Sonntag, 28. August 2011

"Der lindenumsäumte Tempelweg Preußens ...."

Ganz Berlin Fußgängerzone ....

Wer die letzte öffentliche Lesung der Dichterin Agnes Miegel (1879-1964) (Wiki), die auf Tonband aufgenommen worden ist (1), einmal gehört hat, der wird nicht so leicht den Tonfall vergessen, die Stimmung, die Bewegtheit in der Stimme, mit denen bei dieser Lesung unter anderem auch vom "lindenumsäumten Tempelweg Preußens" vorgelesen wurde, "den jeder von uns einmal gehen mußte".

Abb. 1: Die Neue Wache "Unter den Linden" in Berlin um 1900

Wer mit dem Klang dieser Stimme in Erinnerung in Berlin "Unter den Linden" bummelt und spazieren geht, jenem "lindenumsäumten Tempelweg Preußens" nach den Worten Miegels, der sucht sie wohl vergebens, diese Stimmung aus der Zeit um 1900.

Abb. 2: Das Zeughaus "Unter den Linden" in Berlin um 1900

Bevor der Miegel-Text im Zusammenhang gebracht werden soll, in dem diese Worte enthalten sind, soll zunächst ein Tonbeispiel gebracht werden, offenbar ebenfalls aus der letzten Lesung Agnes Miegels, um einen Eindruck von der Stimmung zu erhalten, den auch dieser Text hervorrufen kann (nur die ersten 50 Sekunden):

In dem Text, auf den es uns hier ankommt, spricht Agnes Miegel von ihrer Kindheit, und wie sie mit ihren Kinderaugen von Königsberg im "abgelegenen" Ostpreußen aus in die Welt blickte, wie sie diese Welt erlebte und ersehnte. Sie schreibt unter anderem (1):

... Und Ferne - was war Ferne? Ferne waren die Hochseedampfer im Hundegatt und an der Grünen Brücke. ...
Abb. 3: Siegesallee im Großen Tiergarten in Berlin um 1910

Auf "Schweden und Schottland, Holland und Dänemark" kommt sie zu sprechen, auf die Städte Danzig und Memel, die mit Dampfern zu erreichen waren. Und sie kommt auf Hamburg zu sprechen:

... Hamburg, das aus blinzelnden Feueraugen über die graue Nordsee blickt, von dessen Kai man mit Dampfern, groß wie eine Stadt, überall hinfahren konnte, wohin man sich sehnte - wenn man erst groß war! Aber wo man hinkam, so gewiß wie auf die Schulbank und an den Komunionstisch - das war Berlin! Berlin, tief im Land über Weichsel und Nogat, über Niederung und Heidesand, über Oder und Bruch - Berlin! Nicht das Sterntaler-Märchen, das auch so hieß, von dem wir uns abends im Winter, wenn draußen die Sterne in der eisigen Frostnacht funkelten, heimlich noch im Bett erzählten, jene immer helle Weihnachtsmarktstadt, wo jeder Arme Arbeit fand und auf den Reichen Kuchen und Braten warteten - nein, nicht jenes Berlin. Sondern das andere Berlin zwischen Brandenburger Tor und Wache, der lindengesäumte Tempelweg Preußens, den jeder von uns einmal gehen mußte, um vor der Siegesgöttin, die dort vor den Wolken ihr Viergespann lenkt, das heilige Feldzeichen erhoben, sich erschauernd als das Kind des Volks zu fühlen, das sie geführt. Um sich voll ergriffener Ehrfurcht zu fragen, wie man das eigne kleine Ich in der stummen Selbstzucht pflichterfüllten Alltags solchen Ruhms, solch strenger Größe wert erweisen könnte!
In dieser Welt wuchs ich, aus ihr kamen, die mich erzogen. Keinen andern Ehrgeiz, keine andre Aufgabe kannten sie als diese.

Agnes Miegel kann mit der Sprache ihrer Zeit an Dinge rühren, die jenseits aller Zeit liegen. 

"Unter den Linden" hat Agnes Miegel übrigens als 19-jähriges Mädchen im Jahr 1898 auch die erste und einzige große Liebe ihres Lebens kennen gelernt - Börries Freiherr von Münchhausen (1874-1945) (Wiki). Aber das ist eine andere Geschichte!

Abb. 4: Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße um 1900

Diese ist ja erst lange nach ihrem Tod bekannt geworden. Und sie war gerichtet auf einen auch menschlich sehr widerspruchsvollen Balladendichter. Mit diesem ergab sich dort - unbemerkt von den Augen ihres altbacken-konservativen Vaters, der sie begleitete - ein tief in ihr ganzes künftiges Leben eingreifendes Liebesverhältnis, das zwei Jahre lang andauerte.

Abb. 5: Unter den Linden, Cafe Bauer um 1900

Heute fällt es gewiß schwerer, jene ergriffene oder auch nur gesellschaftlich lebensfrohe Stimmung aus der Zeit um 1900 "Unter den Linden" wieder zu finden. "Promenieren"? Autos rasen vorbei und verbreiten Unruhe.

Abb. 6: Potsdamer Platz um 1900 / rechte Bildmitte: Mann mit Pickelhaube und Koffer ;-)

Allerdings: Ein neuer Bildband ist erschienen: "Berlin - Die Welt von gestern in Farbe" (3, 4). In der gleichen Reihe, in der ähnlich gestaltete Bände erschienen sind zu "Bayern", "Venedig", "Wien", den "Alpen", "Steiermark", "Salzkammergut" oder "Niederösterreich". 

Berlin - Die Welt von gestern in Farbe

Und die hier gebrachten "kolorierten" Fotos sind so lebensnah, wirken so unmittelbar, daß man anhand ihrer zum ersten mal geradezu körperlich zu spüren meint die Ruhe des Lebens in einer Großstadt wie Berlin um 1900. "Verkehrsberuhigt" heißt es ganz richtig zu einem dieser Fotos im "Tagesspiegel". Wie eindrucksvoll: Eine ganze große Stadt "verkehrsberuhigt". Eine einzige große Fußgängerzone!

Abb. 7: Spree und Dom um 1900

Wie konnten nur damals schon Leute über "die Großstadt" klagen? Und was würden diese heute erst sagen? Jedenfalls: Man stelle sich Berlin einmal so heute vor - und man wird mit der dichten Bebauung in dieser Großstadtwüste schon eher versöhnt sein, bzw. den Stadtplanern des 19. Jahrhunderts weniger grollen, als man das bislang vielleicht getan und sie dabei für gänzlich übergeschnappt gehalten hat. 

Abb. 8: Das Brandenburger Tor um 1900 - voll war es auch damals schon ...

Etwa wenn man hört, daß es schon vor 1914 Pläne gegeben hat, das gesamte Tempelhofer Feld zu überbauen. Das war also auch schon damals geplant ... Aber die Stadtplaner von damals entschuldigt mehr als jene, die heute so etwas planen. Alle Straßen planten sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, als Fußgängerzonen.

Abb. 9: Bismarck-Denkmal vor dem Reichstag um 1900

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  1. Ostpreußen - Es war ein Land. CD: Es war ein Land von Agnes Miegel (Audio CD - Bublies 1986)
  2. Agnes Miegel zum 85. Geburtstag am 9. März 1964. Hrsg. von der Landsmannschaft Ostpreußen, S. 11f (freie pdf.-Datei) 
  3. Christian Brandstätter (Hg.): Berlin – Die Welt von gestern in Farbe. Mit Texten von Philipp Blom. Brandstätter-Verlag, 160 Seiten
  4. Lars von Törne: Kolorierte historische Fotos - Berliner Blütejahre. Tagesspiegel, 23.04.2011

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