Donnerstag, 20. Oktober 2022

Alfred Rosenberg und die Reichskristallnacht

Unsere Amazon-Rezensionen (Amaz) haben wir selten parallel auch gleichzeitig hier auf dem Blog eingestellt. 

Das wäre vermutlich noch einmal nachzuholen. Die nachfolgende Rezension der Neuveröffentlichung der Tagebücher von Alfred Rosenberg (1893-1946) (Wiki) (1), die wir am 20. September 2015 eingestellt hatten, ist inzwischen schon von 32 Nutzern als "hilfreich" gekennzeichnet worden.



Abb. 1: Rosenberg in Nürnberg 1946

Das möchten wir auch meinen, daß sie hilfreich ist (Amaz):

Eine Gesamteinschätzung des Inhaltes dieser Tagebücher ist sicher nicht von heute auf morgen möglich und wird auch in der Einleitung dieses Bandes erst gar nicht versucht für alle darin behandelten Themen. Deshalb möchte auch ich hier zunächst nur einige erste Rechercheeindrücke festhalten.
Die Überlieferungsgeschichte der Tagebücher von Alfred Rosenberg ist eine auffällige (S. 29ff). Auszüge derselben wurden schon während der Nürnberger Prozesse zugänglich gemacht. Der Hauptteil der Rosenberg'schen Tagebücher kam dann aber - unzulässigerweise - für lange Jahrzehnte in den Privatbesitz (!) des Anklägers Robert Kempner und blieb deshalb bis zum Jahr 2015 unveröffentlicht. Nur gut belesenen Fachleuten war bekannt, dass Kempner schon 1948 Auszüge aus diesem Tagebuch veröffentlicht hatte. Diese zum Verständnis der geistigen Entwicklungen im Dritten Reich sicher nicht unwichtige Veröffentlichung aus dem Jahr 1948 ist noch heute - zum Beispiel - nicht auf dem Wikipedia-Artikel zu Alfred Rosenberg verzeichnet.
Und selbst in der Veröffentlichung des Rosenberg-Tagebuches aus dem Frühjahr dieses Jahres fehlen nach Einschätzung der Herausgeber immer noch wichtige Bestandteile dieses Tagebuches. Nämlich Einträge zwischen Herbst 1941 und erster Hälfte 1942. Und auffallender Weise ist dies genau jener Zeitraum, in dem nach der heutigen wissenschaftlichen Meinung innerhalb der deutschen Führungsspitze der Plan zur Ausrottung der europäischen Juden konkrete Gestalt angenommen hat. Welche Stellungnahmen und Hinweise es gibt in Bezug auf Alfred Rosenbergs Sichtweise auf die Judenmorde und bezüglich seiner Verantwortung wird in der Einleitung sehr detailliert erörtert (S. 40-116), allerdings kann sich auch diese Darstellung an den entscheidenden Stellen nicht auf Tagebuch-Einträge stützen.
Die sicher nicht ganz unbedeutsame Kritik Rosenbergs an der Politik seines kulturpolitischen Rivalen und erklärten Gegners Josef Goebbels oder auch an der Politik des Gauleiters Erich Koch in der Ukraine ist schon in diesen Tagebuch-Blättern ähnlich durchgängig enthalten wie er sie dann auch 1946 in seinen Nürnberger Aufzeichnungen formulierte. In ihnen wird Goebbels interessanterweise auch als verantwortlich erklärt für die Reichskristallnacht des Jahres 1938. Und indem man diesem Umstand hinterher recherchiert, findet man, dass sich das Stichwort "Reichskristallnacht" in der Rosenberg-Biographie von Ernst Pieper vier mal findet. Nirgendwo aber wird in dieser erörtert, dass Rosenberg die Reichskristallnacht laut des schon 1956 veröffentlichten Tagebucheintrages ABGELEHNT hat. - Hallo?!?!Da ein Zitat dieses Tagebuch-Eintrages und damit eine Erörterung seines Inhaltes derzeit offenbar auch sonst nirgendwo im Internet oder auf "Google Bücher" zu finden ist, soll es hier einmal gebracht werden. Rosenberg gibt ein Gespräch mit Heinrich Himmler über Josef Goebbels wieder, das wahrscheinlich im Dezember 1938 stattgefunden hat, und über das Rosenberg anfangs schreibt (S. 266f):
"Zunächst erzählte er (Himmler) die ganze Angelegenheit von Fritsch und von Blomberg und machte sein persönliches Unbeteiligtsein klar." (Okay, das "Unbeteiligtsein" von Himmlers Gestapo soll auch in dem Gestapo-Weisswaschbuch "Der Sturz der Generäle" von Fritz Tobias und Karl-Heinz Janßen dargelegt werden, das allerdings auffällig viele ehemalige Gestapoleute sehr unkritisch als Informanten aufführt ohne zu erörtern, ob diese nicht auch ein Interesse daran gehabt haben könnten, vor der Öffentlichkeit für den Sturz der kriegsunwilligen Generäle nicht verantwortlich gewesen zu sein.) So "unbeteiligt" braucht man Himmlers Gestapo an diesem Geschehen ganz bestimmt nicht ansehen. Aber weiter gibt Rosenberg dann das Gespräch unter anderem folgendermaßen wieder:
"Ich: Die Sache mit dem Judenprogrom war doch ebenso staatsschädigend. Dr. Goebbels hat nur auf Grund einer allgemeinen Anordnung des Führers gleichsam in seinem Namen die Aktion geboten. Görings Gegenbefehl kam zu spät. Schaden an Volksgut: fast 2 Winterhilfswerke: 600 Millionen!

Himmler: Ja; alles wird jetzt auf andere geschoben.
Ich: Für alles das, was Goebbels macht, müssen wir bezahlen. Es ist furchtbar."
Ich traue mir so aus dem Handgelenk nicht den Versuch einer weitergehenden kritischen Bewertung und Einordnung dieses Zitates zu. Ich finde es nur auffällig, dass dasselbe, das doch irgendwie auch entlastend für Rosenberg ist, offenbar nirgendwo in der Literatur auch nur erwähnt zu sein scheint (auch nicht in der Einleitung dieses Bandes!). Und mir drängt sich da der dumpfe Verdacht auf, dass man bei genauer Lektüre dieser Tagebücher noch allerhand ähnlicher solcher Dinge finden würde. In der Einleitung werden entlastende Tagebucheinträge Rosenbergs genannt zur schlechten Behandlung der russischen Kriegsgefangenen durch Deutschland. Ausgerechnet die Seitenangaben zu diesen Einträgen scheinen dann aber nicht zu stimmen, denn auf diesen findet sich dieses Thema dann gar nicht behandelt.
Dies nur erste wenige Leseeindrücke. Insgesamt muss sich die Wissenschaft doch allmählich einmal fragen: Welchem Zweck dient ein solches Jahrzehnte langes Verschlossenhalten von Geschichtsdokumenten wie der Gesamtheit der Tagebücher von Alfred Rosenberg, von dem IMMER noch wichtige Teile nicht bekannt sind?

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  1. Jürgen Matthäus, Frank Bajohr (Herausgeber): Alfred Rosenberg - Die Tagebücher von 1934 bis 1944 (Die Zeit des Nationalsozialismus. "Schwarze Reihe".) 23 April 2015