freitag, 6. Mai 2022

Das Zeitalter der Zuversicht

... und das Zeitalter der Décadence
 - Stehen sie - womöglich - in einem Wechselverhältnis zueinander?

Das Zeitalter der „republic of letters“, das Zeitalter der Vigée-Lebrun (GA-j!) ist das Zeitalter der Zuversicht.

Es ist das Zeitalter der Hoffnungsfreudigkeit, des Aufbruchs.

Ist dieses Grundverständnis der Zuversicht, des Aufbruchs und der Hoffnungsfreudigkeit nicht das letztlich angemessene für eine so außerordentlich reiche kulturelle Entwicklung der Menschheit wie sie sich in den letzten 300 Jahren entfaltet hat? 

Abb. 1: Selbstportrait der französischen Portraitistin Elisabeth Vigée-Lebrun, entstanden 1801, vielleicht noch in Petersburg, vielleicht in Berlin oder Potsdam (heute im Museum der Schönen Künste in Rouen) (Grpalais)

Wir haben gelernt, wie dieser Kosmos entstanden ist, wir haben einige Grundgesetze verstanden, nach denen sich dieser Kosmos und alles Gewordene in ihm entwickelt, nach denen aus Chaos Ordnung entstehen kann. Wir haben gelernt, daß das viel Ähnlichkeit mit jenen Gesetzmäßigkeiten hat, die einstmals der Philosoph G.F.W. Hegel und andere (Hölderlin, Marx) in ihren Philosophien vorweg genommen hatten ("Umschlag von Quantität in Qualität", Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung, "Rollentreppenbegriff der Geschichte", "Dialektik der Geschichte" und vieles andere mehr.)

Wir haben gelernt wie außerordentlich speziell dieser Kosmos ist. Wie speziell er schon in seinen Anfangsbedingungen war, nämlich so speziell, daß er Strukturen und schließlich an Nervenzellen gebundenes Bewußtsein aus sich heraus hat entstehen lassen. 

Wir haben gelernt, daß das alles nicht "selbstverständlich" ist. Daß es also vermutlich wenig Sinn macht, unser Universum schlicht ein "Zufallsereignis" zu nennen. Vielleicht ist das Universum in die Welt gekommen, damit Zuversicht in der Welt sei? Damit Freude in der Welt sei? Damit Hoffnungsfreudigkeit in der Welt sei?

Denn nur aus dem Zeitalter der Décadence, der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit heraus kann man diesem herrliche Universum und unserem Leben in demselben die bloße Bedeutungslosigkeit des Zufalls zusprechen (s. S. J. Gould's "Zufall Mensch").

Wir lernen in den letzten Jahren wie außerordentlich speziell jene Bedingungen in unserer Galaxie, in unserem Sonnensystem und auf unserer Erde sein mußten, damit es erst möglich wurde, daß in 4,5 Milliarden Jahren etwas so Prekäres, etwas an so spezielle Bedingungen Gebundenes und damit Gefährdetes wie Leben - und noch mehr: wie Bewußtsein - entstehen konnten. In diesem Sonnensystem, auf diesem Planeten, auf dessen unterschiedlichen Kontinenten.

Es ist das ein so ungeheures Geschehen der Erkenntniserweiterung in den letzten 200 bis 500 Jahren. Und dennoch konnte das Zeitalter der Zuversicht um 1770, um 1790 herum so ungeheuer schnell umschlagen in ein Zeitalter der Décadence, in ein Zeitalter des "fin de sciecle", in ein Zeitalter des "Unbehagens an der Kultur", des Mißmuts, der Griesgämigkeit, des Pessimismus, der Verzweiflung, der "Desillusionierung", der Untergangsstimmung, des Scheiterns. All das sind Stimmungen, die sich auch in dem Umstand widerspiegeln, daß Millionen, nein, Milliarden von Menschen heute anteilnahmslos an diesem ungeheuren Geschehen der Erkenntniserweiterung der letzten 300 Jahre vorbei gehen.

Selbst unter den Denkenden unserer Zeit. Selbst unter den Philosophierenden unserer Zeit.

Wie war das möglich?

Wie ist das möglich?

Wo liegen die Umschlagspunkte dafür?

Deutlich wird: In einem Dichter und Denker wie Friedrich Hölderlin finden wir beides in einer Person in sich vereinigt. Zum einen diese riesige große Zuversicht. Und zum anderen - und zugleich - eine wiederholt wiederkehrende, riesige große Niedergeschlagenheit. Er hat in seinem Leben wie in seinem dichterischen Schaffen - wie in einem Brennglas – beides in sich gefaßt, die Grundstimmung des Zeitalters der Zuversicht ebenso wie die Grundstimmung des Zeitalters der Untergangsstimmung, die sich weiterentwickelte in das Zeitalter der seelischen Verelendung, des Staats-, Kultur- und Gesellschafts-Verfalls. Und was für prophetische Worte man bei ihm in diesem Zusammenhang findet (Gutenb):

O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und nicht die Priester, wenn ihr innerlich vergeht! Ihr habt den Glauben an alles Große verloren; so müßt, so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein Komet aus fremden Himmeln.

Wie konnte Hölderlin so etwas niederschreiben? Zu seiner zeit wußte man doch gar nicht, daß es tatsächlich "Kometen aus fremden Himmeln" waren, wieder und wieder, die es ermöglichten, daß sich alles Lebens verjüngte auf dieser Erde, auf diesem Planeten? Wie konnte er?

Aber etwas anderes ist auch sicher: Wir gewinnen noch nicht einmal einen angemessenen Maßstab, ein angemessenes Bewußtsein für dieses Zeitalter des Gesellschafts-, Kultur- und Politikverfalls, solange wir uns nicht aufschwingen und uns beschwingen lassen von jenem Geist, der einmal war, der wieder kommen wird, gewiß wieder kommen wird, der in uns ruht, der jeden neuen Frühling, Völkerfrühling beseelt und beseligt, der erfüllt ist von Zuversicht und Selbstvertrauen und gegenseitiger Anteilnahme der Menschen untereinander, der Geborgensein kennt, Erfülltsein von allem Seligen, was diese Erde und dieser Kosmos zu bieten haben.

Wenn wir uns dazu nicht aufschwingen können - wie wollen wir dann einen Maßstab gewinnen, ein Bewußtsein gewinnen davon, was all der Verfall, der uns umgibt (und womöglich erfüllt), eigentlich soll?

Warum?

Warum auch der?

Warum ist er da?

Warum gibt es ihn?

Warum geben wir uns ihm hin?

Wird der Verfall ... das letzte Wort haben?

Wenn wir aufschauen zu Elisabeth Vigée-Lebrun, ihrem Glanz, ihrer Schönheit, ihrem Adel, dann wissen wir wieder eines: Dieser Verfall kann und wird nicht das letzte Wort haben. In der Menschheitsgeschichte. Nein. Dazu ist Menschheit nicht entstanden, dazu ist Leben auf diesem Planeten, in diesem Kosmos nicht entstanden, damit das der Endpunkt ist, damit das "das Ende vom Lied" ist. Das, was wir heute erleben.

Nein. Von überall her ruft es uns zu: Das ist Lüge, so zu denken. In uns schlummert anderes. In uns schlummert besseres. Wir sind zu Höherem geboren, in uns ist Adel, heiliger Sinn, Edelmut, Andacht, Geschenk, Gewährung des Guten. Zu sagen, ein Zeitalter der Zuversicht wäre bloße Illusion gewesen - ja, wer im Sumpf steht, der kann nichts anderes sagen. Und denken. Gewiß. Wie auch?

Aber wir wissen es anders.

Und wer im Sumpf stehen bleibt, wird dem Adel nicht nahekommen, dem Adel, der einstmals war in der Welt, und der wieder kommen wird in dieser Welt. Wir selbst sind Bürgen dafür. Nur wir. Wer sonst? Sind es nicht unsere Träume, die diesen Adel verkünden?

Raffen wir uns auf. Besinnen wir uns. Helfen wir uns. Helfe jeder sich selbst, helfe jeder dem anderen. Erinnern wir uns. Erinnere sich jeder, was einstmals war, was ist und was wieder kommen kann, was deshalb auch wieder kommen wird. So gewiß wie es ist, daß die Sonne, die am Abend untergeht, am nächsten Morgen wieder aufgeht.

Nur wir haben es - womöglich - in der Hand, nur wir, ob es früher oder später geschieht. Daß die Sonne wieder aufgeht. Wir können der Aufbruch sein, den wir uns wünschen und der uns erwünscht erscheint, ja, der uns erwünscht erscheinen muß. Blicken wir hinaus in die Natur, blicken wir in die Menschheit, blicken wir in uns. 

Der Trank des Lebens - noch ist er an niemandem vorbeigegangen, der jemals lebte. Jeder konnte ihn trinken. Trinken wir, trinken wir doch. Erst dann ergreift uns jene Seligkeit, der wir gewahr werden müssen, wenn wir überhaupt erahnen wollen, was all der Verfall um uns und in uns eigentlich sollen.

Dienstag, 3. Mai 2022

Die "Republik der Gelehrten"

Ist das Antlitz unseres Zeitalters alternativlos?
- Nein, "Gesellschaftlicher Aufbruch - jetzt!" Eine andere Zeit ist möglich
- Im folgenden aufgezeigt am Zeitalter der "Gelehrtenrepublik" des 18. Jahrhunderts, an einer Malerin wie Élisabeth Vigée-Lebrun und ihren hinreißenden Gemälden

"Republic of letters" (Wiki) - der Begriff fällt ins Auge und begeistert, wenn man ihn in einer Rezension erwähnt findet. Zu Deutsch "Republik der Gelehrten" (Wiki). Und zwar in einer Rezension zu einem neuen Buch über die europäische Wissenschaftsgeschichte. Da ist nämlich die Rede von ... (1)

... den wissenschaftsgeschichtlichen Stichworten, nach denen die Wissenschaftsgeschichte heute üblicherweise gegliedert wird (die Revolution der Druckerpresse, die Gelehrtenrepublik, der Öffentliche Raum, die Aufklärung, Demokratie und die Industrielle Revolution).

Zuvor schon war die Rede von den ... (1)

... bekannten europäischen Marksteinen des Fortschritts: Kopernikanisches Weltbild, Newton'sches Weltbild, Naturgeschichte nach Linnae, Elektromagnetismus nach Maxwell.

Uns fällt aber heute am meisten ins Auge: "Republic of letters", "Republik der Gelehrten". Was für ein riesiges, gewaltiges Bild ersteht mit diesem kurzen Begriff: "Republic of letters".

Abb. 1: Portrait des Charles Alexandre de Calonne (1734-1802) (Wiki) - französischer Reformpolitiker und Finanzminister unter Ludwig XVI. - Gemälde der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) (Wiki), die auch sonst viele hinreißende Portraits geschaffen hat, darunter mehrere der preußischen Königin Luise

Was für eine Zeit, als edelgesinnte Geister und Gemüter - über ganz Europa hinweg - eine unsichtbare Republik bildeten, eine Republik von Gelehrten und Schöngeistern, die in einer "anderen Zeit" lebten oder gar "zeitlos", die jedenfalls ihrer eigenen Zeit weit voraus waren, die den Niederungen des Alltags entwunden waren, die einem schöneren, größeren, edleren Zeitalter entgegen strebten - durch Wissenschaft und Forschung, durch Beschäftigung mit Kunst und Kunstgeschichte, mit Literatur und Literaturgeschichte, durch Liebe und Begeisterung für alles Edle und Schöne.

Oh, Republik der Gelehrten, komm wieder. Möchte man nicht in die Arme dieser Republik sinken, sich in sie fallen lassen, frei sein, edel sein, dem Fortschritt zugeneigt sein? Wozu soll man noch - - - "Reichsbürger" sein, wenn man Angehöriger einer Republik von Gelehrten sein kann?

Die Republik der Gelehrten geht auch noch über die schöngeistigen Tafelrunden, wie sie etwa am Hofe Friedrichs des Großen in Sanssouci stattgefunden haben, hinaus. Sie führt direkt in die Studierzimmer der Gelehrten selbst. All das "Zwischenmenschliche", all die - womöglich oberflächlichen - Neckereien, Heiterkeiten, all der Zank auch, der neckische oder ernsthaftere, all der Unfriede, all die äußere, aufreibende Unruhe der Zeit, die auch noch bis in manche Tafelrunde und in manchen Salon hinein geschwappt sein mögen, sie alle sind aus dieser "Republik" verbannt.

Hier brennt die ewige Sonne der Wahrheit. 

Hier brennt die ewige Sonne der Freiheit. 

Hier brennt die ewige Sonne der Schönheit.

In diese Republik werden nur jene Geister aufgenommen - und sie werden nur insoweit aufgenommen - als sie gleichen Willens sind, von gleicher innerer Freiheit erfüllt sind, von gleicher Hoffnung auf bessere Tage erfüllt sind, auf eine bessere Welt, von gleicher Sehnsucht nach "Zukunft", nach den Inseln der Seligen.

Abb. 2: Portrait der Madame de Polignac, der engsten Vertrauten Marie-Antoinette's (Wiki), gemalt 1782/83 von Élisabeth Vigée-Lebrun (heute im Palast von Versailles) - Zu jener Zeit stand sie auf der Höhe ihres Einflusses, der ab 1785 zu schwinden begann

Nun gut, auch sonst wartet das besprochene Buch (1) offenbar mit einigen neuen Einsichten auf: Die Kopernikanische Wende ist durch die astronomischen Beschäftigungen im islamischen Bereich während des Mittelalters vorbereitet worden, die Newton'sche Wende durch Erkenntnisse, die nur durch Seefahrt und Seehandel zu gewinnen waren.

Das "Überleben des Stärkeren" des Charles Darwin hat sich im "Frontier"-Idealismus der US-amerikanischen Siedler wieder gefunden, insbesondere Marxisten haben sich für die Quantentheorie, Relativitätstheorie und Genetik begeistert. Das ist alles etwas plakativ, aber ein Körnchen Wahrheit könnte ja in allem darinnen sein.

Die Besprechung kommt zu dem Schluß, daß bei aller Einbindung der europäischen Wissenschaftsgeschichte in außereuropäische Bezüge sie dennoch "eurozentrisch" bleibt (1):

Auch fast alle nicht-europäischen Forscher, die hervorgehoben werden, sind entweder an europäischen oder US-amerikanischen Instituten ausgebildet worden.

An Stelle solcher Erörterungen wäre ja eigentlich nocvh viel spannender zu erwähnen, daß es solche Republiken von Gelehrten auch im antiken Griechenland gegeben hat. Ganz Griechenland war voller Gelehrter und Philosophen und Künstler in einer Dichte, wie es zuvor und später nie wieder vorgekommen ist. Eine solche Republik von Gelehrten hat es schon im Tang-zeitlichen China oder früher gegeben. Und auch in anderen Hochkulturen. Die Möglichkeit einer "Republik von Gelehrten" ist nicht etwas spezifisch Europäisches. 

Abb. 3: Selbstportrait, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun (1790) (heute in den Uffizien)

Aber in der Neuzeit sind es eben nicht mehr China oder Griechenland oder der Vordere Orient oder Indien, die an der Spitze der geistigen und kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit stehen, sondern das ist eben Europa. 

Und was erfahren wir zusätzlich, wenn wir uns nur ein wenig umschauen zu dem Thema "Republic of letters", "Republik der Gelehrten"? 1774 etwa veröffentlichte der deutsche Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) (Wiki), der damals bei allen deutschen Dichtern hoch verehrte Dichter des "Messias", sein Buch "Die deutsche Gelehrtenrepublik". Goethe schrieb damals noch im gleichen Jahr dazu:

"Klopstocks herrliches Werk hat mir neues Leben in die Adern gegossen. Die einzige Poetik aller Zeiten und Völker. Die Einzige Regeln die möglich sind!" 

Damals war noch Begeisterung in der Welt, für Tugend und Schönheit. Wir erfahren (Wiki):

Klopstocks aufgeklärte Utopie "Die deutsche Gelehrtenrepublik" (1774) ist ein Konzept, das für die als regierungsunfähig angesehene Fürstenherrschaft eine gebildete Elite in die Macht einsetzt. Die Republik soll von "Aldermännern", "Zünften" und "dem Volke" regiert werden, wobei den ersteren - als den gelehrtesten - die größten Befugnisse zukommen sollte, Zünften und Volk entsprechend weniger. Der "Pöbel" hingegen bekäme höchstens einen "Schreier" auf dem Landtage, denn Klopstock traute dem Volk keine Volkssouveränität zu. Bildung ist in dieser Republik das höchste Gut und qualifiziert ihren Träger zu höheren Ämtern. Entsprechend dem gelehrsamen Umgang geht es in dieser Republik äußerst pazifistisch zu: Als Strafen zwischen den Gelehrten veranschlagt Klopstock Naserümpfen, Hohngelächter und Stirnrunzeln.

Das dürfte doch mit leichter Hand schon eine Art Gegen-Entwurf gezeichnet worden sein zu jener Art von Oligarchie, in der wir heute in allen Teilen Europas und Amerikas leben. (Denn es sollte sich ja wohl inzwischen herumgesprochen haben, daß der Begriff "Demokratie" längst nicht mehr mit der Verfassungswirklichkeit übereinstimmt - wenn er es überhaupt jemals getan hat in der europäischen Neuzeit.)

Klopstock, de Calonne, Vigée-Lebrun

Wir binden als erstes Bild (zugleich Vorschaubild) in diesen Beitrag ein Portrait des französischen Reformpolitikers und Finanzministers unter Ludwig XVI. ein, Charles Alexandre de Calonne, geschaffen von der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) (Wiki) (Abb. 1). Diese hat auch sonst viele hinreißende Portraits geschaffen. Darunter zum Beispiel auch mehrere der preußischen Königin Luise. Aber dieses Portrait des französischen Reformpolitikers mag aus ihren vielen schönen Bildern noch einmal besonders hervor stechen. Und genau deshalb stellt sich auch die Frage, was das da eigentlich für ein Mann war.

Abb. 4: Selbstportrait mit Tochter von Élisabeth Vigée-Lebrun (1786) (heute im Louvre)

Und man stellt fest: Dieser befähigte Staatsmann hätte, wenn König Ludwig XVI. ihn nicht zwei Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution entlassen hätte, diesselbe verhindern können! Und was für ein hinreißend schöner Mann war er zugleich! Zumindest auf dem Portrait dieser Künstlerin Vigée-Lebrun.

In ihrer Kunst ist auch sonst die ganze Seligkeit dieser Epoche eingefangen worden. Diese war eben nicht nur von wissenschaftlichem Wahrheitsdrang erfüllt, sondern auch von politischem Freiheitsdrang und von Sehnsucht nach Schönheit und dem Ausdruckgeben von Schönheit - in der Kunst. Wie erstaunlich, wie ungewöhnlich, dies alles in einer Zeit vereinigt zu sehen. Was für ein Wunder geradezu, wenn man darauf von heute aus blickt.

Wie weit, wie unendlich weit sind wir heute von all dem entfernt. Welche Fülle an begeisternden Gemälden hat allein diese eine französische Malerin geschaffen, eine Künstlerin, von der die meisten Leser vermutlich an dieser Stelle zum ersten mal erfahren - ebenso wie der Verfasser dieser Zeilen selbst erst gestern - durch reinen Zufall - auf ihre herrliche Kunst gestoßen ist. Ihre Gemälde, Portraits und Selbstportraits sind von so viel weiblichem und künstlerischem Selbstbewußtsein getragen. Man erkennt sofort: Eine selbstbewußte, emanzipierte Frau (Abb. 2-4). Und doch zugleich ist in diesen Gemälden so viel Zartheit, so viel Menschlichkeit enthalten, so viel weibliches Mitgefühl. Und wie jung diese Künstlerin war, als sie schon diese herrlichen Gemälde schuf.

Abb. 5: Portrait der venezianischen Schriftstellerin Gräfin Isabella Albrizzi-Teotochi (1760-1836) (Wiki), entstanden 1792, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun nach ihrer Flucht aus Frankreich

Man erkennt sofort: Von diesem weiblichen Selbstbewußtsein war auch die Königin Luise erfüllt, die mehrmals zum Gegenstand der Portraitkunst der Vigée-Lebrun geworden ist. Auch sie war Reformpolitikerin, auch sie gehörte den politisch fortschrittlichen Kräften ihrer Zeit an, auch auf ihr ruhten die Hoffnungen der Besten ihres Landes und ihres Volkes. Und sie war es, die den Plan hegte, Friedrich Schiller zum preußischen Minister zu ernennen. Und just in dieser Zeit starb Friedrich Schiller einen sehr frühen Tod! Und er erhielt in Jena ein sehr merkwürdiges Begräbnis. Und sein Schädel wird bis heute mit allem Eifer von der Wissenschaft gesucht.

Was für eine Zeit. Was für Schicksale. Unbegriffene Schicksale und begriffene. Wie viel Glanz, wie viel Schönheit, wie viel strahlende Selbstsicherheit selbst unter ihren weiblichen Künstlerinnen. Wie harmlos und selbstbewußt konnten auf den Bildern der Élisabeth Vigée-Lebrun alle Anzeichen weiblicher Schönheit und weiblichen Lebens zur Darstellung kommen?

Abb. 6: "Die unentschlossene Tugend" ("La Vertu Irresolue"), gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun schon 1775, also mit zwanzig Jahren

Wer möchte nicht in einer solchen Zeit gelebt haben - oder leben?

Eine Zeit, in der der wohlgeformte Busen einer Frau noch der wohlgeformte Busen einer Frau sein durfte, ohne daß das Anstoß erregte, ohne daß man durch das Zeigen desselben seine Kultiviertheit verlor (Abb. 5). Ganz so wie in der Antike.

Abb. 7: Portrait einer jungen Dame als Flora, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun

Eine Zeit, in der eine Frau, die in Bezug auf ihre Tugendhaftigkeit nicht so recht weiß, was sie will oder wollen sollte, so außerordenlich weiblich und mitfühlsam dargestellt werden konnte (Titel "La Vertu Irresolue", das heißt "Die unentschlossene Tugend", Abb. 6). Wie so außerordentlich menschlich dieses Zeitalter. Wie so außerordentlich fern aller Bigotterie.

Abb. 8: Portrait der Sophie von Trott als Bacchantin, gemalt Élisabeth Vigée-Lebrun (1785)

Eine Zeit, in der sich Frauen als Bacchantinnen portraitieren lassen konnten (Abb. 8). 

Und so führt der Weg der Suche nach der Wahrheit und der Freiheit in letzter Instanz immer wieder zurück zur Entdeckung der Schönheit und der Liebe. 

Welches Zeitalter sollte uns dies eher bezeugen können als das Zeitalter der "republic of letters" und einer Künstlerin wie Élisabeth Vigée-Lebrun.

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  1. Jorge Cañizares-Esguerra: Rethinking the “Western” revolution in science. Rez. von James Poskett's "Horizons: The Global Origins of Modern Science" (Mariner Books, 2022. 464 pp) In: Science, 28 Apr 2022, Vol 376, Issue 6592, p. 467, DOI: 10.1126/science.abo5229, https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.abo5229