Samstag, 6. September 2008

Wie die Menschen seßhaft wurden - ein neues Buch von Professor Reichholf

"Seßhafte Gesellschaften sind genetisch homogener" (!!! - ???)

Von Professor Josef H. Reichholf, München, kommt gerade ein neues Buch auf den Markt unter dem Titel "Warum die Menschen seßhaft wurden - Das größte Rätsel unserer Geschichte". (Amazon) Im Interview sagt Reichholf zu der Hauptthese seines Buches (Morgenpost):

Die traditionelle Meinung ist, dass die Menschen zu Bauern
wurden, weil sie Hunger litten und mit der Stärke und dem
Protein der Pflanzen überleben konnten.

Und dann die schrille These:
Ich behaupte ganz im Gegenteil, dass der Ackerbau aus einer Situation des Überflusses heraus entstanden ist. Die Menschen haben mit Getreideanbau experimentiert und nutzten die Körner allenfalls als Zukost. Die anfängliche und entscheidende Absicht war nicht, aus Korn Brot zu backen, sondern durch Gärung Bier zu erzeugen.
Das stimmt nicht. - So ist die unmittelbare Reaktion des Verfassers dieser Zeilen, der sich mit dieser Thematik schon vor langen Jahren einmal sehr, sehr intensiv und gründlich auseinander gesetzt hat.

Die Völker des "Natufiums" im Vorderen Orient (vor 11.000 v. Ztr.) haben viele Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende lang als sogenannte halbseßhafte "Erntevölker" gelebt, so wie auch verschiedene nordamerikanische Indianervölker gelebt haben, das heißt, sie haben das Wildgetreide zwar gesammelt - aber nicht angebaut. Ich kann mir kaum vorstellen, daß das Buch von Reichholf an diesem schon sehr sicheren und festen Wissensstand etwas ändern kann. Bei den Tuareg ist Wildgetreide eine Hungerpflanze, das sie nur in aller höchster Not "ernten".

Die Verarbeitung von Getreide ist - im Gegensatz zur Nahrung der museintensiven nomadischen Sammler-Gesellschaften - hochgradig arbeitsintensiv. So etwas machen Völker nur in größten Notzeiten. Diese können ja auch durch Bevölkerungswachstum zustande kommen, wie dies die Halbseßhaftigkeit mit sich bringt - und durch das bekannte Überjagen der Wildtierarten. Die Gazellen waren lange Jahrtausende das Hauptnahrungsmittel auf fleischlichem Gebiet auch noch der Getreide anbauenden seßhaften Gesellschaften. Sie wurden gejagt auf ihren jährlichen Wanderungen in großen "Kralen" und massenhaft abgeschlachtet. Als die Gazellen weitgehend ausgestorben waren, ging der Mensch dazu über Schafe und Ziegen zu halten (um 6.500 v. Ztr.), bzw. Rinder.

Aber das Buch wird dennoch hochgradig lesenswert sein, weil es - offenbar - die These ausgehend vom derzeitigen Wissensstand sehr konturenreich und differenziert vertritt und außerdem offensichtlich auch noch viele andere Aspekte mitberücksichtigt. Und dabei können ja dann auch - wie das so oft ist - noch ganz andere Erkenntnisse gewonnen werden. als für die Hauptthese selbst notwendig ist. Hierfür einige Beispiele, die schon dem Interview entnommen werden können:
Morgenpost Online: Hatte die Sesshaftigkeit Einfluss auf die genetische Durchmischung?

Reichholf: Sicher, je sesshafter eine örtliche Bevölkerung ist, desto weniger wird sie durchmischt. Ein Beispiel für Abschottung sind bis heute bäuerlich-religiöse Gemeinschaften wie die Mormonen, Amish und Mennoniten in Amerika, die sich besondere Eigenheiten bewahrt haben, wie etwa die Mennoniten des Gran Chaco, die ein altes Plattdeutsch aus dem 18. und 19. Jahrhundert sprechen. Unterschiede in den Stämmen tendieren dazu, sich zu verfestigen. Es gibt den Fachbegriff des „assortative mating“. Er bedeutet, dass Angehörige derselben Sprache, Kultur und Physiognomie als Partner bevorzugt werden. Fremdvölker vermischten sich oft kaum mit der ansässigen Bevölkerung.

Morgenpost Online: Nomaden sind homogener?

Reichholf: Ja, die australischen Aborigines lassen sich auf dem ganzen Kontinent genetisch nicht in „Völker“ unterteilen. Die einzige Ausnahme sind die Tasmanier, die auf ihrer Insel geografisch von den Aborigines Australiens getrennt waren. Ihre nächsten Verwandten, die Papua von Neuguinea, betreiben dagegen Gartenbaukulturen in voneinander isolierten Tälern. Da fehlte die Migration so sehr, dass extrem viele Sprachen, über 700, und sehr unterschiedliche Kulturen entstanden.
Hochinteressante Ausführungen! Darf das wirklich so verallgemeinert werden? Das würde ja auch heißen, daß die Mechanismen der Gruppenselektion mit der Seßhaftigkeit sich eher verstärkten als abschwächten. Außerdem sinkt der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad um so stärker, um so größer die Gruppen werden. Das heißt, es gibt auch eine Tendenz zu größerer genetischer Inhomogenität. Das muß nicht für isolierte Gebiete wie Papua-Neuguinea gelten - aber für die seßhaften Völker des Fruchtbaren Halbmonds, die von allen Seiten von nomadisch lebenden Völkern umgeben waren, durchaus.

Den Herrn Reichholf muß man also sehr, sehr kritisch lesen. Hier auch, was auch schon Thema hier auf dem Blog war (bzw. in den Kommentaren) bezüglich der seßhaft werdenden Tuareg (falls Basty hier noch mitliest - damals war mir das Erläutern zu viel geworden):
Morgenpost Online: Hat die Sesshaftigkeit die Geschlechterrollen verändert?

Reichholf: Wo der Feldbau überwiegt, sind die Strukturen patriarchalisch. Da gibt es den Hofbesitzer und seine Frau, und es gibt das Gesinde. Diese Struktur wirkt wie ein Ministaat. In Gesellschaften, in denen die Viehhaltung dominiert, geht es weniger patriarchalisch zu. Die Frauen kümmern sich um die Herden und haben viel Einfluss. Ganz anders bei reinen Nomaden. In Wüstenvölkern mit Kamelen, die über den Handel existieren, dominieren die Männer. Sie haben mehr oder weniger in jeder Oase eine Frau mit geringem Status: Ihr Preis wird nach der Zahl von Ziegen oder Kamelen taxiert. Durch den Übergang zur Sesshaftigkeit sind Frauen in bestimmten Funktionen einflussreicher geworden. Es waren nach den Schamanen der Nomaden die „Weisen Frauen“, die das Wissen um die Mittel hatten, die bei den Festen eingesetzt wurden. Sie waren Priesterinnen und galten als Zauberinnen.
Auch hier ist mir in vielem zu viel "über einen Kamm geschert". Auch was er über die Rolle der Religion in seßhaften Völkern sagt. Das ist dann in den Einzelheiten doch wieder noch genauer zu differenzieren. Aber das sind alles hoch interessante Themen, so daß einen das Buch wieder über vieles neu und intensiv wird nachdenken lassen.

(Erhältlich natürlich auch in unserem Buchladen - für nur schlappe 20 Peseten.)

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