Montag, 8. Februar 2010

260 Kindesmißbrauchs-Klagen gegen die Jesuiten in den USA

... und plötzlich sind sie pleite

Buchtitel aus dem Jahr 1960 von Seiten des ehemaligen Jesuiten Alighiero Tondi

Die Öffentlichkeit hat sich über zu viele Jahre hinweg zu wenig mit dem Jesuitenorden beschäftigt. Also mit der traditionell bedeutendsten "Speerspitze" des Katholizismus. Außerordentlich träge wacht eine auch kritischere Öffentlichkeit aus ihrem Tiefschlaf auf. Ein Tiefschlaf, über den der Jesuitenorden und die mit ihm sympathisierenden konservativ-katholischen Kreise in den letzten Jahrzehnten bestimmt nicht böse gewesen sein werden.

Der Berliner Journalist und Jesuitenschüler Frank Nordhausen brachte es gestern folgendermaßen auf den Punkt (Spreeblick, Kommentar 409):
Es geht im Jesuitenskandal nicht mehr um das Versagen Einzelner, sondern einer Institution, die sich an vorderster Stelle berufen fühlt, die “christlich-abendländischen Werte” zu verbreiten. Es geht um den Identitätskern der sich als Christen begreifenden Eliten nicht nur dieser Stadt.
Die Eliten "nicht nur dieser Stadt" Berlin, sondern ganz Deutschlands, Europas und weltweit, ihr Identitätskern und ihre Art der Verbreitung "christlich-abendländischer Werte" stehen also - man möchte sagen: endlich einmal intensiver zur Diskussion.

"Es geht um den Identitätskern der sich als Christen begreifenden Eliten"

An dieser Diskussion wird sich - soweit möglich - dieser Blog beteiligen.

Beim "Spiegel" finden sich inzwischen einige nicht unwichtige Informationen zu den Jesuiten zusammengetragen - unter der Spiegel-Rubrik "Jesuiten". Und erst jetzt liest man die bislang in Deutschland bestimmt nur wenig beachtete Meldung (Spiegel, 18.2.09), die dort schon vor einem Jahr gebracht wurde, wonach die Jesuiten in den USA im Zusammenhang mit dortigen etwa 260 Schadensersatzklagen von Mißbrauchsopfern Gläubigerschutz beantragt hätten, da sie - - - "pleite" wären.

Aus diesem Umstand geht zunächst hervor, daß der Jesuitenorden in den letzten Jahren außerhalb Deutschlands schon reichlich Erfahrung gesammelt hat, wie - günstigstenfalls - mit "unvermeidbarer" Aufarbeitung von Kindesmißbrauchsfällen zu verfahren ist, und wie man gerne auch einmal schnell "pleite" gehen kann, wenn dabei die finanzielle Substanz angetastet werden würde. Es scheint kaum denkbar, daß diese Erfahrungen nicht auch mit dazu beigetragen haben sollten, daß die derzeitige "Öffentlichkeitsarbeit" des Jesuitenordens in Deutschland genauso betrieben wird, wie sie eben derzeit betrieben wird, nämlich "halboffen", "halbverdeckt" und indem man dabei einen so Papst-kritischen Jesuiten in den Mittelpunkt stellt wie den Berliner Rektor, der, wie er selbst sagt, "ohne Plan", "ohne Strategie" handeln würde. Ohne jedoch - solange man es nicht muß - den Jesuitenorden selbst und seine inneren Strukturen, psychischen Befindlichkeiten zu thematisieren.

260 Klagen wegen Kindesmißbrauch gegen den Jesuitenorden in den USA. Und das, soweit man sieht, zunächst nur in vier Staaten von 50. Und es wird wiederum davon auszugehen sein, daß hier überall gesellschaftliche "Eliten" "beschult" und damit ("mitunter") auch seelisch abgetötet worden sind. (Mehr Auskünfte finden sich auf einem Wikipedia-Eintrag, auch auf dem englischsprachigen.)

So langsam wird also einiges von dem erkennbar, was unter der derzeit vielgenannten "Spitze des Eisberges" alles noch verborgen ist. Und was - entsprechend der Zahlen in den USA - auch in Deutschland unter dieser Spitze verborgen sein wird. Möglicherweise hat man mit dieser Meldung auch einen Hinweis darauf, warum der Jesuitenorden gerade um diese Zeit so "ganz von selbst" auch in Deutschland damit begonnen hat, seine Verfehlungen öffentlich zu thematisieren. Nach dem Motto des Radio-Vatikan-Paters von Gemmingen: "Früher oder später wäre es ja doch bekannt geworden ..."

Saubermänner. Allesamt (s.a.: Süddt. Ztg. 20.11.07).

94 Mißbrauchsfälle in der katholischen Kirche in Deutschland seit 1995

Nun also hat der Orden kein Geld mehr. Obwohl er sich doch allseits immer so dessen rühmt, wie gut ihr Glaube und Bankiertätigkeit zusammenpassen würden, und wie sehr die Exzertitien Loyolas auch geeignet wären, Wirtschaftsmanagern zu helfen. Plötzlich also sind sie ganz nutzlos in dieser Hinsicht?

Wie der Stand in Deutschland ist, ist ebenfalls zu erfahren (Spiegel, 6.2.10):
Eine Umfrage des "Spiegel" bei allen 27 deutschen Bistümern ergab, dass seit 1995 mindestens 94 Kleriker und Laien unter Missbrauchsverdacht geraten sind. 30 von ihnen wurden in der Vergangenheit juristisch belangt und verurteilt.

Viele Fälle waren zum Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens jedoch bereits verjährt. Derzeit stehen den Angaben zufolge mindestens zehn Kirchendiener unter Missbrauchsverdacht.

Von den 27 Bistümern, die der SPIEGEL am vorigen Dienstag angefragt hatte, antworteten 24. Nur die Bistümer Limburg, Regensburg und Dresden-Meißen verweigerten eine Auskunft zu Missbrauchsfällen. (...)

Erste Missbrauchsfälle aus den siebziger und achtziger Jahren waren am 28. Januar in Berlin öffentlich geworden. Dann kamen weitere Taten von drei Jesuiten-Patern in Hamburg, Hildesheim, Göttingen, Hannover, im Schwarzwald und in Bonn ans Licht. Die Zahl der Opfer liegt bei mindestens 30.
Von katholischen Medien werden die vom "Spiegel" genannten Zahlen mit verschiedenen Argumentationsstrategien heruntergespielt (Domradio, 7.2.10, Heise, 1.10.09). Ein ehemaliger Jesuitenschüler und Jugendleiter an einer Jesuitenschule, Ansgar Hocke, erinnert sich jetzt (Spiegel, 7.2.10):
Einige von uns heulten sich auf einer Jugendfahrt nächtelang die Seele aus dem Leib. Wir fragten, warum, und erhielten keine Antwort. (...) Die Priester glaubten felsenfest, mit ihrer theologischen Kompetenz über Gut und Böse menschlicher Sexualität urteilen zu dürfen. (...) Sie gaben vor, uns zu verstehen. Letztendlich aber warteten sie darauf, unbewusst oder bewusst, ihr nächstes Opfer zu erwischen.
Christliche Menschenliebe und Haß auf alle, die sich nicht mißbrauchen oder mißbrauchen haben lassen?

Immer wieder ist die Rede davon, daß auf Jesuitenschulen keine "Weichlinge" erzogen werden sollten. Waren solche Erziehungsmethoden - oder die wohlwollende Duldung derselben durch Ordensobere, so fragt man sich zunehmend, ein Mittel, um zu selektieren? Wieviele von denen, die heute Jesuiten oder Jesuiten-Sympathisanten sind, sind mißbraucht worden, seelisch und/oder körperlich, ohne daß sie dies heute noch als Mißbrauch empfinden, da sie sich aufgrund dieses Mißbrauchs mit jenen identifizieren, die sie mißbraucht haben? (Man kann sich ja auch selbst mißbrauchen.) Und da sie in den eigenen Augen und denen der Jesuiten eben keine "Weichlinge" waren und sind? Nicht gar so "sensibel" sind?

Da sie möglicherweise eben gerade durch diesen Mißbrauch alle zu hassen gelernt haben, die nicht mißbraucht worden sind oder sich nicht selbst mißbraucht haben? Und da sie ebenso ihren eigenen Körper zu hassen gelernt haben - und zwar unglaublich gründlich? Und da sie zugleich gelernt haben, diesen Haß hinter der typischen Heuchelei christlicher Menschenliebe zu verbergen?

Ist es nicht eine solche Diskrepanz einerseits des geradezu hetzenden Hasses gegen alles Natürliche, alles Leibliche, alles Weltliche, natürlich auch alles Nichtkatholische, Heidnische, Ungetaufte*) auf der einen Seite und auf der anderen Seite diese heuchlerische, allgemeine, christliche "Menschenliebe", die vielen Katholiken, insbesondere aber den Jesuiten immer schon vorgeworfen worden ist in der Geschichte, und die sie vielleicht mit einer gewissen Folgerichtigkeit und geradezu "methodisch" auf die Spitze getrieben haben?

Es besteht Anlaß, hier noch vielen Fragen nachzugehen. Grob fahrlässig wäre es für jeden dem Geist der Aufklärung verpflichteten Menschn, diesen Fragen nicht nachzugehen und zu sagen, das beträfe ja nur noch "Randgruppen" in unserer Gesellschaft. Sehen sie denn nicht, wie tiefreichend solche auch politisch einflußreichen Orden in die Gesellschaft hineinwirken, die sich zumal darauf konzentrieren, die gesellschaftlichen Eliten zu schulen? Darf man über solche Möglichkeiten gleichgültig hinweggehen?

Gibt es denn auf Seiten des Jesuitenordens heute keinen Haß mehr gegen die Unkatholischen? Oder ist er in den letzten Jahrzehnten nur besser versteckt worden? In den Büchern von Alighiero Tondi (1), eines abgefallenen Jesuiten der 1950er und 1960er Jahre ist viel enthalten über eine allgemeine Psychologie des Priesters, insbesondere des Jesuitenpriesters. Das muß noch sehr gründlich aufgearbeitet werden, um zu verstehen, welche psychologischen Kräfte hier innerhalb des Ordens und über diesen hinaus wirksam sind. (Siehe nächste Beiträge.)
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*) Als Deutschland "Papst" wurde und Herr Ratzinger als neuer Papst mit großem Gepränge seinen Geburtsort besuchte und dort zusammen mit seinem Bruder in jener Kirche betete, in der er getauft worden war, wurde in der Presse doch auch die Auffälligkeit vermerkt, daß Herr Ratzinger das Haus, in dem er geboren worden war, in der Öffentlichkeit dieses Tages offenbar sehr bewußt mit keinem Blick würdigte. Es wäre dies auf jeden Fall echtester Katholizismus: "Geboren" wird man erst durch die Taufe. - Aber welch eine Verachtung der eigenen Mutter gegenüber. Es fällt schwer anzunehmen, daß dieses "Nichthinsehen" bei dem Gedenken an die eigenen Wurzeln keine bewußte Geste von Seiten dieses Papstes gewesen sein sollte.
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1. Tondi, Alighiero: Die Jesuiten. Bekenntnisse und Erinnerungen. Aufbau-Verlag, Berlin 1961

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