Freitag, 29. Oktober 2010

"Vom Gotthard weht ein schlimmer Wind ..."

Schwarze Pädagogik: Systematische sexualisierte Gewalt gegen Kinder, ausgeübt durch Jesuiten

Auf Netzwerk B von Norbert Denef, dem "Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt", ist ein neuer Bericht von einem Schüler am Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg der frühen 1960er Jahre veröffentlicht worden (NetzwerkB, 25.10.10), also einem der drei jesuitischen Elitegymnasien in Deutschland. Wie viele Berichte geht er noch davon aus, daß das Jahre lange wissentliche Dulden von Mißbrauchsfällen in der jesuitischen Erziehung nur deshalb stattgefunden hätte, damit der Orden nicht in einen schlechten Ruf kommen würde (eigentlich widersprüchliches Argument in sich).

Viel naheliegender hingegen ist - zumal auch nach Kenntnisnahme dieses Berichtes - wieder der Gedanke, daß der Orden es ganz bewußt zuließ, daß seine Schüler "zur Sünde" verleitet worden sind. Denn Menschen, die sündig geworden sind und sich so fühlen, lassen sich ja viel leichter von Priestern leiten als solche, die gar kein Sündenbewußtsein haben und auch keinerlei Anlaß dafür. All dies gehört zu den Prinzipien "Schwarzer Pädagogik". Es scheint sogar zu den Prinzipien der volkspädagogischen katholischen Einflußnahmen im Medienwesen zu gehören, wie schon verschiedentlich hier auf dem Blog gemutmaßt worden ist (Stichwort "Sacro pop").

Verantwortungslose christkatholische Eltern, verantwortungsloseste christkatholische Pädagogen

Im folgenden nun nur Auszüge aus dem Bericht, nur Auszüge, die sich vornehmlich auf die Reaktion der Ordensoberen auf die Empörung der Mutter des Schülers konzentrieren. Auch die Empörung der Mutter ist - alles in allem genommen - viel zu halbherzig geblieben - aus "Rücksicht" (!!!???) auf ihre beiden Neffen, die auch auf der Jesuitenschule waren:
(....) Die Dämonisierung des Weiblichen – nicht wenige meiner Schulkameraden hatten schwerste Schulstrafen bis hin zum Verweis zu erdulden, weil sie sich mit Mädchen auf dem Theaterplatz unterhalten haben sollten. (...)

Insgesamt bin ich in diesen Jahren wohl zwanzig Mal missbraucht worden, wobei ich die Wochenenden dabei als einen Vorfall zähle. Ich war im fraglichen Zeitraum 12 bzw. 13 Jahre alt. (...) Wie hätte man sich als Zwölfjähriger gegenüber einer erwachsenen Person wohl verhalten können, die eben noch der Religionslehrer gewesen war und den weißen Priesterkragen trug, der nun aber nackt vor mir unter der Dusche stand und (...) den ich zu allem Überfluss auch noch Duzen sollte, was mir überhaupt nicht gelang. Zudem war dieser Mann auch wegen seines unglaublichen Jähzorns und seiner Unberechenbarkeit bekannt, was mir besondere Angst machte.
"Jährzornige, unberechenbare Lehrer" - sie führen heute die katholische Lobby weltweit

Jährzornige, unberechenbare Lehrer, sollen das nicht auch andere deutsche Bischöfe, ja, der heutige Papst  und sein Bruder früher gewesen sein? ....
Meine Mutter, eine Godesberger Geschäftsfrau, die sich als Witwe eines Spätheimkehrers in der Welt durchaus zu behaupten wußte, sprach, nachdem ich mich offenbart hatte, sofort mit der Schulleitung, die damals aus Pater D. und Pater L. bestanden hatte. Dabei stellte sich zur großen Verwunderung, ja zum Entsetzen meiner Mutter heraus, dass sie den beiden Patres augenscheinlich nichts Neues überbringen konnte, denn sie schienen von den Taten etwas gewusst, zumindest aber etwas geahnt zu haben, hatten aber bis auf die spätere Versetzung (nach Tirol) nicht nur nichts unternommen, sondern ließen es zudem zu, dass Schüler des Kollegs weiterhin in Tirol mit dem Pater in Kontakt treten konnten.

Meine Mutter schien darüber besonders empört zu sein, liess aber aus ihrer christlichen Grundhaltung heraus die Dinge nun auf sich beruhen, zumal meine beiden älteren Vettern auch Schüler des Aloisiuskollegs waren und ihre Schullaufbahn durch rechtliche Schritte gegen die Kollegleitung unmöglich gemacht worden wäre. Vielleicht ist meine Mutter aber auch von den beiden Patres beschworen worden, von weiteren Verfolgung abzusehen, um sie ganz dem Orden und seiner Gerichtsbarkeit zu überlassen.

Ich selbst wurde freilich mehrfach ins Rektorenzimmer bestellt und, nach einer allgemeinen Gesprächseröffnung, deren blumige Allegorik und theologische Weitschweifigkeit ich nicht im mindesten begriff, bei Kakao und Keksen über die an mir begangenen Taten einvernommen.

Anschließend wurde mir eindrücklich empfohlen, über diese „schlimmen Dinge“ zu schweigen. (...)

Was mich damals schon als junger Mensch so empört hatte, war aber dies:

Der Pater hatte mit dem Ausleben seiner homosexuellen Neigungen gegen jenes Dogma verstoßen, das wir, die Zöglinge des Kollegs, bei strengsten Strafen zu glauben hatten und auch glaubten: Das Geschlechtliche an sich war sündig.

Dafür stand Aloysius von Gonzaga, dessen Heiligkeit nicht zuletzt darauf beruhte, dem spanischen Hofleben so gründlich entsagt zu haben, dass er bereits mit zehn Jahren das Gelübde der Keuschheit abgelegt hatte. Er war nicht nur der Namenspatron des Kollegs, sondern wachte auch als Marmorfigur in der Eingangshalle über die Einhaltung jener Regeln, die uns bei den gefürchteten Einkehrtagen, den sogenannten Exerzitien, von einem Pater P. gründlich eingeflößt worden waren.
"Die gefürchteten Einkehrtage, die Exerzitien ..."
Wer von uns Schülern gegen diese ehernen Regeln verstieß, also unkeusch war und Sünden, ja Todsünden beging, musste Kolleg und Internat über Nacht und ohne jede Gnade verlassen, auch wenn er nur als Sekundaner beim Tanztee in der Stadthalle mit – horribile dictu – Mädchen getanzt oder sich an der Bushaltestelle mit ihnen unterhalten hatte. Das Kolleg hatte überall Spione und glaubte grundsätzlich allen Zuträgern. Ständig forderten die Patres uns Schüler direkt oder indirekt auf, ihnen unser Wissen oder Halbwissen über Verborgenes und Verbotenes zu offenbaren.

Die schweren sexuellen Übergriffe des besagten Paters auf Schutzbefohlene und Minderjährige hingegen sind nicht nur unterschliffen, sondern von der Schulleitung offenbar auch deshalb über Jahre hingenommen worden, damit der Orden keinen Schaden nähme.

Der Schaden hätte darin bestanden, dass die religiösen Ziele der Gesellschaft Jesu durch eine Strafverfolgung und den damit verbundenen öffentlichen Skandal gefährdet hätten werden können.
"Das Kolleg hatte überall Spione und glaubte grundsätzlich allen Zuträgern"

Wenn es aber um Albernheiten wie die „Micky Maus“-Heftchen ging, scheuten sich die Jesuiten hingegen nicht, klar Stellung zu beziehen. So schreibt ein Pater H. im Ako-Heft 1960 über die amerikanischen Comics:

„Der verantwortungsbewußte Erzieher bewahrt ganz selbstverständlich seinen Schutzbefohlenen vor schlechten Kameraden. Er untersagt ihm auch den Umgang mit denen, die nicht bis ins tiefste Seelenleben hinein schlecht sind, die vielleicht nur wenige unedle Eigenschaften neben manchen guten haben, aber ihrer ganzen Veranlagung nach einen verderblichen Einfluss auf junge, unfertige Menschen ausüben können.“

Bei den eigenen Patres, den wirklich schlechten Kameraden, legte man freilich die moralische Messlatte wesentlich tiefer.

Insofern hatten wir, die missbrauchten Knaben, nicht nur das Unglück mit einem homosexuellen Jesuiten, der unsere Körper und Seelen jederzeit seinen Neigungen aussetzen durfte und dem als Individuum trotzdem vielleicht auch irgendwie zu verzeihen gewesen wäre, sondern auch – und vor allem – mit einer infamen jesuitischen Casuistik, die offenbar das Wohl des Ordens und seiner Ziele über das setzte, was als zivilisatorischer Standard in unserer Gesellschaft auch bei der Societas Jesu hätte gelten müssen.

Die Frage, ob mein Missbrauch und der anderer Knaben zu verhindern gewesen wäre, wenn die Kollegleitung gleich nach einem ersten Hinweis auf die Übergriffe die entsprechenden Konsequenzen gezogen hätte, ist wohl eher eine rhetorische:

Ja, natürlich, das hätte die Schulleitung tun müssen.

Sie allerdings hat es vorgezogen, uns, die ihnen anvertrauten Knaben, an höhere Ziele (oder vielmehr an das Zerrbild von höheren Zielen) zu verraten.
"Kein ernsthafter Wille" vorhanden, die Gewalt abzustellen - im Gegenteil

Und dann der deutlichste Hinweis:
Dass die Schulleitung des Aloisiuskollegs seinerzeit keineswegs ernsthaft vor hatte, dass Problem für die betroffenen Schüler zu einer endgültigen Lösung zu bringen und jeden möglichen neuen Missbrauch zu unterbinden, beweist ein Eintrag in der Ako-Chronik. Ein Jahr, nachdem das Ako den ND-Pater endlich und viel zu spät wegen seiner Übergriffe in die Tiroler Berge verbannt hatte, gab es an prominenter Stelle im Akoheft 1962/2 seine neue Adresse sozusagen als Einladung zur Kontaktaufnahme an.

Der offenbare Verrat der Jesuiten an Kindern um der hohen Ordensziele wegen wiegt für mich besonders schwer, weil er sich als Erfahrung wie Mehltau über mein eigenes Leben gelegt und Spuren genug in meinem Umgang mit Menschen hinterlassen hat. Von meinem Christentum ist seit jenen Tagen auch nicht mehr viel übrig geblieben.(...)
Unglaubliche Zustände. Wie sehr müssen Johannes Scherr, Ferdinand Freiligrath oder Gottfried Keller recht gehabt haben. Und Otto von Bismarck, als er den Jesuitenorden in Deutschland verbot. Und warum hört man immer noch nicht auf all diese weisen Menschen: "Vom Gotthard weht ein schlimmer Wind ..."

3 Kommentare:

  1. Was für ein glücklicher Zufall, daß ich ausgerechnet heute dieses Blog gefunden habe!
    Hier finde ich endlich den Argumentationsstoff, der mir inzwischen fast ausgegangen ist. Seit mehr als zwei Wochen führe ich eine gräßliche Foren-Fehde mit einem ehemaligen katholischen Priester auf der Internetseite der ZEIT.
    Ganz glich, was in der ZEIT über die Kirche geschrieben wird, dieser Herr meldet sich zu Wort und schreibt alles nieder, was nicht das Gloria des Katholischen singt. Er versteigt sich zu abenteuerlichen Behauptungen: die katholische Kirche erst habe die Menschenrechte entwickelt, ja sogar Adorno und Horckheimer wären in ihren letzten Lebensjahren einem Gottesbild nahegekommen!
    Ganz fürchterlich war eine nicht beendete Diskussion über die "Sünde" der Homosexualität. Er habe, nimmt er sich heraus, das Recht und die Pflicht, Homosexuelle für ihre Sexualität zu kritisieren, da sie eine schwere Sünde vor seinem Gott sei. Der Homosexuelle an sich fände seine Achtung, vor allem, wenn er sich nicht sexuell betätige!
    Jeden, der seine Kirche kritisiert, denunziert er als Jakobiner - und schließlich sei es eine Wahrheit, daß niemand ausschließen könne, es gäbe keinen Gott! - Es war zum Haareausraufen - selbst vor der sexuellen Mißbrauch in der Kirche sei schon in den ersten Jahren des Christentums gewarnt worden. Das zeige, sehr der katholischen KIrche an der Unschuld der Kinder gelegen sei...
    Wer die Unverschämtheiten dieses Herrn, der ein Beispiel darstellt für die dauernde Ermächtigung der katholischen Kirche, das dauernde Haschen nach politischer Macht, der kann meinen Disput auf der ZEIT-Seite nachlesen...zwischen Alexander Wolf und DerHAiner...
    Man möchte in Lachanfälle ausbrechen - wenn es nicht so bösartig wäre!

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  2. Können Sie mal einen Link angeben? Scheinbar verpaßt man da ja eine ganze Menge - aber ich finde mich auf der Zeit-Seite nicht zurecht.

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  3. Ach ja, jetzt hab ich es auch gefunden:

    http://www.zeit.de/2010/44/Das-ist-mir-heilig?commentstart=17#comments

    http://community.zeit.de/user/derhainer

    http://community.zeit.de/user/alexander-wolf

    Daß die katholische Lobby bei der Zeit dick drinsteckt, ist ja jüngst erst wieder durch die Übernahme des Rheinischen Merkurs deutlich geworden, der dadurch seine Auflagenzahl erheblich mehr vergrößert, als wenn er, was naheliegender gewesen wäre, zur "Jungen Freiheit" übergewechselt wäre, die auch dick von der katholischen Lobby gefördert wird.

    Verzeihen Sie es mir aber, wenn ich mich aktuell auf die ausufernden Diskussionen bei der Zeit nicht einlassen möchte/kann.

    Freut mich in jedem Fall, wenn Sie sich hier auf dem Blog ein paar Anregungen holen können. Dann ist er ja doch nicht ganz umsonst. Aber die Zeit werde ich künftig wohl auch genauer im Auge behalten, wenn es mir möglich ist.

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