Zu Daniel Goleman's Buch "Die emotionale Intelligenz" (1995)
Warum soll man sich mit Wissenschaft beschäftigen? Warum sollte man Wissenschaft betreiben? Und warum ist die Beschäftigung mit - und das Betreiben von - Naturwissenschaft noch um einiges bedeutungsvoller als Wissenschaft überhaupt? Denn Wissenschaft kann ja auch vorwiegend geisteswissenschaftlich verstanden werden. Sie wird sogar heute vielerorts noch fast ausschließlich geisteswissenschaftlich verstanden. (Noch immer ist das Feuilleton in Tageszeitungen meistens völlig getrennt von einem zum Teil spärlich behandelten [Natur-]Wissenschaftsteil. Und den Feullietonisten und Lesern wird gar nicht bewußt, wieviel sie sich durch diese scharfe Trennung entgehen lassen.)
Die Wissenschaft klärt den Geist des Menschen. Die Wissenschaft, einigermaßen ernsthaft betrieben, das heißt, mit Nachdruck auf ein Ziel hin verfolgt, fordert den einzelnen auf, sich zu strukturieren. Wer sich einem wissenschaftlich erforschten Gegenstand, einem wissenschaftlich erforschten Thema überhaupt nur annähert, ist mehr oder weniger ganz von selbst dazu aufgefordert, fühlt sich dazu aufgerufen, sich innerpsychisch umzustrukturieren, sich - in irgend einer Weise - an diesen Gegenstand selbst "anzupassen". Ihm "adäquat" zu werden.
Warum Naturwissenschaft?
Und das macht die Naturwissenschaft noch einmal um einiges bedeutungsvoller, vielleicht revolutionärer, als die Geisteswissenschaft für sich: Der naturwissenschaftlich erforschte Gegenstand, das naturwissenschaftlich angegange Thema ist - soweit das überhaupt übersehbar ist - dem menschlichen Denken und Fühlen nicht in irgend einer Weise von vornherein "angepaßt". Der naturwissenschaftlich erforschte Gegenstand "sträubt" sich in aller Regel gegen die menschlicherseits an ihn herangetragenen Vorerwartungen. Und dann insbesondere wird Wissenschaft so voller Bedeutung, so "bedeutungsschwanger", so "Weltbild-verändernd". Die Psychologin Heidi Keller empfand zum Beispiel den Übergang zur naturwissenschaftlichen, evolutionären Psychologie in ihrer eigenen Biographie als "gnadenlos", siehe --> Stud. gen.. Der Autor dieser Zeilen kann von einer ziemlich identischen Erfahrung sprechen. Und man ist verleitet, sich dieser Erfahrung des "Gnadenlosen" immer wieder auf's Neue auszusetzen, auch vielleicht aus Verantwortung für ein Größeres, Ganzes heraus.
Aber man denke - in einem vielleicht neutraleren Rahmen - auch nur schon an die Astronomie der letzten hundert Jahre und an all die Vorerwartungen, die von ihr nicht erfüllt worden waren. Und an all die Erkenntnisse, die man entgegen dieser Vorerwartungen gewonnen hat. Man denke an die Quantenphysik der letzten hundert Jahre, die voller Überraschungen gewesen ist, die alle gehegten Vorerwartungen über den Haufen geworfen hat. Und man denke schließlich an die Wissenschaft vom Menschen, an die naturwissenschaftliche, evolutionäre Anthropologie und natürlich auch an die Psychologie, die derzeit immer noch und immer wieder völlig unerwartete Ergebnisse hervorbringen, die alle etwaig gehegten Vorerwartungen über den Haufen werfen.
Vorerwartungen immer wieder nicht erfüllt
Es sind insbesondere diese unerwarteten Ergebnisse und die bewußtseinsmäßige Einstellung auf diese unerwarteten Ergebnisse in un- oder halbbewußter Vorwegnahme derselben während man sich an diese Ergebnisse annähert, die die Naturwissenschaft so bedeutungsvoll machen für den einzelnen, der sich mit ihnen beschäftigt. So bedeutungsvoll und zugleich - vielleicht - "gnadenlos". Warum eigentlich "gnadenlos"? Man entfernt sich dabei - vielleicht - von der emotionalen Gelagertheit seiner gegenwärtigen Mitwelt, von jener emotionalen Gelagertheit, in der sich die meisten heutigen Menschen emotional "geborgen" fühlen ... Aber man nähert sich dabei - vielleicht - auch an etwas viel Besseres, Grundlegendes an: An eine emotionale Gelagertheit von Menschen, wie sie für die Zukunft zumindest möglich wird.
Denn irgendwie hat man doch das Gefühl, daß man sich bei der gegenwärtigen Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft - und zumal wenn man sich dem "Gnadenlosen" in ihr immer wieder aussetzt - daß man sich dabei immer deutlicher auf umfassendere Wahrheiten zubewegt. Man nenne sie "Gott" oder man nenne sie einfach nur "die" umfassendere Wahrheit vom Menschen oder von der Welt. Eine Wahrheit, die eben nicht auf die emotionale "Geborgenheit" der gegenwärtig lebenden Menschen Rücksicht nimmt.
Umfassendere Wahrheiten
Wenn man zum Beispiel ein solches Buch wie das von Daniel Goleman "Emotionale Intelligenz" (1995) liest, dabei im Hinterkopf hat, was - etwa hier auf dem Blog - alles schon über den derzeitigen Kenntnisstand auf dem Gebiet der Erforschung von Intelligenz und sozialen Emotionen geschrieben worden ist, dann tun sich einem eine Fülle von Implikationen auf. Man merkt, daß das Buch ein wesentliches Thema zum Gegenstand hat. Aber man merkt zugleich auch, daß es diesem Gegenstand nur selten wirklich gerecht wird, daß es nur einen "herumsuchenden" Einstieg in ein ganz neues Erkenntnisfeld darstellt. Und zudem auch nur ein Einsteig neben vielen anderen, ein Einstieg wahrscheinlich, der nur eine "größere Presse" bekommen hat als andere. - Zugleich auch schleicht sich Mißtrauen ein. Der Leser blickt auf sich selbst zurück und darf sich fragen: Ja, würde ich denn dem Gegenstand besser gerecht werden können? Mit welchem Recht darf ich kritisieren?
Dennoch: Muß man erst die bisherige Intelligenz-Forschung abwerten, bevor man dazu übergehen kann, sich ernsthafter mit "sozialer" oder "emotionaler" oder "personaler" Intelligenz zu beschäftigen? Kann nicht beides parallel und ergänzend erforscht werden? Und kann man nicht auch nach Zusammenhängen zwischen beiden fragen? Und wenn nach Emotionen gefragt wird: Können nicht die Erkenntnisse eines Konrad Lorenz oder eines Robin Dunbar oder einer Jane Goodall oder der Soziobiologie insgesamt umfangreicher herangezogen werden? Oder neuerdings die eines Joachim Bauer oder eines Peter Sloterdijk (zur Frage der "thymotischen Energien" in der Menschenseele)? **) Konrad Lorenz sprach in "Die acht Totsünden der zivilisierten Menschheit" von dem "Wärmetod des Gefühls", von dem wir heute alle heimgesucht sind.
Wie kommt man zu kontrastreichen, starken Gefühlen?
Muß man dann nicht erst einmal danach fragen, wie man überhaupt wieder zu starken, kontrastreichen Gefühlen kommt? Zu Gefühlen, die über mehr oder weniger plumpe Lust- und Unlustgefühle hinausgehen, bevor man solche Gefühle dann auch erforschen kann? Und ist nicht genau das das Revolutionäre an solcher Wissenschaft: Daß man sich durch sie - mehr oder weniger "gnadenlos" - aufgefordert fühlen kann, nach den eigenen, kontrastreicheren Gefühlen überhaupt zu fragen? Daß man etwa aufgefordert sein kann, eigene Selbsttäuschungen über etwaige, vorgeblich "große" Gefühle als eben solche Selbsttäuschungen zu durchschauen? Oder gar solche Selbsttäuschungen gesellschaftsweiter Natur, gesellschaftsweiter Gelagertheit? (Sozusagen: Gruppenevolutionärer Beschaffenheit?)
Daniel Goleman erzählt zumeist, die jeweiligen Kapitel einführend, irgendwelche Geschichten, in denen Menschen ein starkes, prägnantes Unglück oder Glück wiederfahren ist oder - sehr oft - in denen sie verbrecherisch gehandelt haben oder behandelt wurden. Vielleicht auch nur, um der Sensationsgier des Lesers Nahrung zu geben. Aber andererseits scheint es doch in der Tat auch so zu sein, daß Gefühle überhaupt erst einmal einen stärkeren Grad von Ausprägung erfahren haben müssen, bevor sie so ausreichend sichtbar geworden sind, daß sie dann auch wissenschaftlich erforschbar und verstehbar werden.
Wissenschaft verändert Gesellschaften
Aber eines ist auf jeden Fall klar: Bevor man Daniel Goleman's "Emotionale Intelligenz" liest, sollte man die Grundgedanken des Buches von Richard Herrnstein und Charles Murray "The Bell Curve" (1994) gut verstanden haben. (Zuletzt in den Kommentaren hier kurz diskutiert.) Denn sonst weiß man gar nicht, worauf das Buch von Daniel Goleman eigentlich reagiert.*) Wenn man das tut, wird einem vielleicht erst die ganze Brisanz auch des Buches von Goleman erfahrbar.
- Warum also Wissenschaft? Weil sie mich als Menschen verändert. Dies kann durchaus auch im Persönlichsten sein. Weil ich durch sie auf mich selbst zurückverwiesen werde und zwar in einer Unabhängigkeit von sonstigen sozialen, emotionalen oder gesellschaftlichen Einflüssen, die in anderen Kulturbereichen heute selten oder gar nicht mehr besteht. Plump gesagt: Statt mich den emotionalen Beeinflussungen meiner menschlichen Umwelt auszusetzen, setze ich mich den Beeinflussungen der Natur selbst aus. Warum erfahren wir eine solche Ausgesetztheit heute eigentlich allzu oft nur noch als "gnadenlos"? Jedenfalls deutet sich durch eine solche Ausgesetztheit die zukünftige Verwirklichung gesellschaftlicher Möglichkeiten an, die - vielleicht, wahrscheinlich - besser ist, noch besser ist, als gegenwärtige, bestehende, "real existierende" Verwirklichungen gesellschaftlicher Möglichkeiten.
In diesem Sinne könnte Wissenschaft - und besonders Naturwissenschaft - als "Herzensbildung" verstanden werden. Denn mit was hat denn "Emotionale Intelligenz" vor allem zu tun, wenn denn nicht mit dem Herzen und mit der Seele?
________
Anmerkung:
*) In Reaktion auf dieses Buch kann Goleman auch so irrsinnige Sätze zu Papier bringen wie den folgenden (irrsinnig zumindest in der deutschen Übersetzung) (S. 54): "Die Ausnahmen von der Regel, daß der IQ den Berufserfolg vorhersagt, sind zahlreicher als die Fälle, die der Regel entsprechen." - Wenn das tatsächlich so wäre, wäre es ja irrsinnig, überhaupt von einer "Regel" zu sprechen. Man merkt also, wie oberflächlich Goleman hier offenbar recherchiert hat und überhaupt argumentiert. Er hätte ja sonst gleich sagen können, daß diese Regel widerlegt ist. Natürlich hütet sich Goleman vor solchen grundlegenden Aussagen. (Übrigens äußert sich auch Jens Asendorpf in seinem Lehrbuch "Psychologie der Persönlichkeit" mit deutlichen Vorbehalten gegenüber diesem Buch, vielleicht sogar mit zu deutlichen. Denn immerhin gibt einem dieses Buch doch viel Stoff zum Weiterdenken - nicht nur aber auch dadurch, daß es zum Widerspruch auffordert.)
**) Oder die Erkenntnisse zur Bedeutung der Gruppenselektion während der Humanevolution (Samuel Bowles und andere)? - Interessanterweise betont Bowles den Krieg zwischen Gruppen als treibende Kraft für die Evolution von menschlichem Altruismus und Empathie. Daß es seit hunderttausenden von Jahren auch viele andere, zum Teil auch wesentlich subtilere Strategien gegeben haben kann, aufgrund deren sich Gruppen ihre Territorien, ihre Evolutionsstabilität, ihren inneren Zusammenhalt erhielten, und damit ihre demographische Stabilität, ist bisher offenbar noch weniger in den Fokus der Forschung getreten, ist aber doch nur allzu naheliegend.
Bekanntlich reichen in der Natur ja oft schon die verschiedensten, evolutiv sparsameren Einschüchterungs-Strategien, um - etwa - gegenüber konkurrierenden Artgenossen und anderen Arten die eigenen Fortpflanzungsstrategien durchzusetzen, bzw. aufrecht zu erhalten, das eigene Territorium zu behaupten. So behaupten viele Vogelarten ihr Revier durch Singen. Warum sollten also derartige Mechanismen nicht auch außerordentlich wichtige Mechanismen in der Humanevolution von Gruppenpsychologie gewesen sein? (Auch an die vielen, nicht tödlich endenden "Kommentkämpfe" im Tierreich könnte gedacht werden, die es ja beim Menschen ebenfalls gibt. Man siehe etwa die traditionellen Dorf-Ringkämpfe der Nuba im Südsudan.)
Es ist vielleicht überhaupt spannend zu verfolgen, daß Wissenschaftler oft nur in "Schwarz" oder "Weiß" denken können: Humanevolution von Gruppen entweder gewalttätig oder friedlich. Daß es die vielfältigsten Zwischenformen gegeben haben kann, die immer noch beobachtbar sind, scheint dabei recht oft noch aus dem Blickfeld zu geraten.
Das heißt allgemeiner: Es muß bei dem hier behandelten Thema natürlich berücksichtigt werden, wie stark unsere Emotionen auch davon mitgeprägt sind, wie sehr wir uns in unserer jeweiligen Gruppe (Gesellschaft) emotional geborgen oder nicht geborgen fühlen - und wie wir auf den jeweiligen Fall mit Psyche und Körper reagieren.
Warum soll man sich mit Wissenschaft beschäftigen? Warum sollte man Wissenschaft betreiben? Und warum ist die Beschäftigung mit - und das Betreiben von - Naturwissenschaft noch um einiges bedeutungsvoller als Wissenschaft überhaupt? Denn Wissenschaft kann ja auch vorwiegend geisteswissenschaftlich verstanden werden. Sie wird sogar heute vielerorts noch fast ausschließlich geisteswissenschaftlich verstanden. (Noch immer ist das Feuilleton in Tageszeitungen meistens völlig getrennt von einem zum Teil spärlich behandelten [Natur-]Wissenschaftsteil. Und den Feullietonisten und Lesern wird gar nicht bewußt, wieviel sie sich durch diese scharfe Trennung entgehen lassen.)
Die Wissenschaft klärt den Geist des Menschen. Die Wissenschaft, einigermaßen ernsthaft betrieben, das heißt, mit Nachdruck auf ein Ziel hin verfolgt, fordert den einzelnen auf, sich zu strukturieren. Wer sich einem wissenschaftlich erforschten Gegenstand, einem wissenschaftlich erforschten Thema überhaupt nur annähert, ist mehr oder weniger ganz von selbst dazu aufgefordert, fühlt sich dazu aufgerufen, sich innerpsychisch umzustrukturieren, sich - in irgend einer Weise - an diesen Gegenstand selbst "anzupassen". Ihm "adäquat" zu werden.
Warum Naturwissenschaft?
Und das macht die Naturwissenschaft noch einmal um einiges bedeutungsvoller, vielleicht revolutionärer, als die Geisteswissenschaft für sich: Der naturwissenschaftlich erforschte Gegenstand, das naturwissenschaftlich angegange Thema ist - soweit das überhaupt übersehbar ist - dem menschlichen Denken und Fühlen nicht in irgend einer Weise von vornherein "angepaßt". Der naturwissenschaftlich erforschte Gegenstand "sträubt" sich in aller Regel gegen die menschlicherseits an ihn herangetragenen Vorerwartungen. Und dann insbesondere wird Wissenschaft so voller Bedeutung, so "bedeutungsschwanger", so "Weltbild-verändernd". Die Psychologin Heidi Keller empfand zum Beispiel den Übergang zur naturwissenschaftlichen, evolutionären Psychologie in ihrer eigenen Biographie als "gnadenlos", siehe --> Stud. gen.. Der Autor dieser Zeilen kann von einer ziemlich identischen Erfahrung sprechen. Und man ist verleitet, sich dieser Erfahrung des "Gnadenlosen" immer wieder auf's Neue auszusetzen, auch vielleicht aus Verantwortung für ein Größeres, Ganzes heraus.
Aber man denke - in einem vielleicht neutraleren Rahmen - auch nur schon an die Astronomie der letzten hundert Jahre und an all die Vorerwartungen, die von ihr nicht erfüllt worden waren. Und an all die Erkenntnisse, die man entgegen dieser Vorerwartungen gewonnen hat. Man denke an die Quantenphysik der letzten hundert Jahre, die voller Überraschungen gewesen ist, die alle gehegten Vorerwartungen über den Haufen geworfen hat. Und man denke schließlich an die Wissenschaft vom Menschen, an die naturwissenschaftliche, evolutionäre Anthropologie und natürlich auch an die Psychologie, die derzeit immer noch und immer wieder völlig unerwartete Ergebnisse hervorbringen, die alle etwaig gehegten Vorerwartungen über den Haufen werfen.
Vorerwartungen immer wieder nicht erfüllt
Es sind insbesondere diese unerwarteten Ergebnisse und die bewußtseinsmäßige Einstellung auf diese unerwarteten Ergebnisse in un- oder halbbewußter Vorwegnahme derselben während man sich an diese Ergebnisse annähert, die die Naturwissenschaft so bedeutungsvoll machen für den einzelnen, der sich mit ihnen beschäftigt. So bedeutungsvoll und zugleich - vielleicht - "gnadenlos". Warum eigentlich "gnadenlos"? Man entfernt sich dabei - vielleicht - von der emotionalen Gelagertheit seiner gegenwärtigen Mitwelt, von jener emotionalen Gelagertheit, in der sich die meisten heutigen Menschen emotional "geborgen" fühlen ... Aber man nähert sich dabei - vielleicht - auch an etwas viel Besseres, Grundlegendes an: An eine emotionale Gelagertheit von Menschen, wie sie für die Zukunft zumindest möglich wird.
Denn irgendwie hat man doch das Gefühl, daß man sich bei der gegenwärtigen Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft - und zumal wenn man sich dem "Gnadenlosen" in ihr immer wieder aussetzt - daß man sich dabei immer deutlicher auf umfassendere Wahrheiten zubewegt. Man nenne sie "Gott" oder man nenne sie einfach nur "die" umfassendere Wahrheit vom Menschen oder von der Welt. Eine Wahrheit, die eben nicht auf die emotionale "Geborgenheit" der gegenwärtig lebenden Menschen Rücksicht nimmt.
Umfassendere Wahrheiten
Wenn man zum Beispiel ein solches Buch wie das von Daniel Goleman "Emotionale Intelligenz" (1995) liest, dabei im Hinterkopf hat, was - etwa hier auf dem Blog - alles schon über den derzeitigen Kenntnisstand auf dem Gebiet der Erforschung von Intelligenz und sozialen Emotionen geschrieben worden ist, dann tun sich einem eine Fülle von Implikationen auf. Man merkt, daß das Buch ein wesentliches Thema zum Gegenstand hat. Aber man merkt zugleich auch, daß es diesem Gegenstand nur selten wirklich gerecht wird, daß es nur einen "herumsuchenden" Einstieg in ein ganz neues Erkenntnisfeld darstellt. Und zudem auch nur ein Einsteig neben vielen anderen, ein Einstieg wahrscheinlich, der nur eine "größere Presse" bekommen hat als andere. - Zugleich auch schleicht sich Mißtrauen ein. Der Leser blickt auf sich selbst zurück und darf sich fragen: Ja, würde ich denn dem Gegenstand besser gerecht werden können? Mit welchem Recht darf ich kritisieren?
Dennoch: Muß man erst die bisherige Intelligenz-Forschung abwerten, bevor man dazu übergehen kann, sich ernsthafter mit "sozialer" oder "emotionaler" oder "personaler" Intelligenz zu beschäftigen? Kann nicht beides parallel und ergänzend erforscht werden? Und kann man nicht auch nach Zusammenhängen zwischen beiden fragen? Und wenn nach Emotionen gefragt wird: Können nicht die Erkenntnisse eines Konrad Lorenz oder eines Robin Dunbar oder einer Jane Goodall oder der Soziobiologie insgesamt umfangreicher herangezogen werden? Oder neuerdings die eines Joachim Bauer oder eines Peter Sloterdijk (zur Frage der "thymotischen Energien" in der Menschenseele)? **) Konrad Lorenz sprach in "Die acht Totsünden der zivilisierten Menschheit" von dem "Wärmetod des Gefühls", von dem wir heute alle heimgesucht sind.
Wie kommt man zu kontrastreichen, starken Gefühlen?
Muß man dann nicht erst einmal danach fragen, wie man überhaupt wieder zu starken, kontrastreichen Gefühlen kommt? Zu Gefühlen, die über mehr oder weniger plumpe Lust- und Unlustgefühle hinausgehen, bevor man solche Gefühle dann auch erforschen kann? Und ist nicht genau das das Revolutionäre an solcher Wissenschaft: Daß man sich durch sie - mehr oder weniger "gnadenlos" - aufgefordert fühlen kann, nach den eigenen, kontrastreicheren Gefühlen überhaupt zu fragen? Daß man etwa aufgefordert sein kann, eigene Selbsttäuschungen über etwaige, vorgeblich "große" Gefühle als eben solche Selbsttäuschungen zu durchschauen? Oder gar solche Selbsttäuschungen gesellschaftsweiter Natur, gesellschaftsweiter Gelagertheit? (Sozusagen: Gruppenevolutionärer Beschaffenheit?)
Daniel Goleman erzählt zumeist, die jeweiligen Kapitel einführend, irgendwelche Geschichten, in denen Menschen ein starkes, prägnantes Unglück oder Glück wiederfahren ist oder - sehr oft - in denen sie verbrecherisch gehandelt haben oder behandelt wurden. Vielleicht auch nur, um der Sensationsgier des Lesers Nahrung zu geben. Aber andererseits scheint es doch in der Tat auch so zu sein, daß Gefühle überhaupt erst einmal einen stärkeren Grad von Ausprägung erfahren haben müssen, bevor sie so ausreichend sichtbar geworden sind, daß sie dann auch wissenschaftlich erforschbar und verstehbar werden.
Wissenschaft verändert Gesellschaften
Aber eines ist auf jeden Fall klar: Bevor man Daniel Goleman's "Emotionale Intelligenz" liest, sollte man die Grundgedanken des Buches von Richard Herrnstein und Charles Murray "The Bell Curve" (1994) gut verstanden haben. (Zuletzt in den Kommentaren hier kurz diskutiert.) Denn sonst weiß man gar nicht, worauf das Buch von Daniel Goleman eigentlich reagiert.*) Wenn man das tut, wird einem vielleicht erst die ganze Brisanz auch des Buches von Goleman erfahrbar.
- Warum also Wissenschaft? Weil sie mich als Menschen verändert. Dies kann durchaus auch im Persönlichsten sein. Weil ich durch sie auf mich selbst zurückverwiesen werde und zwar in einer Unabhängigkeit von sonstigen sozialen, emotionalen oder gesellschaftlichen Einflüssen, die in anderen Kulturbereichen heute selten oder gar nicht mehr besteht. Plump gesagt: Statt mich den emotionalen Beeinflussungen meiner menschlichen Umwelt auszusetzen, setze ich mich den Beeinflussungen der Natur selbst aus. Warum erfahren wir eine solche Ausgesetztheit heute eigentlich allzu oft nur noch als "gnadenlos"? Jedenfalls deutet sich durch eine solche Ausgesetztheit die zukünftige Verwirklichung gesellschaftlicher Möglichkeiten an, die - vielleicht, wahrscheinlich - besser ist, noch besser ist, als gegenwärtige, bestehende, "real existierende" Verwirklichungen gesellschaftlicher Möglichkeiten.
In diesem Sinne könnte Wissenschaft - und besonders Naturwissenschaft - als "Herzensbildung" verstanden werden. Denn mit was hat denn "Emotionale Intelligenz" vor allem zu tun, wenn denn nicht mit dem Herzen und mit der Seele?
________
Anmerkung:
*) In Reaktion auf dieses Buch kann Goleman auch so irrsinnige Sätze zu Papier bringen wie den folgenden (irrsinnig zumindest in der deutschen Übersetzung) (S. 54): "Die Ausnahmen von der Regel, daß der IQ den Berufserfolg vorhersagt, sind zahlreicher als die Fälle, die der Regel entsprechen." - Wenn das tatsächlich so wäre, wäre es ja irrsinnig, überhaupt von einer "Regel" zu sprechen. Man merkt also, wie oberflächlich Goleman hier offenbar recherchiert hat und überhaupt argumentiert. Er hätte ja sonst gleich sagen können, daß diese Regel widerlegt ist. Natürlich hütet sich Goleman vor solchen grundlegenden Aussagen. (Übrigens äußert sich auch Jens Asendorpf in seinem Lehrbuch "Psychologie der Persönlichkeit" mit deutlichen Vorbehalten gegenüber diesem Buch, vielleicht sogar mit zu deutlichen. Denn immerhin gibt einem dieses Buch doch viel Stoff zum Weiterdenken - nicht nur aber auch dadurch, daß es zum Widerspruch auffordert.)
**) Oder die Erkenntnisse zur Bedeutung der Gruppenselektion während der Humanevolution (Samuel Bowles und andere)? - Interessanterweise betont Bowles den Krieg zwischen Gruppen als treibende Kraft für die Evolution von menschlichem Altruismus und Empathie. Daß es seit hunderttausenden von Jahren auch viele andere, zum Teil auch wesentlich subtilere Strategien gegeben haben kann, aufgrund deren sich Gruppen ihre Territorien, ihre Evolutionsstabilität, ihren inneren Zusammenhalt erhielten, und damit ihre demographische Stabilität, ist bisher offenbar noch weniger in den Fokus der Forschung getreten, ist aber doch nur allzu naheliegend.
Bekanntlich reichen in der Natur ja oft schon die verschiedensten, evolutiv sparsameren Einschüchterungs-Strategien, um - etwa - gegenüber konkurrierenden Artgenossen und anderen Arten die eigenen Fortpflanzungsstrategien durchzusetzen, bzw. aufrecht zu erhalten, das eigene Territorium zu behaupten. So behaupten viele Vogelarten ihr Revier durch Singen. Warum sollten also derartige Mechanismen nicht auch außerordentlich wichtige Mechanismen in der Humanevolution von Gruppenpsychologie gewesen sein? (Auch an die vielen, nicht tödlich endenden "Kommentkämpfe" im Tierreich könnte gedacht werden, die es ja beim Menschen ebenfalls gibt. Man siehe etwa die traditionellen Dorf-Ringkämpfe der Nuba im Südsudan.)
Es ist vielleicht überhaupt spannend zu verfolgen, daß Wissenschaftler oft nur in "Schwarz" oder "Weiß" denken können: Humanevolution von Gruppen entweder gewalttätig oder friedlich. Daß es die vielfältigsten Zwischenformen gegeben haben kann, die immer noch beobachtbar sind, scheint dabei recht oft noch aus dem Blickfeld zu geraten.
Das heißt allgemeiner: Es muß bei dem hier behandelten Thema natürlich berücksichtigt werden, wie stark unsere Emotionen auch davon mitgeprägt sind, wie sehr wir uns in unserer jeweiligen Gruppe (Gesellschaft) emotional geborgen oder nicht geborgen fühlen - und wie wir auf den jeweiligen Fall mit Psyche und Körper reagieren.
Danke für diesen inhaltsreichen Beitrag. Ich glaube, dem Sinn Wissenschaft zu betreibe etwas näher gekommen zu sein
AntwortenLöschen