Donnerstag, 11. Juli 2013

Die lärmenden Freier im Hause des Odysseus

(Im folgenden die bedeutend erweiterte Version eines schon vor 1 1/2 Jahren auf diesem Blog veröffentlichten Beitrages. Die hier behandelte "Odyssee" von Homer soll künftig noch ausführlichere Behandlung erfahren. Das hat sie nämlich allemal verdient, wie uns erst bei der Erarbeitung dieses Beitrages voll bewußt geworden ist.)

Die lärmenden Freier im Hause des Odysseus. Welch ein Sinnbild! Sie wollten sie an sich reißen: die Ehefrau des Odysseus. Und sein Erbe. Während Odysseus selbst auf Irrfahrt war. Sie versuchten, ihn für tot zu erklären. Fast die Hälfte der "Odyssee" des Homer, nämlich der 13. bis 24. (und zugleich letzte) Gesang, behandeln gar nicht die Irrfahrten des Odysseus. Sondern in vielerlei Einzelheiten alle Vorgänge rund um seine Heimkehr. Von der Odyssee insgesamt könnte also genauso gut gesagt werden, daß sie nicht im Wesentlichen die Geschichte einer Irrfahrt ist, sondern womöglich mehr noch die Geschichte einer Heimkehr. Die Geschichte eines "coming home", wie es das "My home, my castle"-Volk nennen würde. Die Geschichte eines Nach-Hause-Kommens.

Und von diesem Teil der Odysseus-Dichtung ließ sich auch der deutsche Maler Lovis Corinth (1858-1925) (Wiki) am meisten ansprechen (Abb. 1-4).

Als Bettler im eigenen Haus

Aber wie stark müssen schon die antiken Griechen das Spannungsverhältnis erlebt haben. Auf der einen Seite nämlich: Ausgriff und Eroberung, Irrfahrt und Abenteuer, Fremde und Untergangsnot. Und auf der anderen Seite: Heimat und Heimkehr, angestammtes Erbe und Ertrotzung desselben, und schließlich das Zu-Hause-Sein selbst. Wie müssen sie von beiden Enden dieses Spannungsverhältnisses her zugleich bewegt gewesen sein. Und dies im übrigen auf der gleichen Ebene der Bewertung, auf die sie die "Ilias" stellten, den aus griechischer Sicht niemals genug besungenen Kampf um Troja.

Abb. 1: Lovis Corinth - Odysseus im Kampf mit dem Bettler, 1903
Odysseus jedenfalls kam schließlich heim. Am Ende seiner Odyssee, am Ende des Inbegriffs aller "Irrfahrten". Und da ihm, verarmt und heruntergekommen wie er war, niemand geglaubt hätte, daß er Odysseus ist, verkleidete er sich zunächst in einen Bettler (Mythentor):
Wie sehr schlug das Herz von Odysseus in seiner Brust als er sich dem Palast näherte. Niemand achtete auf ihn. Nur sein alter Hund Argos hob dem Kopf als er den Vorhof betrat. Trotz seiner Verkleidung hatte er seinen Herrn erkannt und wedelte nun freudig mit dem Schwanz. Doch die Kraft reichte nicht mehr, um Odysseus entgegenzulaufen. Und so starb er vor dessen Füßen. Verstohlen wischt sich da der heimgekehrte König eine Träne aus seinen Augen. Um Brosamen bittend ging er durch die Reihen der Freier. Einige gaben ihm tatsächlich etwas. Doch Antinoos, der Frechste von allen, warf einen Fußschemel nach ihm und traf ihn an der Schulter. Grimm flammte da in Odysseus Herzen auf. Doch noch verschloß er seinen Zorn. Weitere Beschimpfungen mußte Odysseus, der Bettler, über sich ergehen lassen. Ein anderer Bettler in diesem Hause trieb der Neid dazu, seinen Nebenbuhler zu vertreiben, und er fing einen Streit mit Odysseus an. Die Freier stachelten sie gegeneinander auf und zwangen sie zu kämpfen. Wie lachten sie, als es Odysseus gelang, den Landstreicher zu Boden zu schlagen.
Schließlich aber schlägt doch die Stunde der Rache. Und Odysseus läßt seinen Zorn sprechen (Mythentor):
Nun endlich war die Stunde der Rache gekommen. Tür um Tür verschlossen die treuen Diener, so daß die Freier nicht entkommen konnten. Dann griffen Odysseus und Telemachos zu den Waffen, die sie zuvor im Saal versteckt hatten. Ein fürchterliches Blutbad richteten sie unter den Freiern an, dem keiner von ihnen entkam.
Diese Stunde des Zorns nun hat der Maler Lovis Corinth in seinem Werk 1913/14 aufgefangen (Abb. 2, 3). Sie sind heute zu sehen in der "Berlinischen Galerie", dem Landesmuseum für moderne Kunst in der Nähe des "Checkpoint Charly", diese Gemälde (1, 2). Und sie machen deutlich, wie sehr Lovis Corinth von dieser Dichtung rund um Odysseus ergriffen gewesen ist. Den Kampf des Odysseus mit dem Bettler hatte Corinth ja schon im Jahr 1903 in einem wild bewegten, burlesken und kuriosen Gemälde dargestellt. Auch dies ein echter "Corinth" eben aus der Zeit seines vollsten Kraftgefühls heraus (Abb. 1).

Abb. 2: Lovis Corinth - Odysseus und die Freier, 1913/14
Doch nun nicht mehr der gedemütigte Bettler Odysseus. Sondern der sich wieder aufrichtende, beziehungsweise der aufgerichtete bogenschießende Odysseus. Im Kampf mit den Freiern. Dies ist gemalt worden nach dem tiefen Einschnitt im Leben Corinths. Nämlich nach seinem schweren Schlaganfall im Dezember 1911. Es ist ernsthafter. So wie das ausgewählte Thema selbst ein ernsthafteres ist. Und das Erlebnis dieser Dichtung flammte - wie so oft - weiter in Corinth fort. Er schuf noch in den Jahren 1917 und 1919 andere Varianten zu diesen Gemälden (Abb. 4) (1917: abc, 1919: ab).

Abb. 3: Lovis Corinth - Odysseus und die Freier, 1913/14
Möglichkeiten der Deutung der "Odyssee"

Corinth scheint sich hier eines der Urthemen der Menschheit angenommen zu haben. Immer wieder drängen sich Unberechtigte in ein Erbe. In ein Erbe, das ihnen nicht gehört. Und sie prassen darin. Achtlos, lärmend, laut. Und sogar die Treue der eigenen Ehefrau wird auf eine harte Probe gestellt.

Und manchmal ist der Ehemann und eigentliche Besitzer furchterregend lang auf Irrfahrt. Oder womöglich ist er schon wieder zurück? Und geht unerkannt - vielleicht gar wie Odysseus als Bettler verkleidet - im Hause umher? Wer könnte denn dieser Bettler sein? Du? Ich? Oder wir alle?

Dieser Mythos könnte zu sehr vielen grundlegenden Zusammenhängen menschlichen Lebens in Bezug gesetzt werden. Etwa in dem Sinne: Der Mensch verläßt die Heimat seiner Seele, nämlich die Kindheit. Und über lange Irrfahrten des Lebens hinweg kehrt er im Reifealter zu dieser Heimat seiner Seele zurück. Allerdings hat sich dort - nämlich in seiner Seele selbst - inzwischen viel Lärmendes, Ungebührendes angesammelt. Und wie ein Bettler könnte das "bessere Ich" seiner Seele nun im eigenen Haus umhergehen und die Vorgänge dort wie ein Fremder beobachten. - Bis sich dieses "bessere Ich" auflehnt gegen all das Ungebührende. Bis es die "Freier" seiner Seele in der Aufwallung großen Zornes vernichtet - und wieder das Erbe einnimmt.

Abb. 4: Lovis Corinth - Odysseus und die Freier, Variante, 1919 (abc)
Ob Peter Sloterdijk in seinem Buch "Zorn und Zeit" auch auf diesen homerischen Mythos zu sprechen kommt? Diesen großartigen Moment jedenfalls hat Lovis Corinth in seinen Gemälden aufgefangen.

Und so wie auf innerseelischer Ebene kann die Dichtung natürlich auch auf vielen Ebenen außerhalb der einzelnen individuellen Seele gedeutet werden. Etwa als der "klassische Fall" einer dialektischen Entwicklung der Menschheitsgeschichte: Naturverbundene, tatkräftige Völker werden durch Einführung ihnen zunächst fremder Religionen und damit verbundener Lebensweisen auf die "Irrfahrt" ihrer eigenen Geschichte geschickt. Und sie müssen sich - in der geistigen Entfremdung - Jahrhunderte lang mit dieser Fremde auseinandersetzen, sehnen sich Jahrhunderte lang nach Rückkehr, nach Wiedergeburt ("Renaissance"). Und eines Tages kehren sie tatsächlich zurück. Sie werfen die lärmenden Freier ihrer Seele wieder aus dieser hinaus. Und kehren zu ihrer alten Naturverbundenheit, zu der schon den Kindern eigenen Lauterkeit ihrer Seele zurück. Aber  nun auf gereifter, voll bewußter Ebene.

"Es wird mir, gedenke ich der Bilder, ganz warm ums Herz"

Die Malerin Charlotte Berend-Corinth (1880-1967) (Wiki), die Ehefrau von Lovis Corinth, schrieb noch 1957, als 77-Jährige in ihrem Erinnerungsbuch "Lovis", das eigentlich nach gar keiner Richtung hin unterschätzt werden kann, so warm wird dem Leser darin der Mensch und Künstler Lovis Corinth ans Herz gelegt (4, S. 87):
Während die Sonne sich senkt, steigen vor mir die Bilder Corinths aus der ersten Zeit unserer Ehe auf - welch glückliche Zeit ist das für ihn gewesen, wie beschwingt er damals war! Da ist das großartige Porträt des Pianisten Conrad Ansorge aus dem Jahr 1903. (...) Und das dramatische Bild des Odysseus, der sich nach langer Irrfahrt, als Bettler verkleidet, Heim und Herd erkämpft. "Das ist mir fein geglückt, wie die beiden Burschen kämpfen, was?" meinte Corinth nach beendeter Arbeit in seiner lakonischen ostpreußischen Art. Zwischen den Schwelgenden hat er klein auch mein Konterfei eingefügt. Die Odysseus-Mythe ergriff ihn tief und regte ihn wiederholt zu künstlerischen Auseinandersetzungen an; das Motiv des Kampfes mit den Freiern hat er in einer groß aufgefaßten Radierung, die ich besonders liebte, variiert - in New York, in meiner Wohnung, habe ich ein schönes Exemplar an der Wand. Es wird mir, gedenke ich der Bilder, ganz warm ums Herz.
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  1. Lorenz, Ulrike u.a. (Hg.): Lovis Corinth und die Geburt der Moderne. Katalog der Ausstsellungen in Paris, Leipzig und Regensburg 2008, S. 136 ff
  2. Lovis Corinth. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und druckgraphische Zyklen. Ausstellung des Wallraff-Richartz-Museums in der Kunsthalle Köln 1976 
  3. Berend-Corinth, Charlotte:  Mein Leben mit Lovis Corinth. Hamburg 1948 (verfaßt bis 1937, Ersterscheinen 1948)
  4. Berend-Corinth, Charlotte: Lovis. Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin 1959 (Verfaßt 1957, Ersterscheinen bei Langen Müller 1958) (Google Bücher)

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