Das Leben der Mutter von Gisela Heidenreich im Dritten Reich und mit seinen Folgen
Wie der Nationalsozialismus eigentlich "psychologisch funktionierte", ist noch heute für viele Menschen schwer nachvollziehbar (1). Ob das etwa durch die Diskussionen um das Buch "Das Amt und die Vergangenheit" besser verständlich geworden ist (vgl. früherer Beitrag hier auf dem Blog) bleibt zweifelhaft. Auffällig erscheint, daß die Elitenkontinuität über die Jahre 1933 und 1945 hinweg schon im Jahr 1958 in einem aufsehenerregenden Buch von Kurt Ziesel thematisiert worden ist (8), ohne daß das damals spürbare Folgen gehabt hätte, ja, ohne daß die damalige Thematisierung überhaupt im Bewußtsein der Öffentlichkeit bis heute in Erinnerung geblieben wäre.
Schon damals schrieb ein hintergrundpolitikkritischer Autor wie Hermann Rehwaldt (9, S. 18 - 22), daß diese Elitenkontinuität über die Jahre 1933 und 1945 hinweg keineswegs bloß Folge von "Zufall" oder von bloßem Opportunismus gewesen wäre, sondern daß das auf der bewußten Arbeit von Hintergrundorganisationen im "metapolitischen Raum" wie der Freimaurerei oder auf freimaurerähnliche Strukturen, Lobbymächte und Seilschaften zurückzuführen ist. Im Umfeld eines solchen Opportunismus und einer solchen Sicherheit konnte sich natürlich auch viel "Fröhlichkeit" entwickeln.
Gisela Heidenreich (geb. 1943), die bekannte deutsche Schriftstellerin, hatte, wie sie erst im Laufe ihres Erwachsenenlebens nach und nach erfahren hat, eine Mutter, deren Biographie von der Nähe zu derartigen nationalsozialistischen Funktionsträgern sehr stark geprägt gewesen ist. Diese Umstände hat sie in inzwischen drei Büchern aufgearbeitet. 2002 erschien "Das endlose Jahr - Die langsame Entdeckung der eigenen Biographie - Ein Lebensborn-Schicksal", 2006 der Folgeband "Sieben Jahre Ewigkeit - Eine deutsche Liebe" (2). Mit diesem Buch hatten wir uns schon in einem Blogartikel im Jahr 2007 beschäftigt, der in der vorliegenden Form in aktualisierter Fassung erscheint. Denn inzwischen ist das seit 2006 erwartete Buch "Geliebter Täter - Ein Diplomat im Dienst der 'Endlösung'“ von Gisela Heidenreich erschienen (3).
In diesem letzteren Buch berichtet die Autorin nun auch von der zeitgeschichtlichen Forschungsliteratur über Horst Wagner (1906 - 1977), den Gelieben ihrer Mutter zwischen 1947 und 1954, von dem auch schon der vorige Band gehandelt hatte (4, 5). Über Horst Wagner gibt es inzwischen auch einen umfangreichen Wikipedia-Artikel. Nach diesem hat Wagner eine Biographie, die vielleicht gut zum Thema Elitenkontinuität im Umfeld von Hintergrundmächten paßt. Ob sie nicht sogar wesentlich dadurch mitbeeinflußt gewesen ist, daß der Vater Wagners, wie dort erwähnt, Vorstand einer Berliner Freimaurerloge gewesen ist, ist natürlich bis heute nicht geklärt worden.
Emilie Edelmann, G. Heidenreichs Mutter |
Was Gisela Heidenreich (und natürlich ihre Mutter) veranlaßte, sich so stark mit diesem Horst Wagner zu beschäftigen, ist der Umstand, daß Horst Wagner während seines Lebens es immer wieder verstanden hat, attraktive Frauen in seinen Bann zu ziehen. Das ist wohl eine ebenso große Konstante seines Lebens wie die politische Schadloshaltung. Anfangs arbeitete er als Sportjournalist für die große Presse (Ullstein, Wolff), sowie als bezahlter Tennispartner. Ab 1936 ist er dann innerhalb des Auswärtigen Amtes karrieremäßig richtiggehend "hinaufgefallen" - wobei offenbar auch die Fälschung seines Abschlußdiploms eine Rolle gespielt hat. So ging das also im Auswärtigen Amt. Damals.
Gisela Heidenreich berichtet am Ende ihres neuesten Buches (3) von ihrer Kontaktaufnahme zur letzten Ehefrau von Horst Wagner, die er nach 1954 heiratete, obwohl er der Mutter Gisela Heidenreichs über "Sieben Jahre Ewigkeit" hinweg die Ehe versprochen hatte, und die er dann sitzengelassen hatte.
Von der inhaltlichen Problematik her gesehen fühlt man sich bei den Büchern Heidenreichs an solche wie Traudl Junges "Bis zur letzten Stunde - Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben" (2002) erinnert. Zu diesem Buch von Traudl Junge gibt es ja auch einen sehr eindrucksvollen Kinofilm, der nur aus einem Interview mit Traudl Junge besteht.
Wie sehr jedoch dieser Vergleich ins Schwarze trifft, wird schnell deutlich. Denn niemand geringerer als die langjährige Vorgängerin von Traudl Junge als Hauptsekretärin Adolf Hitlers, nämlich Johanna Wolf, war bis zu ihrem Lebensende in München eine enge Freundin von Emilie Edelmann, der Mutter Gisela Heidenreichs! Von dieser Sekretärin Hitlers erhält man in "Sieben Jahre Ewigkeit" einen menschlich positiven, ja, fröhlich-unbeschwerten Eindruck (2, S. 156 - 159). Wie überhaupt von fast allen in diesem Buch genannten, in das Geschehen des Dritten Reiches involvierten Personen.
Und das ist die "Problematik": Darf man sich Nationalsozialisten vorstellen rein menschlich-familiär von positiver Ausstrahlung? Daß sie für sich genommen, abseits des Politischen, "gute" Menschen waren? Verwandeln sich diese Menschen, nachdem man sie nach 1945 zu Monstern erklärt hatte, nach und nach in Menschen zurück, womit die Erklärung des Verbrecherischen an ihnen eigentlich noch ein wenig diffiziler und schwieriger wird?
"Die Frau mit den schönsten blauen Augen im ganzen Krankenhaus!"
Emilie Edelmann selbst jedenfalls blieb für ihre Tochter bis zu ihrem Lebensende ein rätselhafter Mensch. Als junge Frau war sie, wie sie geschildert wird: blond, schlank und "strahlend blauäugig". Sie wurde von Männern auch in geistiger Hinsicht als sehr attraktiv empfunden, auch von amerikanischen GI's. Aber auch noch als 80-jährige Frau im Krankenhaus galt sie als ausgesprochene "Favoritin" der Ärzte. Heidenreich berichtet (2, S. 76 - 78):
Viele Ärzte fanden, sie sei eine "bemerkenswert kluge, gebildete und dabei so humorvolle Frau", mit der es Spaß mache, sich zu unterhalten. (...) "Die Frau mit den schönsten blauen Augen im ganzen Krankenhaus!" (...) "Ihre Mutter ist unsere absolute Lieblingspatientin, da bin ich mit dem Chef einig - wir haben es noch nie erlebt, daß eine so alte Frau eine solche positive Ausstrahlung hat. Ehrlich gesagt, setze ich mich am Ende der Visite gern für ein paar Minuten an ihr Bett und unterhalte mich mit ihr, das ist eine reine Erholung nach all dem, was ich hier mit Patienten sonst erlebe. (...) Sie weiß sehr viel. Ihre Mutter ist etwas ganz Besonderes - kennen Sie ihr Geheimnis?"
Unheimlich! Und wenn dieses Geheimnis nun heißen sollte: Psychologie des Nationalsozialismus? - Im Gegensatz dazu hat die Tochter selbst ihre eigene Mutter fast ihr ganzes Leben hindurch immer nur als gänzlich gegenteilig erlebt und wahrgenommen. Als typisches Beispiel beschreibt sie die Reaktion ihrer Mutter, als sie als Kind während der Gipfelrast auf einer Bergtour mit herrlicher Aussicht ausrief (2, S. 171f):
"Ist das Leben nicht schön!?" - "Das ist doch nicht schön, das Leben, es ist grausam, das wirst du schon noch erfahren" antwortete sie mit einem bitteren Zug um den Mund, und ich erschrank zutiefst. (...) Meine unglückliche Mutter. Meine wehleidige Mutter. Meine depressive Mutter, die meist nur das Negative im Leben sah - jedenfalls so lange ich sie kannte.
Zwischen diesen beiden Charakterisierungen wird die Spannweite eines in der Zeit des Nationalsozialismus begonnenen und damit verquickt bleibenden Lebens deutlich und eines daraus folgenden nicht nur enttäuschten Frauenschicksals, sondern auch einer weitgehend unverarbeiteten Mutter-Kind-Beziehung. Ihre Mutter hat als junge Frau während des Krieges - vielleicht mehr durch Zufall als durch eigene Wahl - sehr intensiv in nationalsozialistischen Zusammenhängen gelebt. Und diese Zusammenhänge sind noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg in verdeckter Weise bestehen geblieben, verdeckt sogar für die eigene Tochter.
Emilie Edelmann war während des Zweiten Weltkrieges zunächst Sekretärin des Leiters der SS-"Junkerschule" (Offiziersschule) in Bad Tölz, ihrer Heimatstadt gewesen, eines kriegsverwundeten, verheirateten Mannes, dessen Frau mit vier Kindern im Württembergischen lebte. Gisela Heidenreich entsprang einer langjährigen Liebesbeziehung mit diesem Mann. Sie war ein von der Mutter gar nicht gewolltes, uneheliches Kind, das die Mutter unter Depressionen in der Anonymität eines norwegischen "Lebensborn"-Heimes zur Welt gebracht hat. Und erst später erfuhr sie, daß sie von ihrem Vater sehr wohl gewollt war. Davon berichtet das erste genannte Buch. Ihre Mutter war dann Mitarbeiterin der Organisation "Lebensborn" in Norwegen geworden und war deshalb 1947 für ein Jahr im Nürnberger Zeugentrakt als Zeugin bei den Nürnberger Prozessen gegen die Organisation "Lebensborn" inhaftiert.
Die Nicht-Identifikation der Mutter mit ihrem eigenen Kind, das sie unter Depressionen zur Welt gebracht hatte, war so weit gegangen, daß sie ihre eigene Tochter während und nach dem Krieg zunächst als ein adoptiertes "Lebensborn"-Kind und nicht als ihr eigenes Kind ausgab, und daß sie, auch nachdem sie ihrer Tochter gegenüber zugab, daß sie ihre Mutter wäre (!), noch Jahre später erzählte, ihr Vater wäre als Soldat im Krieg gefallen. Aber auch dies sollte sich später als eine Lüge herausstellen.
Der Vater ein offener, lebensoptimistischer SS-Offiziers-Ausbilder
Es war dies ein Lügen, das ihr Vater selbst nie gewünscht und gefordert hatte. Aber erst als sie 20 Jahre alt geworden war, erfuhr Gisela Heidenreich - eher durch Zufall -, daß ihr Vater noch lebte. Das hatte ihr ihre Mutter bewußt - und gegen den Willen ihres Vaters - verheimlicht. Heidenreich lernte ihren Vater, den früheren SS-Offizier, ihre Halbgeschwister und ihre Stiefmutter als lebensfrohe, offene und sympathische Menschen kennen, von denen sie bedauerte, daß sie sie erst so spät in ihrem Leben und nicht schon als Kind hatte kennenlernen können. Ihr Vater machte auf sie offenbar einen ähnlichen Eindruck, wie ihre Mutter den Krankenhaus-Ärzten gegenüber, einen Eindruck, über dessen "Nachhaltigkeit" man sich bei vielen, früher vom Nationalsozialismus begeisterten, noch alten Menschen in neueren geschichtlichen Studien zur "oral history" häufig wundert (1).
Heidenreich wurde in den ersten Lebensjahren von Familien-Angehörigen, vor allem von der Tante und der Großmutter in Bad Tölz aufgezogen und so setzte sich "unaufgearbeitete zeitgeschichtliche Vergangenheit" unmittelbar fort in einem fast zeitlebens gestörten Verhältnis der Tochter zu sich selbst und zu ihrer Mutter. Man kann die Bücher von Gisela Heidenreich, die den Beruf einer Familientherapeutin wählte und ausübt, als eine "Suche nach der eigenen Mutter" auffassen.
Liebe zu einem Verantwortlichen von Judendeportationen?
Aber selbst mit dem bisher Geschilderten, das den Inhalt von "Das endlose Jahr" ausmacht, war erst die "halbe" Wahrheit über die Vergangenheit der eigenen Mutter entdeckt. Das merkwürdige Verhalten gegenüber der Tochter nach dem Krieg war auch noch durch ganz andere Umstände begründet. Erst nach dem Tod ihrer Mutter fand Heidenreich in deren Nachlaß hunderte von glühenden Liebesbriefen, die sie zwischen 1947 und 1954 mit einem vormaligen hohen Beamten des Auswärtigen Amtes gewechselt hatte, den sie 1947 im Nürnberger Zeugentrakt kennengelernt hatte. Dabei handelte es sich um eben jenen eingangs genannten Horst Wagner, der sie sieben Jahre später sitzen lassen sollte. Johanna Wolf, die schon genannte Sekretärin Hitlers, die gemeinsam mit Emilie Edelmann in Nürnberg als Zeugin einsaß, erfuhr sehr bald von dieser Liebesbeziehung und gab dem Liebhaber in Gedichtform Ratschläge, aus denen die Stimmung unter diesen fröhlichen Leuten da in Nürnberg ganz gut hervorgeht:
Bayern-Madel, Nordlands-Bua
denka jede Hergottsfruah
anananda scho ganz stark:
packt hat's beide bis ins Mark.
...
Außerdem: wer liebentbrannt, sich für alles leicht entflammt,
was dem Partner lieb und wert, auch die Sprach' dazu gehört.
Goldig findet er's und nett, wenn er auch nur halb versteht,
was die bessere Hälft' tut flöten, Aufklärung ist schon vonnöten.
Liaba Bua, dös is net leicht, weil man's selber kaum begreift,
wia ma ausdeutscht: Herzensschneck,
Schnuckerl, tua des Zuckerl weg,
Popperl, Trutscherl, fade Molln ... hättest noch was hören wolln?
Man stand sich also schon sehr bald im Nürnberger Zeugentrakt, in dessen Turnhalle nur wenige Monate zuvor die Hauptkriegsverbrecher hingerichtet worden waren, mit einem "Vortragenden Legationsrat im Auswärtigen Amt" und SS-Standartenführer auf Du und sprach ihn mit "liaba Bua" an. Und das nicht nur die Liebhaberin selbst. Auf Spaziergängen im Gefängnishof lauschte man seinen Gesprächen mit niemand geringerem als dem Freimaurer und ehemaligen Reichskanzler Franz von Papen. Von dieser Liebesgeschichte nun handelt das zweite Buch Gisela Heidenreichs. Auch dieser Mann - wer hätte es auch anders gedacht - war schon verheiratet und hatte zwei Kinder.
Und auch zwischen diesen beiden Menschen müssen nach allem, was man aus dem Buch und den reich zitierten Liebesbriefen und dem darin enthaltenen "heißen, blutvollen Verlangen" erfährt, die "strahlenden blauen Augen", der Lebensoptimismus, die Begeisterungsfähigkeit zu einer tragenden Brücke für eine leidenschaftliche und auch von Außenstehenden heiter begleitete Liebe geworden sein. Das Heiratsversprechen, das sich beide schon ziemlich bald gegeben haben, ist nie eingelöst worden. Das letzte Dokument, das sich ihre Mutter von ihrem Geliebten aufgehoben hatte, war ein Zeitungsausschnitt von 1972:
Seit Jahren versteht es ein ehemaliger Legationsrat im Auswärtigen Amt, sich immer wieder seinem Prozeß wegen Beihilfe zum tausendfachen Judenmord zu entziehen.
Und offenbar hat Emilie Edelmann in ihrer Liebe für diesen Mann 1948 Fluchthilfe nach Italien, Südamerika und Spanien geleistet, bis 1954 die Beziehung für Emilie Edelmann sehr abrupt endete. Nun, 1954 heiratete Horst Wagner nämlich ein weiteres mal, allerdings eben nicht Emilie Edelmann. Gründe jedenfalls genug, der Tochter gegenüber viel zu verheimlichen.
Abb. 2: Horst Wagner zweiter von links |
Für den Zeithistoriker ist natürlich von Interesse, was sich in diesen Liebesbriefen eines ab 1943 mit "Judenfragen" befaßten hohen deutschen Beamten über das findet, was er da in der Zeit bis 1945 erlebt und entschieden hat. In dem Buch "Sieben Jahre Ewigkeit" findet man dazu noch nicht viel und wenig Eindeutiges. Auch behandelt der derzeitige, sogar als "lesenswert" eingestufte Wikipedia-Artikel zu Horst Wagner keineswegs Judendeportationen, sondern demgegenüber vergleichsweise weniger bedeutsame Fragen der Auslandspropaganda und von völkerrechtswidrigen Repressalien in der Behandlung von Kriegsgefangenen.
Gisela Heidenreich bringt nur ein Zeugnis aus einem zeitgeschichtlichen Werk, nach dem Horst Wagner als "Vortragender Legationsrat Inland II (Juden) im Auswärtigen Amt" am 29. 4. 1943 geschrieben haben soll (2, S. 426):
Von den allgemeinen Judenmaßnahmen können jedoch die (italienischen) Juden aus grundsätzlichen Erwägungen ... nicht ausgenommen werden.
Eine ähnliche Problematik ist in zwei zeitgleich erschienen Neuerscheinungen behandelt worden (6, 7) (vgl. auch: Zeit). Die Problematik ist wohl in allen diesen Fällen jeweils ähnlich wie für "Das Amt und die Vergangenheit" überhaupt (vgl. früherer Beitrag hier auf dem Blog). All das müßte noch einmal in einem eigenen Blogbeitrag aufgrund gründlicheren Literaturstudiums aufgearbeitet werden.
Im folgenden nur noch eine kleine Zusammenstellung von Zitaten aus den Liebesbriefen, die auf solche Fragen überhaupt nur irgend einen Bezug nehmen und die Eindrücke, die Gisela Heidenreich dabei äußert. Dabei ist zu berücksichtigen, daß 98 % der Liebesbriefe von Liebe und nur von Liebe, nichts anderem handeln, daß also nur ganz selten auf die entscheidenden Fragen Bezug genommen wird.
"Es kann nicht sein, daß meine Mutter Gott um die Freiheit eines Mörders bittet!"
Am 6. September 1947 schreibt Horst Wagner an seine Geliebte (2, S. 115):
"... Ich weiß noch nicht, was ich später tun werde. Aber jedenfalls immer etwas, womit ich dieser leidenenden Menschheit helfen kann. Ob ich Bücher schreibe, um etwas von der Schönheit des Lebens zu zeigen, oder versuche, Wege aufzufinden, die die heutigen Staatsmänner einfach nicht sehen können oder wollen und ohne die weder wir noch die Welt zu einem wirklichen Leben kommen - in jedem Fall werde ich eines benötigen und restlos im schönsten Sinne des Wortes ausnutzen - die Weisheit der Liebe, die in Deinem wunderbaren Herzen lebt und schon jetzt mein Leben teilt."
Von Gefühlen eigener Schuld, Reue oder Verantwortung für zeitgeschichtliche Ereignisse nichts zu hören, nicht das Leisteste. Am 30. Juli 1948 schreibt er unter anderem (2, S. 329):
"... Das ist ein Brief, bei dem ich wohl jeden Augenblick Schluß machen muß, morgen bekommst Du noch einen anderen. Ich bleibe bei Dir mit jeder Faser, auch wenn ich meine ganze Vergangenheit jetzt durchkramen muß. Ich bin hier in einem Dilemma" (- gemeint ist sein Prozeß in Nürnberg): "schlage ich hart zurück, werde ich in Jahren viel ehrende Achtung finden. Tue ich es weich, mehr auf die Hilfe, die ich leistete, komme ich besser weg, - das ist für uns beide besser."
Er glaubte also Argumente zu seiner Verteidigung zu haben, die ihm vor der Geschichte Achtung würden eintragen können, die ihm aber gegenwärtig schaden würden, weshalb er auf diese verzichtet. Man würde diese Argumente gerne kennenlernen. Jedenfalls auch hier keinerlei Gefühl von Schuld oder Reue, vielmehr sieht er die Möglichkeit, bei "hartem" "Zurückschlagen" in späteren Jahren, also vor der Geschichte, viel ehrende Achtung finden zu können. Auf dieses Märtyrertum will er aber "großmütig" und "großzügig" - um seiner Liebe willen (!) - verzichten! Ein reichlich grotesker "Held" (2, S. 335):
"... Ich muß jetzt sehr viel lesen und schreiben, der Tag reicht kaum. Dabei spüre ich Dinge auf bei Leuten, von denen ich früher etwas hielt, aber mein Herz ist so, daß selbst Enttäuschungen, die ich jetzt zu schmecken bekomme, meine Freude am Leben und der Welt nicht berühren ..."
Enttäuschungen bekommt er zu schmecken. Man möchte sagen: Na, wenn es mehr nicht ist! Es ist von einem Mann die Rede (2, S. 336), der
"in Deutschland blieb - Du weißt, als ich das hörte, wußte ich, das bedeute unser Unglück".
"Unser Unglück" ist natürlich vor allem sein eigenes "Unglück". Und fünf Jahre später, am 9. Dezember 1953, ist noch einmal inhaltlich von jener schon erwogenen Möglichkeit "harten Zurückschlagens" die Rede (2, S. 417):
"... Nun brauche ich von Dir eine wörtliche genaue Beschreibung Deiner Unterredung mit" (seinem Verteidiger) "Aschenauer. Wenn er recht hat, brauchen wir auf jeden Fall die Zeugenaussagen, dann könnte ich Meineidanzeige gegen den Zeugen erstellen und als Ankläger meine Sache durchpauken. Wie ist meine Möglichkeit, an diese Aussagen heranzukommen?"
Um diese Briefstelle voll zu verstehen, müßte man die Zusammenhänge seines Prozesses besser kennen. - Und die Reaktionen von Mutter und Tochter? Am 28. Juni 1948 schreibt Emilie Edelmann an ihr "über alles geliebtes Schätzilein", gemeint ist ihr Geliebter Horst Wagner (2, S. 289):
"... Liebstes, wenn alles vorbei sein wird (...), dann nehme ich Dich vom ersten Schritt an in meine starken Arme und führe Dich vom Dunkel in unser lichtes, strahlendes Nest, in dem Du dann gesunden und alles Trübe vergessen sollst, das man Dir angetan hat. Es ist mir völlig klar, daß man versuchen wird, Dich für Dinge verantwortlich zu machen, die Dein Herz und Deine Art immer schon abgelehnt haben."
Über die Antwort-Briefe ihrer Mutter schreibt Gisela Heidenreich nun heute:
... das man ihm angetan hat? Hat er niemanden etwas angetan? Meine Mutter war überzeugt davon. (2, S. 289) Entweder war die Verfolgung dieses "wunderbaren Mannes" in ihren Augen ohnehin nicht gerechtfertigt oder sie sah seine "Schuld" in der für Nazi-Täter üblichen Relativierung als rein pflichtgemäßes Handeln an. (2, S. 201)
Abb. 3: Horst Wagner |
Aber an anderer Stelle kommentiert sie einen Brief ihrer Mutter emotional mitgehend impulsiv noch viel weitergehender (2, S. 328):
Es kann nicht sein, daß dieser Mann sich über seine ministerielle Tätigkeit hinaus schuldig gemacht hat! Es kann nicht sein, daß meine Mutter Gott um die Freiheit eines Verbrechers, vielleicht gar eines Mörders bittet! ...
Und noch später schreibt sie (2, S. 410):
Wenn sogar ein sprachgewaltiger Mann wie Günter Grass es aus Schuldgefühl und Scham erst im hohen Alter fertigbringt, seine Nazi-Aktivitäten in der Jugend einzugestehen, wie kann ich meiner Mutter dann ihre Unfähigkeit vorwerfen, eine große Nachkriegsliebe, die eng mit der Nazi-Zeit verknüpft war und letztlich daran scheiterte, weitgehend verschwiegen zu haben? Mußte sie doch zusätzlich den Vorwurf fürchten, einen Nazi-Verbrecher geliebt zu haben, obwohl sie das selbst sicher nie geglaubt hat. Sonst hätte sie nicht bis zum Schluß mit Bewunderung von ihm gesprochen.
Sie schreibt über sich selbst dann (2, S. 233):
Ich möchte herausfinden, wer Wagner war, an seinem Beispiel der Frage nachgehen, wie politische Macht, vielleicht Verbrechen mit großer Liebesfähigkeit, Hingabe und zärtlicher Fürsorge vereinbar sind.
In welcher Weise sie das nun im 2011 erschienen Buch eingelöst hat, müßte gegebenenfalls noch einmal genauer eruiert werden - zusammen mit dem Studium der genannten Forschungsliteratur (5).
(Zuerst erschienen in anderer Form auf dem Blog "Studium generale", 13.5.2007.)
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1. Marks, Stephan; Mönnich-Marks, Heidi: Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus. Patmos Verlag Gmbh & Co. K, 2007 (Amazon)
2. Gisela Heidenreich: Sieben Jahre Ewigkeit. Eine deutsche Liebe. Droemer Verlag, München 2007
3. Gisela Heidenreich: Geliebter Täter. Ein Diplomat im Dienst der „Endlösung“. Droemer Verlag, München 2011
4. Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung. Berlin 1987
5. Sebastian Weitkamp: Braune Diplomaten: Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der „Endlösung“. J.H.W. Dietz, Bonn 2008
6. von Braun, Christina: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte. Propyläen Verlag, 2007
7. Senfft, Alexandra: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte. Claassen Verlag, 2007
7. Senfft, Alexandra: Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte. Claassen Verlag, 2007
8. Ziesel, Kurt: Das verlorene Gewissen. 1958
9. Ludendorff, Mathilde und Mitarbeiter: Völker wider Gotteswahn. Die drei Welttheokratien und ihr Ende. Wenig bekannte Aufsätze der Jahre 1949 bis 1972. [Quellen zur Geschichte des naturalistischen Denkens und der Hintergrundpolitik-Kritik, Bd. 4], 2012 (Scribd)
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