Es sollen einige Kommentare gegeben werden zu der Veranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die gestern abend in Berlin stattgefunden hat zum Thema "Die Evolution des menschlichen Sozialverhaltens" (s. St. gen., BBAW).
Es ist auffällig, daß man heute oft leicht dahin ausgesprochene Lippenbekenntnisse von Soziologen und Sozialwissenschaftlern zur Einbeziehung der biologischen und evolutionären Bedingtheit des Menschen in die eigenen Forschungen hört. So auch an diesem Abend von seiten Gerd Gigerenzer's und Hartmut Essers. Letzterer ist der Lehrstuhl-Nachfolger des Philosophen und Soziologen Hans Albert, der zum wissenschaftlichen Beirat der Giordano Bruno-Stiftung gehört und als der "Stellvertreter von Sir Raimund Popper in Deutschland" gehandelt wird (wie man von Hartmut Esser an diesem Abend auch erfahren konnte). (Popper aber, so möchte man meinen, war zu allen Zeiten dichter an der Auseinandersetzung mit evolutionärem Denken dran, stärker in es involviert als diese seine beiden "Stellvertreter" in Deutschland.)
Gigerenzer und Esser kommen beide, soweit übersehbar, von der rational choice-Theorie in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften her, von der sie beide behaupten, sie hätten sie persönlich schon längst überwunden und wären schon längst zu differenzierteren, dem menschlichen Verhalten angemesseneren Betrachtungsweisen übergegangen.
Da es an diesem Abend aber nun um die "Evolution des menschlichen Sozialverhaltens" ging, wäre es die erste Aufgabe von Grigerenzer und Esser gewesen aufzuzeigen, inwieweit sich ihr inzwischen so viel stärker "differenziertes" Denken schlicht und einfach in das allgemeine, übrige evolutionäre Denken einordnet, zu dem sie sich beide mehr oder weniger ausgesprochen bekannten. Und sie hätten aufzeigen müssen, wie ihr eigenes Denken und Forschen dem allgemeinen evolutionären Nachdenken über den Menschen Anregung geben kann. Das taten beide im besten Falle - verhalten.
Wie geht man mit Lippenbekenntnissen um?
Aber die entscheidende Frage, die sich dem Autor dieser Zeilen stellt, ist nun: Wie geht man als Biologe (Peter Hammerstein) oder als tief und eindeutig im evolutionären Denken verwurzelter Soziologe (Peter Weingart) mit solchen Lippenbekenntnissen zum evolutionären Denken um? Es könnte einem nicht aggressiv genug gewesen sein, was Hammerstein und Weingart gestern abend vorzubringen hatten solchen Lippenbekenntnissen gegenüber.
Alles, was beide sagten, war vom Inhalt her brilliant. Peter Weingart (siehe Bild rechts), der Organisator des Forums, referierte die Evolutionstheorien unter anderem von Luigi Cavalli-Sforza und Marcus Feldman, sowie von Edward O. Wilson und Charles Lumsden (siehe ihr Buch "Das Feuer des Prometheus"). Gerade die letztere Theorie geht davon aus, worauf auch Peter Weingart aufmerksam machte, daß "nicht alle (menschlichen) kulturellen Entwicklungen" in jeder populationsgenetischen Häufigkeitsverteilung möglich sind, sondern daß Gene und Kultur einander bedingen. Was will man mehr? Das sind unglaublich fruchtbare Ansätze, um über das Wesen des Menschen und seiner kulturellen Vielfalt weltweit nachzudenken und zu forschen.
Peter Hammerstein referierte über den Verwandten-Altruismus von William D. Hamilton, verwies darauf, daß dieser im menschlichen Alltagsleben eine unübersehbare Rolle spielt und referierte darüber, daß es für den Gegenseitigkeits-Altruismus des Robert Trivers erstaunlich wenige Beispiele im Verhalten der Tiere gibt. (Er sprach vom "Schiffbruch" der Theorie vom reziproken Altruismus.) Hammerstein ging dann auf die Theorie von der Gruppenselektion ein, wobei er von einem Selektionsvorteil einer genetischen Basis für gruppenkonformes Verhalten beim Menschen ausging und die kulturelle Gruppenselektion nach Boyd und Richerson favorisierte. Daß es menschliche Kulturen gibt, die mehr auf Individualität - in Europa - und mehr auf gruppenkonformes Verhalten - in Asien - wert legen, und daß auch das - siehe Weingart - im Zusammenhang mit unterschiedlicher Genetik stehen könnte, darauf ging Hammerstein nicht ein. (Er erwähnte aber an anderer Stelle flüchtig die weltweit unterschiedlich verteilte Genetik der Erwachsenen-Milchverdauung.)
Mehr die Sensibilität des Themas herausarbeiten
Hier aber schon könnte man einen der Hauptkritikpunkte des Abends sehen. Wenn man zu fruchtbaren Streitgesprächen kommen will, und bloße Lippenbekenntnisse zu evolutionärem Denken klarer als solche durchschaut sehen möchte, dann muß man ein wenig mehr, als Hammerstein und Weingart das taten, die ambivalente, gefährliche Natur der evolutionären Bedingtheit menschlichen Verhaltens herausarbeiten. Man darf nicht nur die "Wohlfühl"-Aspekte eines solchen Denkens herausarbeiten. Und man muß auch aufzeigen, zu was für einer viel differenzierteren Betrachtungsweise man auch ganz allgemein gelangt, wenn man evolutionär denkt.
Hammerstein tat das dann ansatzweise, als er in der Diskussion auf lethale Gruppenauseinandersetzungen in der Evolution menschlichen Sozialverhaltens hinwies und auf diesbezügliche Beobachtungen schon bei Schimpansen. Er tat es vielleicht noch mehr, als er darauf hinwies, daß auch das Sprechen von "bedingt optimierten Entscheidungen" (das Hauptthema von Gigerenzer und Esser) aus evolutionärer Sicht immer noch keine sehr gültige Beschreibung menschlichen Sozialverhaltens ist. Hammerstein wies nämlich auf die genetische Angepaßtheit von Sozialverhalten hin - wie das Fluchtverhalten von Huftieren -, das unter veränderten Lebensbedingungen - etwa Zoo-Haltung - unangepaßt wird.
Und mit einem Schlag merkt man, welche riesige Bandbreite von Möglichkeiten im Denken die rational choice-Theoretiker bislang, sprich Jahrzehnte lang (!), übersehen haben, selbst dann noch, wenn sie weniger rationale "Bauchentscheidungen" nun endlich in ihre Theorien mit hineingenommen haben. Auch diese weniger rationalen Bauchentscheidungen können noch evolutionär unangepaßt sein. Ob sie darüber schon jemals ernsthafter nachgedacht haben? Ob ihre eigenen "Bauchentscheidungen" in der Wahl ihres wissenschaftlichen Themas bislang schon evolutionär angepaßt genug gewesen sind? - - -
Weingart und Hammerstein hätten ein bischen herausfordernder auf die Brisanz ihrer Themen aufmerksam machen müssen. Denn nur dann kommt doch fruchtbare Diskussion und Auseinandersetzung in der Sache zustande. Nur dann kann wohlgefälliges, Gegensätze verwischendes, gegenseitiges Köpfenicken vermieden werden. - So das Fazit dieses Abends.
Es ist auffällig, daß man heute oft leicht dahin ausgesprochene Lippenbekenntnisse von Soziologen und Sozialwissenschaftlern zur Einbeziehung der biologischen und evolutionären Bedingtheit des Menschen in die eigenen Forschungen hört. So auch an diesem Abend von seiten Gerd Gigerenzer's und Hartmut Essers. Letzterer ist der Lehrstuhl-Nachfolger des Philosophen und Soziologen Hans Albert, der zum wissenschaftlichen Beirat der Giordano Bruno-Stiftung gehört und als der "Stellvertreter von Sir Raimund Popper in Deutschland" gehandelt wird (wie man von Hartmut Esser an diesem Abend auch erfahren konnte). (Popper aber, so möchte man meinen, war zu allen Zeiten dichter an der Auseinandersetzung mit evolutionärem Denken dran, stärker in es involviert als diese seine beiden "Stellvertreter" in Deutschland.)
Gigerenzer und Esser kommen beide, soweit übersehbar, von der rational choice-Theorie in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften her, von der sie beide behaupten, sie hätten sie persönlich schon längst überwunden und wären schon längst zu differenzierteren, dem menschlichen Verhalten angemesseneren Betrachtungsweisen übergegangen.
Da es an diesem Abend aber nun um die "Evolution des menschlichen Sozialverhaltens" ging, wäre es die erste Aufgabe von Grigerenzer und Esser gewesen aufzuzeigen, inwieweit sich ihr inzwischen so viel stärker "differenziertes" Denken schlicht und einfach in das allgemeine, übrige evolutionäre Denken einordnet, zu dem sie sich beide mehr oder weniger ausgesprochen bekannten. Und sie hätten aufzeigen müssen, wie ihr eigenes Denken und Forschen dem allgemeinen evolutionären Nachdenken über den Menschen Anregung geben kann. Das taten beide im besten Falle - verhalten.
Wie geht man mit Lippenbekenntnissen um?
Aber die entscheidende Frage, die sich dem Autor dieser Zeilen stellt, ist nun: Wie geht man als Biologe (Peter Hammerstein) oder als tief und eindeutig im evolutionären Denken verwurzelter Soziologe (Peter Weingart) mit solchen Lippenbekenntnissen zum evolutionären Denken um? Es könnte einem nicht aggressiv genug gewesen sein, was Hammerstein und Weingart gestern abend vorzubringen hatten solchen Lippenbekenntnissen gegenüber.
Alles, was beide sagten, war vom Inhalt her brilliant. Peter Weingart (siehe Bild rechts), der Organisator des Forums, referierte die Evolutionstheorien unter anderem von Luigi Cavalli-Sforza und Marcus Feldman, sowie von Edward O. Wilson und Charles Lumsden (siehe ihr Buch "Das Feuer des Prometheus"). Gerade die letztere Theorie geht davon aus, worauf auch Peter Weingart aufmerksam machte, daß "nicht alle (menschlichen) kulturellen Entwicklungen" in jeder populationsgenetischen Häufigkeitsverteilung möglich sind, sondern daß Gene und Kultur einander bedingen. Was will man mehr? Das sind unglaublich fruchtbare Ansätze, um über das Wesen des Menschen und seiner kulturellen Vielfalt weltweit nachzudenken und zu forschen.
Peter Hammerstein referierte über den Verwandten-Altruismus von William D. Hamilton, verwies darauf, daß dieser im menschlichen Alltagsleben eine unübersehbare Rolle spielt und referierte darüber, daß es für den Gegenseitigkeits-Altruismus des Robert Trivers erstaunlich wenige Beispiele im Verhalten der Tiere gibt. (Er sprach vom "Schiffbruch" der Theorie vom reziproken Altruismus.) Hammerstein ging dann auf die Theorie von der Gruppenselektion ein, wobei er von einem Selektionsvorteil einer genetischen Basis für gruppenkonformes Verhalten beim Menschen ausging und die kulturelle Gruppenselektion nach Boyd und Richerson favorisierte. Daß es menschliche Kulturen gibt, die mehr auf Individualität - in Europa - und mehr auf gruppenkonformes Verhalten - in Asien - wert legen, und daß auch das - siehe Weingart - im Zusammenhang mit unterschiedlicher Genetik stehen könnte, darauf ging Hammerstein nicht ein. (Er erwähnte aber an anderer Stelle flüchtig die weltweit unterschiedlich verteilte Genetik der Erwachsenen-Milchverdauung.)
Mehr die Sensibilität des Themas herausarbeiten
Hier aber schon könnte man einen der Hauptkritikpunkte des Abends sehen. Wenn man zu fruchtbaren Streitgesprächen kommen will, und bloße Lippenbekenntnisse zu evolutionärem Denken klarer als solche durchschaut sehen möchte, dann muß man ein wenig mehr, als Hammerstein und Weingart das taten, die ambivalente, gefährliche Natur der evolutionären Bedingtheit menschlichen Verhaltens herausarbeiten. Man darf nicht nur die "Wohlfühl"-Aspekte eines solchen Denkens herausarbeiten. Und man muß auch aufzeigen, zu was für einer viel differenzierteren Betrachtungsweise man auch ganz allgemein gelangt, wenn man evolutionär denkt.
Hammerstein tat das dann ansatzweise, als er in der Diskussion auf lethale Gruppenauseinandersetzungen in der Evolution menschlichen Sozialverhaltens hinwies und auf diesbezügliche Beobachtungen schon bei Schimpansen. Er tat es vielleicht noch mehr, als er darauf hinwies, daß auch das Sprechen von "bedingt optimierten Entscheidungen" (das Hauptthema von Gigerenzer und Esser) aus evolutionärer Sicht immer noch keine sehr gültige Beschreibung menschlichen Sozialverhaltens ist. Hammerstein wies nämlich auf die genetische Angepaßtheit von Sozialverhalten hin - wie das Fluchtverhalten von Huftieren -, das unter veränderten Lebensbedingungen - etwa Zoo-Haltung - unangepaßt wird.
Und mit einem Schlag merkt man, welche riesige Bandbreite von Möglichkeiten im Denken die rational choice-Theoretiker bislang, sprich Jahrzehnte lang (!), übersehen haben, selbst dann noch, wenn sie weniger rationale "Bauchentscheidungen" nun endlich in ihre Theorien mit hineingenommen haben. Auch diese weniger rationalen Bauchentscheidungen können noch evolutionär unangepaßt sein. Ob sie darüber schon jemals ernsthafter nachgedacht haben? Ob ihre eigenen "Bauchentscheidungen" in der Wahl ihres wissenschaftlichen Themas bislang schon evolutionär angepaßt genug gewesen sind? - - -
Weingart und Hammerstein hätten ein bischen herausfordernder auf die Brisanz ihrer Themen aufmerksam machen müssen. Denn nur dann kommt doch fruchtbare Diskussion und Auseinandersetzung in der Sache zustande. Nur dann kann wohlgefälliges, Gegensätze verwischendes, gegenseitiges Köpfenicken vermieden werden. - So das Fazit dieses Abends.
Ein Artikel von Hartmut Wewetzer im Tagesspiegel zu diesem Abend bestätigt im Wesentlichen den erörterten Eindruck:
AntwortenLöschen"... Wer nun erwartet hatte, dass die versammelten Sozialwissenschaftler dem Biologen Hammerstein und dem Psychologen Gigerenzer Paroli bieten würden, um die Sonderrolle des Menschen zu verteidigen, sah sich getäuscht. ... Kein Widerspruch zur Evolutionstheorie, sondern ihre Integration."
Allerdings könnte man kritischer hinterfragen, ob Lippenbekenntnisse schon als faktische "Integration" gewertet werden können.
http://www.tagesspiegel.de/magazin/wissen/Evolution-Darwin;art304,2848793