Sonntag, 2. Oktober 2011

Katholische Kirche - Kein Lernen aus der Vergangenheit? (II)

Schon 1936/37 ist Kindesmißbrauch in der römisch-katholischen Kirche breit und aufsehenerregend vor deutschen Gerichten behandelt worden und 1971 geschichtswissenschaftlich aufgearbeitet worden. Beides blieb auch von einer kirchenkritischen Öffentlichkeit bis heute unausgewertet.

Der Tenor der Auswertung der im vorigen Beitrag behandelten Studie von Hans Günter Hockerts sowohl von Seiten der katholischen "Kommission für Zeitgeschichte", die diese Studie herausgebracht hat (4), wie von Seiten des angeblich so "kirchenkritischen" "Spiegel" von 1971 (5), wie von Seiten der angeblich so "kirchenkritischen" "Zeit" von 2002 (6), wie von Seiten des - - - "Märtyrer-Beauftragten" der Deutschen Bischofskonferenz von 2003 (!!!) (7), wie von Seiten der bigott-christlichen Internetseite Kreuz.net von 2010 (8, 9) ist ein wesentlich anderer, als der Tenor, mit dem die zitierte Wikipedia-Seite heute diese Studie auswertet und mit der auch wir selbst sie gelesen und ausgewertet haben (siehe voriger Beitrag: 10).

Allzu deutlich verharmlosen die genannte Historische Kommission (4) ebenso wie der "Spiegel" von 1971 (5) die Brisanz der Ergebnisse der Studie von Hockerts und spielen sie herunter. Die Historische Kommission unterscheidet eben genau nicht - wie es jedoch Hockerts selbst klar getan hat - zwischen der Rechtmäßigkeit der Verfahren einerseits und der Goebbelschen Propaganda andererseits. Sondern behandelt alles nur aus dem Blickwinkel der Goebbelschen Propaganda. So dann auch der "Spiegel". Und dies gewiß nicht als der erste Fall, in dem der "Spiegel" personell oder inhaltlich an Goebbelsche Propaganda anknüpft (siehe nur den Fall Fritz Tobias und vieles andere in früheren Beiträgen hier auf dem Blog Behandelte)! Nur mit der unglaublichen Unmoral der Hitler-Regierung macht uns der "Spiegel" besser vertraut, als wir es bis dato waren und als es bisher auch auf Wikipedia mitgeteilt wird:
Hitler versuchte, den Münchner Kardinal Faulhaber zu überreden: Die Kirche solle sich loyal hinter die Politik der Reichsregierung stellen, dafür werde er "die Klosterprozesse aus der Welt schaffen".
Also auch Hitler - auch Hitler! - stand dem Schutz der Kinder und Jugendlichen vor sexuellem Mißbrauch durch katholische Geistliche völlig gleichgültig gegenüber. Statt gänzlich unverhandelbar zu sein, gehörte er für ihn zur Verhandlungsmasse in der großen Politik. Wie dies sicherlich für unzählige Regierungen vor und nach ihm gehandhabt worden ist - bis zu gegenwärtigen Regierungen.

Kuhhandel zwischen katholischer Kirche und Adolf Hitler 1937

Daß es Gründe der großen Politik waren, die Hitler zum Einstellen der Prozesse veranlaßten, hatten wir schon im vorigen Beitrag (10) vermutet, noch ohne daß sie schon auf Wikipedia erwähnt worden wären. 

Abb. 1: Bundespräsident Rau (rechts) und Historiker H. G. Hockerts (Mitte), 4.10.2002
Der "Spiegel" von 1971 behandelt breit Fälle von Homosexualität zwischen Erwachsenen. Aber überhaupt nicht den Mißbrauch von Kindern, der doch nun in den Prozessen von 1936 und 1937 auch eine Rolle spielte. Und auch die "Zeit" von 2002 spricht diesen Mißbrauch nur in der Überschrift an und ist vom Tenor noch unsachlicher als der "Spiegel". 

Unglaublich! Da muß man sich über den Tenor von Kreuz.net im März 2010 nicht mehr wundern - nach solchen Steilvorlagen von "Spiegel" und "Zeit". Der Tenor von "Kreuz.net" kann ohne jeden Bruch an den Tenor des "Spiegel" von 1971 und der "Zeit" von 2002 anknüpfen. Was für eine Peinlichkeit für vorgeblich so kirchenkritische Intellektuellen-Magazine. Wir haben schon viele Hinweise hier auf dem Blog dafür gesammelt, daß diese Blätter sich oft nur den Anschein von echter Kirchenkritik gegeben haben. (Wie es sich auch für die Mitteilungsblätter von Lobbymächten und Geheimdiensten gehört, als die man diese beiden Magazine immer mehr liest und lesen kann.)

Hans Günter Hockerts, ein prominenter Historiker der Bundesrepublik Deutschland

Immer mehr richtet man fragend seinen Blick in die Richtung des - wie es heißt - "kirchenfreundlichen", im Jahr 2009 emeritierten Münchner Historikers Prof. Hans Günter Hockerts (siehe Abb. 1). Sollte er den Interpretationen seiner Forschungen zum Beispiel durch den "Spiegel" von 1971, durch die "Zeit" von 2002 und durch "Kreuz.net" von 2010 - und wahrscheinlich noch vielen anderen Publikationsorganen in verschiedenen Jahren bis heute - nie deutlicher widersprochen haben und sie richtiggestellt haben? Besonders schnell würde man solche Stellungnahmen jedenfalls im Netz und auf seiner eigenen Internetseite nicht finden. - Und würde er sich dadurch nicht sehr deutlich mitverantwortlich machen für das Jahrzehnte lange unkritische Nicht-Hinterfragen von etwaigen Vorgängen innerhalb der katholischen Kirche durch staatliche Stellen und "kritische" (?) Journalisten?

Wie kann noch von einer "Verantwortung des Historikers" gesprochen werden, wenn sie denn dann nicht auch wirklich von einem solchen übernommen wird? Wenn sich ein solcher nicht wirklich verantwortlich fühlt und dementsprechend handelt? Auch wieder einmal nur Lippenbekenntnisse? Was sollte all das viel beschworene "Lernen aus der Vergangenheit" in den letzten Jahrzehnten, wenn dadurch Kinder und Jugendliche in kirchlichen Zusammenhängen eben doch nicht besser geschützt worden sind aufgrund desselben bis heute?

Abb. 2: Historische Studie von 1971
Dabei ist Hockerts Buch "Geschichte des Sozialstaates" im Jahr 2002 auf höchster deutscher politischer Ebene gehandelt worden (s. Abb. 1). Von Bundespräsident Rau ist Hockerts anläßlich dieses Buches durch einen Empfang geehrt worden. Wann, so darf man fragen, wird Bundespräsident Wulff ihn empfangen wegen seines schon viel früher erschienenen, außerordentlich wichtigen Buches "Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37"?

Ein "Märtyrer-Beauftragter" der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2003 - welch eine Groteske!

Und dann noch eine Groteske unglaublichster Art, die aus solchen "Nicht-Empfängen", solcher Nicht-Beachtung, solchen Verharmlosungen und solchem Herunterspielen von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und mangelndem Widerspruch gegen solches Herunterspielen folgen konnte bis heute: 

Nicht ein Mißbrauchs-Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz - oh: nein, nein, nein!!!!, ein - - - Märtyrer-Beauftragter (!!!!) der Deutschen Bischofskonferenz hat sich im Jahr 2003 einmal einige 1936/37 behandelte Fälle genauer angeschaut (7). Und Märtyrer sind auch in diesem Fall - oh, natürlich, natürlich, natürlich!!!! - nicht etwaig mißbrauchte, seelisch gemordete Kinder, sondern (!!!) etwaig 1941 falsch beschuldigte katholische Priester. Diese Leute, die ja von vornherein durch ihre Priesterweihe Gott so viel näher stehen als andere Leute. Was für ein Wahnsinn! Im Jahr 2003 nach Christi Geburt. Der Märtyrer-Beauftragte schreibt nur ganz kurz folgendes ohne tiefergehende Auslotung oder Erörterung (Hervorhebung nicht im Original):
Ein krasses Beispiel stellt die Anklage gegen Kaplan Anton Spies aus dem Erzbistum Freiburg im Breisgau dar. Sein priesterlicher Vorgesetzter schrieb am 4. März 1941 an das Erzbischöfliche Ordinariat: „'Es wird ihm angeblich zur Last gelegt, an Ministranten unsittliche Handlungen vorgenommen zu haben. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass den Verhältnissen nach er unschuldig ist, da die Anzeige vom hiesigen Rektor V. aus Gehässigkeit gegen uns Geistliche erfolgte’“. Da aber das Gericht dem 11-jährigen Schüler mehr Glauben schenkte als dem Priester sowie den befragten Ortsansässigen, wurde der Jugendseelsorger zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Hernach dem KZ Dachau überstellt, verstarb er dort am 19. April 1945.
"Den Verhältnissen nach"! "Den Verhältnissen nach"! So ermittelte man im Jahr 1941 innerhalb der katholischen Kirche! Hat sich darin etwas geändert bis heute? Und so einfach konnte es sich ein "Märtyrerbeauftragter" der Deutschen Bischofskonferenz noch im Jahr 2003 machen, indem er einfach das Urteil des Erzbischöflichen Ordinariats übernahm. Ohne jedes weitere Hinterfragen. Er scheint wie selbstverständlich davon auszugehen, daß die Anzeige bloß aus Gehässigkeit erfolgte. Und der Tod in Dachau macht ja erst recht deutlich, daß es sich um einen "Märtyrer des Glaubens" handelt.

Offensichtlich war dies der einzige Fall von Märtyrertum, den der "Märtyrerbeauftragte" der Deutschen Bischofskonferenz 2003 in dem Buch des Historikers Hans Günter Hockerts finden konnte. Oh Peinlichkeit und Ekelhaftigkeit über Peinlichkeit und Ekelhaftigkeit.

Wird uns Karlheinz Deschner retten?

Nachdem Hans Günter Hockerts selbst nach Erscheinen seiner Studie etwaig weiter seelisch gemordete Kinder und Jugendliche in kirchlichen Zusammenhängen so wenig geschützt hat, nachdem das auch "Spiegel", "Zeit" nicht getan haben und es von der katholischen "Historischen Kommission", von der "Deutschen Bischofskonferenz" und von "Kreuz.net" sowieso scheinbar nicht mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte, stellt sich uns nur noch eine Frage: Wären all diese Kinder und Jugendlichen vor Seelenmord besser geschützt worden, wenn man allseits Karlheinz Deschner gründlicher gelesen und ernst genommen hätte? Wenn Karlheinz Deschner von Bundespräsidenten anläßlich des Erscheinens neuer Bücher über die "Kriminalgeschichte des Christentums", über "Kirche und Faschismus" empfangen worden wäre?

Wir sind gespannt, was wir diesbezüglich in den Werken von Karlheinz Deschner finden werden. Hat er die Ergebnisse von Hans Günter Hockert angemessen ausgewertet? Hätte die Öffentlichkeit wenigstens durch seine Bücher sensibilisiert werden können für derartige Verbrechen in den Jahrzehnten vor 2010? Im Internet findet man zu einer Suche wie "Hockerts Deschner" zunächst einmal nichts. Was aber wohl nur heißt, daß auch die kirchenkritischen, kirchenfreien und atheistischen deutschsprachigen Internetseiten sich des hier behandelten Themas bis heute offenbar nicht angenommen haben und - möglicherweise - Karlheinz Deschner nicht gründlich genug gelesen und ausgewertet haben, sich - wieder einmal! - von "Spiegel" und "Zeit" haben verblenden und am Narrenseil herumführen lassen. 

Man darf gespannt sein, wer endlich einmal auch diese Prozesse von 1936 und 1937 wieder aufgreifen wird. Und in welcher Weise es geschehen wird.

Ergänzung 25.4.2012. Soeben werden wir aufmerksam auf ein Interview, das Karlheinz Deschner schon am 23.3.2010 der "Deutschen Presse-Agentur" gegeben hat. Darin heißt es schon gleich zu Anfang:
Herr Deschner, Sie schreiben seit Jahrzehnten eine mehrbändige „Kriminalgeschichte des Christentums“. Hat es Razzien wie im Kloster Ettal in der Kirchengeschichte schon mal gegeben?
Deschner: Etwas wirklich Vergleichbares kaum, zumindest schweigt meine „Kriminalgeschichte des Christentums“ hierzu ebenso wie meine Sexualgeschichte „Das Kreuz mit der Kirche“. Dazu muss man allerdings bedenken, dass die katholische Kirche – aus bösem Grund – über Jahrhunderte eine eigene Gerichtsbarkeit hatte, mit der man verhinderte, dass derart Belastendes vor den Gläubigen ausgebreitet wurde. ...
Daraus kann eigentlich nur abgeleitet werden, daß Karlheinz Deschner das Buch von Hans Günter Hockerts entweder nicht kennt oder es nicht gründlich studiert hat. - Schade!

___________________
  1. Hockerts, Hans Günter: Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/1937. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1971 (frei zugänglich)
  2. Zipfel, Friedrich: Kirchenkampf in Deutschland 1933 - 1945. Religionsverfolgung und Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit. Walter de Gruyter, Berlin 1965
  3. Löhde, Walter: Verkommene Priester einst und jetzt. In: Am Heiligen Quell Deutscher Kraft, Folge 4, 20.5.1937, S. 156 - 161
  4. Kommission für Zeitgeschichte, Forschungsstelle Bonn: Hans Günter Hockerts: Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/1937. Publikationen Reihe B (Text von 1971?)
  5. Sumpf und Sitte. Als "Sexualsumpf" galt Hitlers Propagandisten der Klerus. In: Der Spiegel, 11.10.1971
  6. Ross, Jan: Kabale und Triebe. Schon lange wird sexueller Missbrauch in der Kirche kritisiert, nicht immer aus edlen Motiven. In: Die Zeit, 20/2002
  7. Moll, Helmut (Prälat): Verfolgte Priester in der Zeit des Nationalsozialismus. (ohne Datum, nach 2003)
  8. Kampf gegen die Kirche ... damals und Heute? Auf: "Fragen und Gedanken" (anonymer christlicher Internetblog), 12.2.2010
  9. „An Belastungszeugen mangelte es nie“. Kreuz.net, 2.3.2010Wie die Nazis Klerikermissbrauchsfälle missbrauchten. Kreuz.net, 5. 3. 2010
  10. Bading, Ingo: Katholische Kirche - Kein Lernen aus der Vergangenheit? (I) Auf. Gesellschaftlicher Aufbruch - jetzt!, 1.10.2011

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen