Freitag, 8. Oktober 2010

Sarrazin und etwaige gruppenevolutionäre Strategien des intelligentesten Volkes auf Erden - heute

Auf dem Blog "Feuerbringer, Aufklärung 2.0" hat Andreas Müller gestern abend folgende Grafik veröffentlicht und erläutert:
Zu dieser Grafik haben wir dort eben gerade kommentiert:
Kevin MacDonald hätte mit dieser Grafik keine Probleme.
Wozu dienen Ideologien, politische Strategien, Religionen? Sind die innersten Antriebskräfte derselben – so wie Jahrzehntausende in der Humanevolution – etwa ethnozentrische oder quasi-ethnozentrische Interessen?
Dieser Möglichkeit gehen Soziobiologen wie Kevin MacDonald, David Sloan Wilon und andere nach.
MacDonald etwa interpretiert viele moderne westliche Strategien nicht zuletzt als gruppenevolutionäre Strategien des intelligentesten Volkes auf Erden, um ALS Minderheit in Mehrheitsgesellschaften und eben ALS diese intelligenteste Population über viele Jahrhunderte hin überleben zu können, und um dazu ethnozentrische Strategien anderer Völker zu unterlaufen. Diese Strategie würde dann sehr flexibel, anpassungsfähig, ja, „weise“ verfolgt werden.
Und TEIL dieser Flexibilität und Weisheit könnte es neuerdings auch sein, daß der Zentralrat der Juden in Deutschland nicht gegen „Spiegel“ und „Bild“ wettert, weil sie mit Sarrazin ein neues Thema in der öffentlichen Auseinandersetzung ganz oben angesiedelt haben (quasi dem Establishment eine Diskussion aufgezwungen haben, die es selbst gar nicht führen will), und daß der israelische Botschafter und zahlreiche jüdische Intellektuelle neuerdings sagen, Sarrazin dürfe man nicht tabuisieren.
So ähnlich argumentierten 2006 auch die „Anti-Defamation League“ und viele jüdische Intellektuelle in den USA in einer bemerkenswerten, überraschenden Wendung, als in der „New York Times“ und im „Economist“ dem Erscheinen des Aufsatzes „Natural History of Ashkenazi Intelligence“ eine überdurchschnittliche öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
2010 und 2006 VÖLLIG andere öffentliche Reaktionen als die Reaktionen auf das Erscheinen von „The Bell Curve“ im Jahr 1994. Das scheint auf großer Intelligenz zu beruhen.
- - - Und was geschah zwischen 1994 und 2006, bzw. 2010? Die "Mondlandung" in der modernen Humangenetik. Die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms und der Paradigmenwechsel, der sich daraus ergeben hat und noch weiter ergeben wird.
Jüdische, der Naturwissenschaft nahestehende Intellektuelle wie Steven Pinker, Marek Kohn, ja, im deutschsprachigen Raum sogar Robert Misik (TAZ) haben auf diesen Paradigmenwechsel quasi „in Echtzeit“ reagiert, während die große Mehrheit der sonstigen Intellektuellen noch mit sonnigem Gemüt im Tiefschlaf liegt. (Frank Schirrmacher freilich hat schon unruhige Träume und wälzt sich im Schlaf …)
Stephan J. Kramer, Zentralrat der Juden

Diese Worte seien hier noch kurz mit einigen Literaturnachweisen untermauert (1 - 5). Wie schon gesagt, hat der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, keineswegs gegen die Bildzeitung oder gegen den Spiegel gewettert. Und es wurde zumeist bislang übersehen, daß sich Kramer schon am 17. September (auch) auf Sachargumentation in der Sarrazin-Debatte eingelassen hat, und zwar nicht auf die allerdümmste Weise (4):
Wenn beispielsweise die Araber vom Schicksal mit einem so niedrigen Entwicklungsstand geschlagen wären, wie Sarrazin erkannt zu haben glaubt (gemeint ist hier: genetisch mitbestimmten), hätten sie vor eintausend Jahren keine blühende Zivilisation mit hoch entwickelter Wissenschaft und Philosophie entwickelt, von deren Früchten die angeblich überlegene Zivilisation Europas bis heute zehrt.
Solche Fragen sind es in der Tat, die bislang von der Intelligenzforschung noch nicht ausreichend haben geklärt werden können. Da ist die Forschung mitten im Fluß. Und Kramer geht sogar noch weiter, wenn er sagt:
Gewiss, Genetik ist ein interessantes und legitimes Gebiet der Wissenschaft.
Und:
Es ist legitim, nach einer Erklärung für die Tatsache zu suchen, dass Juden in vielen Ländern zu den erfolgreicheren Bevölkerungsgruppen gehören.
Yoram Ben-Zeev, israelischer Botschafter

Seine Quintessenz, daß Sarrazin alles "plump" aufs Erbgut reduzieren würde, ist demgegenüber gar nicht mehr von so großer Wichtigkeit. - Als noch viel bedeutender aber wird man einschätzen müssen, was zwei Tage später der israelische Botschafter in Deutschland Yoram Ben-Zeev sagte (5):
Allerdings bin ich schon erstaunt darüber, wie heftig diese Auseinandersetzung geführt wird. Offenbar hat Sarrazin ein Thema getroffen, das den Menschen hier auf der Seele brennt. Seine Aussagen sind provozierend, aber auch interessant.
Auch er spricht nicht darüber, daß eine solche Debatte erst einmal durch Zeitungen wie den "Spiegel" und "Bild" sehr bewußt "gesetzt" werden müssen. Oft sind die Dinge, über die nicht gesprochen wird, die interessantesten. Man wird vielleicht so weit gehen können zu sagen: Wenn "Spiegel" und "Bild" auch nur ansatzweise hätten erwarten können oder müssen, daß der israelische Botschafter oder der Generalsekretär des Zentralrats auf ihre Themensetzungen schärfer reagieren würden, als sie es hier getan haben, daß sie dann diese Themen gar nicht erst gesetzt hätten. Man darf also wohl schon zumindest schweigende Übereinkünfte im Vorfeld voraussetzen.*)

Ja, der israelische Botschafter geht sogar noch weiter. Er gibt deutschen Politikern sogar Ratschläge, auf die sie doch sonst immer so gerne hören - warum ausgerechnet diesmal nicht?:
Ich habe mich darüber mit SPD-Chef Sigmar Gabriel unterhalten. Auch mit Hannelore Kraft, der Ministerpräsidentin von NRW. Das waren interessante Gespräche. Ich will da keine Empfehlung abgeben, das steht mir nicht zu. Ich kann nur betonen: Ein Klima offener Debatte ist die beste gesellschaftliche Medizin.
Andere jüdische Intellektuelle, die fordern, man dürfe Sarrazin nicht tabuisieren, bzw., die sagen, ein Mann wie Sarrazin wäre in Israel einer der letzten, der dort tabuisiert würde, sind - ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Henry M. Broder, Ralph Giordano, André Herzberg, Yoav Sapir, Edo Medicks (1).

Hans-Ulrich Wehler

Daß sich unter solchen Umständen dann auch Hans-Ulrich Wehler herbeiläßt und die Debatte begrüßt (6 - 8), ist dann schon kaum noch verwunderlich. Fehlt ja nur noch unser herzallerliebster Staatsphilosoph Jürgen Habermas. Aber der muß wohl seit er den Peter Sloterdijk wegen seines "Menschenparkes" so hart angefahren hat, in der Schmollecke sitzen bleiben, wenn er wenigstens einigermaßen glaubwürdig bleiben will. (Am Vergleich der Menschenpark-Diskussion von 1997 mit der heutigen Sarrazin-Debatte wird übrigens gut deutlich, was sich zwischenzeitlich schon verändert hat.)

Nachtrag: Von ähnlichen Leuten können aber auch sehr unterschiedliche Dinge geäußert werden (s. Yoav Sapir).

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*) Kai Diekmann könnte angelegentlich irgendeines sonstigen Gespräches angedeutet haben: "Wir werden Auszüge des neuen Sarrazin-Buches im Vorabdruck bringen, bin mal gespannt, was dabei herauskommt." - Und er könnte als Antwort erhalten haben: "Naja, wenn euch sonst weiter nichts einfällt ..." Und das könnte ihm schon gereicht haben als Antwort und Ermutigung.

1. Waldrich, Hans-Peter: Israel: Großes Lob für Sarrazin! der freitag, 30.8.2010
2. Noll, Chaim: Grundwissen des Judentums. In: FAZ, 3.9.2010 (auch: hier)
3. Felizitas Küble: Jüdische Schriftsteller nehmen Sarrazin in Schutz. Israel Info Presse, 8.9.2010
4. Kramer, Stephan J.: Vorsicht, Rassismus. Versuche, Völker durch ihr Erbgut zu „erklären“, sind ein gefährlicher Wahn. In: Zukunft, 10. Jahrgang Nr. 9 / 17. September 2010
5. Jan-Eric Peters und Claus Christian Malzahn: Der israelische Botschafter stärkt Thilo Sarrazin. In: Welt am Sonntag, 19. September 2010
6. Kaube, Jürgen: Wehler verteidigt Sarrazin. Parteiausschluss undenkbar. In: FAZ, 8.10.2010
7. Im Gespräch: Hans-Ulrich Wehler Sarrazin und die Bildungskatastophe. In: FAZ, 9.10.2010
8. Wehler, Hans-Ulrich: Ein Buch trifft ins Schwarze. In: Die Zeit, 9.10.2010

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